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Irshad Manji: Der Aufbruch. Plädoyer für einen aufgeklärten Islam.

Nehmt den Koran nicht wörtlich, brecht mit den Tabus, wehrt Euch gegen das Kopftuch! Die Welt braucht Muslime, die Fragen stellen! Forderungen, Aufrufe, Appelle der jungen kanadischen Muslimin Irshad Manji. Sie hat ein provozierendes Reformprogramm für einen aufgeklärten Islam geschrieben. Es ist der Versuch, die Werte des Islam mit denen der westlichen Welt zu verbinden: Menschenrechte, Demokratie und Gewaltverzicht - nur wenn der Islam all das integriere, könne er sich zu einer friedlichen, modernen Religion entwickeln. Diese und andere Thesen trägt sie mit Chuzpe und Humor vor. Susanne El Khafif über eine erfrischend streitlustige Autorin und ihr Buch:

Rezensiert von Susanne El Khafif |
    Es mag lächerlich erscheinen, dass jemand, der kein Theologe, Politiker oder Diplomat ist, die Chuzpe hat, sich dazu zu äußern, wie der Islam reformiert werden kann. Gelegentlich bin ich mir anmaßend vorgekommen, überhaupt daran zu denken – aber nur gelegentlich. Ich kümmere mich nicht darum, "zu wissen, was sich gehört".

    So Irshad Manji über ihr Zögern und Zweifeln, dieses Buch zu schreiben. Doch die Irritation ist von kurzer Dauer, mit Leichtigkeit fegt die Verfasserin nicht nur die eigenen Vorbehalte, sondern auch die anderer vom Tisch und fängt an zu schreiben. Ohne dabei auf Konventionen Rücksicht zu nehmen, ohne dabei auf Tabus einzugehen. Irshad Manji ist deutlich, überaus deutlich. In dem, wie sie sich ausdrückt, und in dem, was sie zu sagen hat.

    Die Schwierigkeiten mit dem Islam liegen, so wie ich es sehe, darin, dass das Leben des Einzelnen klein ist und die Lügen groß sind.

    Irshad Manji – aus pakistanisch-muslimischer Familie - wurde 1969 in Uganda geboren. Als sie vier Jahre alt war, musste die Familie vor Diktator Idi Amin fliehen, die neue Heimat wurde Kanada. Dort ist Irshad Manji heute Fernseh-Journalistin und eine bekannte Persönlichkeit. Vor kurzem hat sich die bekennende Muslimin als Lesbe geoutet. Für sie ist beides miteinander vereinbar. Irshad Manji will einen aufgeklärten Islam.

    Die Veränderung muss von irgendwo herkommen. Warum nicht von einer jungen Muslimin, die weder emotional noch sonst etwas dabei gewinnen kann, den Status quo zu verteidigen?

    Zum Inhalt des Buches: Es hat anfangs stark autobiographische Züge, beginnt mit der Geschichte des kleinen Mädchens, das in British Columbia erst die Kirche besuchte und Bibelunterricht nahm, um dann später in die Moschee und dazugehörige Madrassa zu wechseln. Von der Bibel zum Koran, für die junge Irshad Manji war das ein Schock.

    Ich betrat das Gebäude mit einem weißen Polyestertschador und kam mehrere Stunden später mit angeklatschtem Haar und leerem Hirn wieder heraus, als hätte das Kondom über meinem Kopf mich wirksam vor "gefährlichen" intellektuellen Aktivitäten geschützt.

    Mr. Khaki, der Islamlehrer, ist ignorant und autoritär. Und so ist auch sein Unterricht. Fragen dürfen nicht gestellt werden, schon gar nicht von einem jungen Mädchen, das nach Wissen dürstet. Doch das lässt sich nicht einschüchtern, begibt sich selbst auf die Suche nach Antworten. Fest davon überzeugt, "dem Islam eine faire Chance geben zu müssen". Sie studiert den Koran, immer wieder, muss feststellen, wie widersprüchlich viele Textpassagen sind ...

    Und wenn der Koran nun nicht perfekt ist? Wenn er kein komplett von Gott verfasstes Buch ist? Wenn er von menschlichen Voreingenommenheiten durchsetzt ist?

    Irshad Manji stellt den Koran, so wie er von Muslimen heute wahrgenommen wird, in Frage, rührt damit am Allerheiligsten. Was sie tut, ist "verboten", sie tut es trotzdem.

    Allein schon die Infragestellung des Koran ist ein zentrales Stück des Reformpuzzles, weil sie ein Ausscheren aus der Herde der Nachahmer signalisiert. Es bedeutet, wir akzeptieren nicht mehr, dass die Antworten eine Gegebenheit sind oder dass sie uns gegeben werden.
    Für Irshad Manji sind Muslime heute nichts anderes als Herdentiere, die folgsam hinterher trotten – ihres Intellekts und ihrer Fähigkeit zu eigenständigem Denken beraubt. Und dabei, so die Verfasserin, stelle die Geschichte unter Beweis, dass es Hochphasen islamischer Intellektualität gegeben hat. Wie in
    al-Andalus, auf der iberischen Halbinsel. Irshad Manji entdeckt das Prinzip des "Igtihad" – jene islamische Tradition, die es erlaubt, den Koran selbständig auszulegen. Und damit Raum schafft für freies Denken und Handeln. Doch die Tore des "Igtihad" wurden geschlossen, zurück blieb, so die Verfasserin, einzig der Wahabismus, der Wüstenislam: dogmatisch, ausschließlich, autoritär. Ein Islam, der die Rechte von Frauen und Minderheiten missachtet. Fern jeden Gedankens an Freiheit und Individualität. Es ist der Islam der Bin Ladens und derjenigen, die ihnen blind folgen. Wo auch immer auf der Welt.

    Durch unser abgrundtiefes Selbstmitleid und unser auffallendes Schweigen verschwören wir Muslime uns gegen uns selbst. Wir befinden uns in einer Krise und ziehen den Rest der Welt mit hinein. Wenn es je einen Augenblick für eine islamische Reformation gegeben hat, dann jetzt. Um Gottes willen, warum tun wir nichts?


    Ignoranz, Selbstmitleid, Passivität ... Irshad Manji ruft die Muslime auf, nicht immer anderen die Schuld für die eigene Misere in die Schuhe zu schieben, endlich in Aktion zu treten, denn, so die Verfasserin, "das Krebsgeschwür beginnt bei uns selbst". Irshad Manji teilt aus, in alle Richtungen, die Muslime kommen weltweit schlecht weg, ob sie sich nun, wie sie sagt, hinter der ungelösten Palästina-Frage verschanzen oder aber in Schweigen hüllen, wenn es um die Wahrung der Menschenrechte geht. Ebenso beißend ist ihre Kritik an Nichtmuslimen, die es unterlassen, Muslime zu hinterfragen und offen zu kritisieren. Aus Gründen politischer Korrektheit ... Öl ins Feuer all derer, die auf der Klaviatur rechtsaußen spielen? Oder aber berechtigte Kritik an den ewig "Korrekten"?!

    Während wir im Westen uns vor dem Multikulturalismus auf die Knie werfen, tun wir oft so, als sei alles möglich. Das ultimative Paradox könnte sein, dass wir, um unsere Vielfalt zu verteidigen, weniger tolerant werden müssen. Zumindest müssen wir wachsamer werden.

    Irshad Manji wagt den Generalangriff. Und sie wagt den Rundumschlag. Hemmungslos und kompromisslos, ohne dabei Wissenslücken wirklich einzugestehen, ohne sich aufgrund von Quellenhinweisen angreifbar zu machen. Sie geht an gegen den Islam damals und heute, gegen den Islam in Theorie und Praxis. Und das auf gerade einmal 215 Seiten. Ein Parforce-Ritt, der immer wieder straucheln und taumeln lässt. Ob der Fehler, die sich einschleichen, ob der Halbwahrheiten, ob der Vereinfachungen...

    Die Kanadierin pakistanischer Herkunft - groß geworden mit Negativklischees von Israel und Amerika – verfällt in der Aufarbeitung eigener Bilder ins Gegenteil. Das Judentum wird zum Inbegriff der Toleranz, Israel bemüht sich – im Gegensatz zu den Palästinensern - um Frieden, und die USA werden zum Hort von Freiheit und Pluralismus. Kritik an amerikanischer Außenpolitik, ob gegenüber Afghanistan, dem Nahen Osten oder aber dem Irak, klingt – wenn überhaupt – sehr dezent an. Als hätte die einzig verbleibende Supermacht letztlich nichts mit der Misere in der Dritten Welt zu tun – zu der indes auch die islamischen Länder zählen. Irshad Manji verärgert, ob der Einseitigkeit vieler ihrer Meinungen; sie nervt, ob der häufigen Selbstgefälligkeit ihres Auftretens – doch sie überrascht auch, ob der Brillanz vieler ihrer Ideen und Gedanken.

    "Der Aufbruch – Plädoyer für einen aufgeklärten Islam" ... Irshad Manjis Buch, formuliert als offener Brief an "die lieben muslimischen Schwestern und Brüder", hinterlässt gemischte Gefühle – und ist gerade deswegen lesenswert. Das Buch regt an, es stellt Fragen, viele richtige Fragen. Damit ist es in seiner Kritikfreude nicht einzig, gerade in diesen Tagen nicht – ein Eindruck, den die Verfasserin trotzdem gerne erwecken würde - doch das ist ein kleiner Schönheitsfehler, mehr nicht.

    Das Buch ist lesenswert, für Muslime und Nicht-Muslime. Und es ist richtig, es auf den Markt zu bringen. Denn es ist wichtig. Um darüber nachzudenken. Und die eigenen Schlüsse zu ziehen. Ende offen ...

    Also gebe ich dem Islam noch eine letzte faire Chance. Ob ich ihn hinter mir lasse, ist meine Sache. Andererseits ist es auch unsere Sache. Was ich erkennen muss, ist ein Hunger nach Reform.

    Das war Susanne El Khafif über das Buch der jungen Muslimin Irshad Manji: Der Aufbruch. Plädoyer für einen aufgeklärten Islam. Es ist im Eichborn Verlag erschienen. 223 Seiten kosten 17,90 Euro.