Archiv


"Irrtümlich verschwunden"

Er war gelernter Brauingenieur, lange Zeit Schichtleiter einer ostdeutschen Brauerei, verfasste mehrere Bücher zum Thema mit so schönen Titel wie: "2000 Biere. Der endgültige Atlas für die ganze Bierwelt" oder "Der Pilsener Urknall. Expeditionen ins Bierreich": Die Rede ist von dem Satiriker Michael Rudolf, der gestern in seiner thüringischen Heimat tot aufgefunden wurde. Der Sechsundvierzigjährige hat offenbar Selbstmord begangen.

Von Alexander Mayer |
    Die Geschichte seines Todes könnte aus einem seiner Bücher stammen: voller bizarrer Pointen. Und eigentlich stammt sie ja auch aus dem Roman "Morgenbillich". In diesem "abend-teuer-lichen" Roman erzählte Michael Rudolf vor vier Jahren die laut Untertitel "Wahrheit über Holger Sudau". Am Ende des Romans heißt es, der Held sei eines Tages "irrtümlich verschwunden".

    Wenn man wusste, dass der Satiriker Rudolf selbst Buch- und Zeitungstexte gelegentlich unter dem Pseudonym Sudau veröffentlichte, hätte man dies schon als Fingerzeig auf sein eigenes Verschwinden verstehen können. Anfang Februar verließ der seit langem gesundheitlich angeschlagene Michael Rudolf sein Haus im thüringischen Greiz: Für die Jahreszeit viel zu leicht bekleidet, ohne Geld und Ausweis. Kurz danach wurde er zum letzten Mal lebend gesehen. Dass nun ausgerechnet eine Pilzsammlerin seine Leiche im Unterholz der weitläufigen Wälder um Greiz gefunden hat, ist eine weitere makabre Pointe: Michael Rudolf selbst war passionierter Pilzsammler und Verfasser des bei Reclam Leipzig erschienen "wunderbaren" Pilzführers "Hexenei und Krötenstuhl".

    Richtig berüchtigt aber war der gelernte Bierbauer als deutscher "Biergegenpapst". Dazu hatte ihn die BILD-Zeitung ernannt. Rudolfs teils vernichtenden Bier-Kritiken trugen ihm gleichermaßen Ärger ein mit Großbrauerein und Anerkennung in Großfeuilletons. Dass dieser Schriftsteller genauso intelligent und eloquent über Pilse und Pilze schreiben konnte, wäre allerdings ein dummdeutscher Kalauer, den Michael Rudolf keinem Journalisten durchgehen lassen würde.

    An der modischen Verhunzung der Sprache hat er geradezu körperlich gelitten: "Atmo. Bingo. Credo. Das ABC der Kultdeutschen" heißt sein letztes und, wie wir jetzt wissen, im März schon posthum erschienenes Buch. Es beweist, Zitat: "Was wir seit einiger Zeit als Trend- und Stummelvokabeln um die Ohren gehauen bekommen, erfüllt den Tatbestand der schweren Körperverletzung." Noch mehr gelitten hat Rudolf an seinen allzu alltäglichen Lebensumständen. 1961 musste er sich, wie im Roman "Morgenbillich" steht, "gebären lassen im Vogtland, das, wie seine Einwohner glauben, zwischen Erzgebirge und Thüringer Wald liegt." Ein Fall von abgründigem Humor. Und der Beweis: Gute Romane entstehen zu 50 Prozent aus dem Leben und Leiden in der tiefen, hier eben ostdeutschen Provinz. Die war für ihn vergifteter Boden, auf dem heimische Spießbürger auch schon mal Unrat vor seine Tür geschüttet haben. So geht's, wenn einer als Humor-Arbeiter im Beitrittsgebiet wirklich ernst genommen wird, und zwar gesamtdeutsch.

    Er war der einzige, der gleichzeitig für's West-Satiremagazin TITANIC schrieb und für's Ost-Witzblatt EULENSPIEGEL. Die Distanz zu allen Seiten ist, wie sich das für echten Anarchisten gehört, immer seine Lebenshaltung gewesen. Er hätte ihn sofort unterschrieben, den berühmten Satz von Groucho Marx: "Einer Partei, die bereit wäre, einen wie mich aufzunehmen, würde ich nie beitreten." Der abgebrochene Jurastudent, der sich in den 80er Jahren von Westverlagen Bücher schicken ließ nach Greiz, um autodidaktisch zu dem zu werden, der er war, war ebenso angewidert von der politischen Nomenklatura der DDR wie von ihrer selbstgerechten Opposition.

    Als Abrechnung mit dieser schrieben Wiglaf Droste und Gerhard Henschel einst ihren gefürchteten Wenderoman "Der Barbier von Bebra". Der mordete und rasierte Bartträger wie Wolfgang Thierse und Markus Meckel. Und natürlich war der Barbier Michael Rudolf, der damit zu Lebzeiten schon ein literarisches Denkmal hatte. Die angemessene Anerkennung in der größeren Öffentlichkeit, die er sich sicher gewünscht hat, ist ihm versagt geblieben. Andererseits hat er von der Öffentlichkeit, so wie sie heute ist, auch nicht allzu viel gehalten.

    Michael Rudolf war, wie jeder Intellektuelle, ein Zerrissener. Allerdings so tief, dass am Ende, wie er einem Freund schrieb, nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf steht. Also ist er eines Tages wie sein Held Holger Sudau einfach verschwunden. Der allerdings hatte im Roman nach Jahren an den Herausgeber Michael Rudolf von irgendwoher eine Postkarte geschrieben: "Hallo Michael, alte Granate, wie geht es dir? Mir geht es gut." Michael Rudolf selbst muss uns diese Postkarte jetzt schuldig bleiben.