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Isabel Heinemann: Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas

Die SS soll der Sippenbund des rassisch wertvollsten Teils unseres Volkes werden, bei der selbstverständlichen Voraussetzung der soldatischen Grundhaltung und klarer weltanschaulicher Ausrichtung. Im Sinne dieses Sippenbundes liegen klar umrissene züchterische Aufgaben, die diesen besten Blutsteil unsere Volkes für die Zukunft unbedingt sichern und mehren sollen. Das Rasse und Siedlungshauptamt der SS ist allein zu dem Zwecke geschaffen, diesem Ziele zu dienen.

Michael Wildt | 07.07.2003
    Mit dieser sprachlichen Missgeburt beschrieb ein führender Mitarbeiter des Rasse und Siedlungshauptamtes der SS Selbstverständnis und Aufgabe dieser Behörde. Die Standardliteratur zum Nationalsozialismus geht in aller Regel davon aus, dass Himmlers Züchtungspolizei zwar wichtig gewesen sei für die ideologische Formierung der SS und für die Etablierung ihres Elitebewusstsein, dass dieses skurrile Amt aber bereits vor dem Krieg zunehmend an Einfluss und Bedeutung verloren habe. Die Freiburger Historikerin Isabel Heinemann bestreitet diese These und zeigt, in welchem Ausmaß das Rasse- und Siedlungshauptamt an Selektionen, Deportationen und Vertreibungen in den besetzten Gebieten beteiligt war. "Rasse, Siedlung, deutsches Blut - Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas" ist ihre im Göttinger Wallstein Verlag erschienene Untersuchung überschrieben.

    Die rassistischen Züchtungsphantasien der Nazis sind oft belächelt worden. Oder wurden der ideologischen Verschrobenheit einzelner Exponenten wie Heinrich Himmler zugeschrieben. Schon während der NS-Zeit bildete die körperliche Erscheinungsform so mancher Nazigröße, die überhaupt nicht zum propagierten hochgewachsenen, blonden, blauäugigen Herrenmenschentyp passen wollte, Gelegenheit für zahlreiche Witze.

    Doch - es war ernst. Der politische Wille, ganz Europa rassisch neu zu ordnen, führte nicht nur zur Vertreibung und Ermordung von Millionen jüdischer Menschen. Auch die übrige Bevölkerung in den besetzten Gebieten wurde zu Hunderttausenden "rassisch gesiebt", wie es die Nationalsozialisten nannten. Die monströsen Ausmaße dieses NS-Verbrechens erhalten mit der Studie von Isabel Heinemann über das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS deutlichere Konturen.

    "Blut, Härte, Auslese" - diese Begriffe, so Himmler 1943, hätten die Entwicklung der SS bestimmt. Sie sollte die organisatorische wie rassische Keimzelle eines künftigen Großgermanischen Reiches sein. Zwei Jahre, nachdem er die Führung der SS übernommen hatte, erließ Himmler 1931 den Verlobungs- und Heiratsbefehl. Damit wurden sämtliche SS-Angehörige verpflichtet, vor der Eheschließung für sich wie für die zukünftige Ehefrau einen Abstammungsnachweis zu erbringen und sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, die das Paar auf seine rassische wie erbbiologische Wertigkeit prüfen sollte.

    Mit dem Heiratsbefehl rief Himmler zugleich das SS-Rassenamt ins Leben, das die Anträge begutachten und beurteilen sollte. Geführt wurde es von Richard Walther Darrée, ein politischer Ziehvater Himmlers, der innerhalb der NS-Bewegung die so genannte "Blut- und Boden"-Ideologie entwickelt hatte und nach 1933 mit dem Posten des Landwirtschaftsministers und Reichsbauernführers bedacht wurde. Daher fiel dem SS-Rasseamt bald eine zusätzliche Aufgabe zu: die Siedlungspolitik, was zunächst allerdings nicht viel mehr bedeutete, als sich um die Vergabe von Bauernhöfen an SS-Angehörige zu kümmern.

    Im Laufe der dreißiger Jahre entfremdete sich Himmler von seinem einstigen Mentor, und die Ablösung Darrées 1938 - wobei er allerdings seine staatlichen Posten behielt - ist in der Forschung oft mit dem gleichzeitigen Niederganges des Amtes selbst interpretiert worden.

    Isabel Heinemann zeigt dagegen überzeugend, dass das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt mitnichten in der Bedeutungslosigkeit verschwand, sondern ihm im Krieg in den besetzten Gebieten eine neue Relevanz zufiel. Die jahrelange Erfahrung mit der eigenen Organisation prädestinierte in der Sicht Himmlers die SS-"Rasseprüfer" für die neue Aufgabe, nun überall in Europa eine rassistische Selektion der einheimischen Bevölkerung vorzunehmen.

    Schon bei der Besetzung des Sudetenlandes im Herbst 1938 und, wenig später, des übrigen tschechischen Gebietes waren neben den SS-Einsatzkommandos aus Gestapo und Sicherheitsdienst auch Gruppen des Rasse- und Siedlungshauptamtes tätig. In einem raschen Coup besetzten die SS-Einheiten das zentrale Bodenamt in Prag, um den Raub tschechischen Grundeigentums zugunsten deutscher Unternehmen und künftiger SS-Bauern vorzubereiten. Gleichfalls folgten beim Angriff auf Polen im September 1939 Angehörige des Rassenamtes den Einsatzgruppen aus SS und Polizei, die Juden ebenso wie polnische Pfarrer, Lehrer, Ärzte, Professoren ermordeten.

    Einen Monat später beauftragte Hitler die SS mit der "Germanisierung" des annektierten Westpolens. Als "Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums" übernahm Himmler die Führung bei der verbrecherischen Politik, die gesamte jüdische Bevölkerung zu deportieren, ebenfalls große Teile der Polen von ihren Bauernhöfen zu jagen und als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu verschleppen. Für die vertriebenen Menschen sollten Volksdeutsche aus dem nun sowjetisch besetzten Baltikum und andern Teilen der Sowjetunion angesiedelt werden.

    Himmler verstand seine Aufgabe keineswegs als bloße organisatorische Bewältigung dieser Zwangsumsiedlungs- und Vertreibungspläne. Ihm ging es vor allem um ethnische Säuberung, um eine rassische Neuordnung der gesamten Region. Der "Osten" sollte, so Himmler wörtlich, zu einer "blonden Provinz" werden.

    Deshalb wurden im annektierten Westpolen eine so genannte "Deutsche Volksliste" aufgestellt, unterteilt in vier Kategorien, in die alle aufgenommen wurden, die ihr Deutschtum nachweisen konnten. Um in die Klassen 1 und 2 zu gelangen, musste man aktiv politisch gegen die Polen und für Deutschland eingetreten sein bzw. eine rein deutsche Familie besitzen, was nur auf eine kleine Gruppe der Bewerber zutraf. Die große Masse fand sich in den Kategorien 3 und 4 wieder, da sie längst mit Polen familiäre Beziehungen eingegangen waren oder sich in Sprache und Kultur assimiliert hatten. Brisant war diese Einteilung, weil von ihr der Besitz des eigenen Grund und Bodens abhing. Die Naziplaner wollten nämlich die Familien der Kategorien 3 und 4 ins Deutsche Reich bringen, damit sie dort buchstäblich "eingedeutscht" würden. Ihre Höfe indessen sollten an die volksdeutschen Neuansiedler aus Estland, Lettland, Litauen, Wolhynien gehen.

    Die "Rasseexperten" der SS hatten nun die Klassifizierten der Kategorie 3 und 4 zu überprüfen und entschieden damit faktisch über Enteignung und Vertreibung. Aber auch die volksdeutschen Neuankömmlinge wurden rassisch überprüft und selektiert. Nur die im SS-Sinn "rassisch Wertvollen" sollten angesiedelt, die übrigen nach Deutschland gebracht und als Arbeiter eingesetzt werden. Dutzende von SS-"Rasseprüfern", beseelt von dem Auftrag, einen "rassereinen" deutschen Osten entstehen zu lassen, prüften, erfassten, fotografierten und kategorisierten in den nächsten Monaten Zehntausende von Menschen und bestimmten deren weiteres Schicksal.

    Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion wucherten die rassistischen Neuordnungspläne ins Monströs-Massenmörderische. 31 Millionen Menschen sollten nach dem berüchtigten "Generalplan Ost" zwangsumgesiedelt, deportiert oder als Arbeitssklaven eingesetzt werden. Von den Millionen dort ansässigen Juden war in diesen Plänen schon gar nicht mehr die Rede, da ihre Ermordung bereits vorausgesetzt wurde. Die Forderung nach "Lebensraum im Osten" für das angeblich beengte Deutschland bedeutete immer zugleich auch die Vertreibung und Vernichtung der dort einheimischen Bevölkerung.

    Allerdings blieb der sicher geglaubte militärische Sieg gegen die Rote Armee aus und die deutschen Besatzer hatten sich gegen einen immer stärker werdenden Gegner zu wehren. An groß angelegte Siedlungsprojekte war nicht mehr zu denken, was aber keineswegs hieß, dass Himmler seine "Germanisierungs"pläne aufgab. Den ganzen Krieg hindurch bemühte er sich stets darum, in der Ukraine oder Zentralpolen deutsche Siedlungen zu gründen, die mehr Wehrdörfern glichen als friedlichen Ortschaften. Zuvor wurde die einheimische Bevölkerung brutal enteignet und vertrieben, die volksdeutschen Siedlungsanwärter wiederum von den SS-Rasseexperten erfasst, geprüft und klassifiziert. Auf der Suche nach sogenanntem "guten Blut" musterten sie Soldatenkinder ebenso wie Kinder von ermordeten Einheimischen und verschleppten sie, falls sie zu einem positiven Urteil kamen, nach Deutschland, wo diese geraubten Kinder in Heimen oder deutschen Familien aufwuchsen, ohne je etwas von ihren wirklichen Eltern mehr zu erfahren.

    Isabel Heinemann schildert, wie emsig die SS-Rasseprüfer auch in den letzten Jahren des NS-Regimes am Werk waren. Wenn man aber genau liest, mindern sich die Zahlen und die Bedeutung sichtlich. Der Versuchung, den eigenen Untersuchungsgegenstand zu überschätzen, kann die Autorin nicht immer widerstehen. Ohne Zweifel hielten die überwiegend akademisch gebildeten SS-Rasseexperten mit weltanschaulichem Eifer an ihrer Aufgabe fest, aber der Zwangsarbeitseinsatz und die Rekrutierung neuer Soldaten für das Fortführung des Krieges waren für das Regime weit wichtiger geworden als Fragen der Rassenreinheit.

    Doch schmälert diese Einschränkung nicht die Leistung des Buches, eine bislang weitgehend unbeleuchtete Seite des Naziterrors erhellt zu haben. Nach Isabel Heinemanns Schätzungen wurden rund eine Million Volksdeutsche aus dem Baltikum und der Sowjetunion rassisch gemustert, in den westpolnischen Gebieten mindestens eine halbe Million Polen selektiert, nur ein Bruchteil als sogenannt "wiedereindeutschungsfähig" ins Deutsche Reich gebracht, die übrigen deportiert oder zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die Zahl der geraubten Kinder setzt Heinemann vorsichtig bei 50.000 an, so dass sie insgesamt eine Mindestzahl von 1,3 bis 1,5 Millionen Menschen angibt, die von den "Rasseexperten" des SS-Rasse- und Siedlungshauptamt überprüft worden sind.

    In den Nachkriegsprozessen gelang es diesen Tätern, ihre Verbrechen zu kaschieren und als harmlose Kategorisierung hinzustellen. Der Chefplaner jenes massenmörderischen Generalplans Ost wurde sogar freigesprochen, weil das Gericht in ihm lediglich ein Konzept für, wie es wörtlich hieß, "einen ordnungsgemäßen Wiederaufbau des Ostens" zu erblicken vermochte.

    Nun endlich, fast sechzig Jahre nach dem Kriegsende und mitten in einer neuen Debatte um die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße, bringt Isabel Heinemanns Buch jene immensen ethnischen Säuberungen ans Licht, die von den Deutschen überall in Europa begangen wurden.

    Isabel Heinemanns Studie: "Rasse, Siedlung, deutsches Blut". Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, ist im Göttinger Wallstein-Verlag erschienen, umfasst 698 Seiten und kostet 50 Euro.