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Isländische Sagas sind "die Anfänge des modernen Romans in Europa"

Mord, Ehre, Rache und Liebe. Für Thomas Böhm, Koordinator des Schwerpunkts Island auf der Frankfurter Buchmesse, sind isländische Sagas "hoch spannend, hoch poetisch" und "unglaublich modern". Es sei, als habe Regisseur Quentin Tarantino im 13. Jahrhundert gelebt und geschrieben.

Thomas Böhm im Gespräch mit Karin Fischer | 12.10.2011
    Karin Fischer: Zuerst aber nach Island, dieser riesigen Insel voller Natur, Geysire und Felsen, mit wenig Leuten, aber einer 800-jährigen Literaturtradition und mit unfassbar vielen, jetzt eigens ins Deutsche übersetzten Büchern und Sagas. Das muss irgendwie erklärt werden. Halldór Gutmundson, der isländische Verleger, tut das so:

    "O-Ton Halldór Gutmundson: "Ja es ist eigentlich unglaublich, was für eine Stellung die Literatur noch immer auf Island hat. Ich glaube, die Isländer kaufen im Schnitt acht Bücher pro Mann pro Jahr. Das ist ungefähr das doppelte von den anderen westlichen Ländern. Und dann muss man auch sagen, wir verlegen pro 1.000 Einwohner fünf Titel im Jahr. Das ist das doppelte zum Beispiel von Dänemark und Norwegen, die auch Büchernationen sind. Die Literatur hat halt immer noch eine sehr starke Stellung in Island. Wir sind immer an der Grenze zur Natur und zur Wildernis, und das ist, glaube ich, auch ein fruchtbarer Boden für Literatur und Geschichten erzählen.""

    Fischer: Thomas Böhm, wir haben jetzt schon viele Erklärungen für das Phänomen Island gehört. Was ist die Ihre?

    Thomas Böhm: Der Reiz an Island ist wahrscheinlich, dass es eine Mischung von Nähe und Ferne, von nah exotisch ist. Man kann auch sagen, Island ist ja nur an den Rändern bewohnt und in der Mitte ist die größte Wildernis Europas. Und genau an dieser Grenze spielen viele der Texte, und das ist für uns einfach faszinierend.

    Fischer: Der isländische Pavillon zeigt das Leseland Island, unter anderem mit Videofilmen, die Isländer lesend vor ihren privaten Bibliotheken zeigen. Acht oder neun Bücher im Schnitt kaufen die Isländer pro Jahr. Über 30 Verlage können sich halten bei einer Bevölkerungszahl von etwas über 300.000 Einwohnern. Ist das einfach nur erstaunlich, oder fühlt man das auch, wenn man in Island ist?

    Böhm: Das fühlt man, und es gibt ein Beispiel, das ich gerne nenne, um zu zeigen, wie wichtig die Bücher da sind. Wenn im Winter alle Geschäfte um 18 Uhr geschlossen haben, dann sind die Buchläden bis 22 Uhr auf. Das ist übrigens was, was man unbedingt hier in Deutschland auch einführen sollte. Die Buchläden sind auf und werden in den Städten die Treffpunkte und alle Menschen sitzen da zusammen und lesen und unterhalten sich, und dann wird das absolut, dann ist das wirklich, das Lesen wird zum Treffpunkt der Menschen.

    Fischer: Wie würden Sie, Thomas Böhm, die isländische Gegenwartsliteratur charakterisieren? Kann man das?

    Böhm: Weil Michael Krüger hier ist, der einen wunderbaren Roman von Einar Már Gudmundsson verlegt hat, einen Roman, der realistisches Erzählen und tatsächliche Geschehnisse, Fakten und Fiktion so vermischt, wie ich das noch nie vorher gelesen habe, würde ich sagen, wenn ich die isländische Literatur auf einen Nenner bringen würde, würde ich sagen, sie lesen immer gute Bücher, aber sie wissen nicht, was als Nächstes passiert.

    Fischer: Da sind wir schon bei der Krise, die das Land ja regelrecht kollabieren ließ. Schlägt sich die in der zeitgenössischen Literatur denn auch schon nieder?

    Böhm: Sie wissen ja, ich meine, Literatur kann ja nicht, die hat ja eine andere Reaktionszeit. Es gibt keine Romane über die Krise, die detailliert beschreiben, was da in den Banken passiert ist. Aber die Mentalität, die dazu geführt hat, die ist natürlich Jahre vorher wahrgenommen worden, auch von Einar Már Gudmundsson zum Beispiel Jahre vorher, und ist auch dargestellt worden in den Romanen. Und es gibt ja diesen Bericht über den Zusammenbruch der Banken, der ist 2.000 Seiten stark. Der war letztes Jahr der Bestseller. Und das wird sicherlich eine Quelle für zukünftige Romane sein, das hat Einar Kárason schon vorausgesagt.

    Fischer: Jetzt müssen Sie noch den Titel des Buches nachliefern.

    Böhm: "Vorübergehend nicht erreichbar".

    Fischer: Okay. – Die Sagas sind berühmt. Auch viele der älteren und jüngeren Schriftsteller Islands beziehen sich, zumindest was die Erzähltradition und die Heldengeschichten betrifft, darauf. Aufgeschrieben wurden sie im 13., 14. Jahrhundert auf Kalbshäuten, und zwei Dinge sind es, die man heute hervorhebt. Erstens: Sie können von jedem Isländer noch im Original gelesen werden. Und zweitens: Die Schauplätze sind da, wo sie immer sind. Kneipen heißen nach Figuren aus den Büchern, einzelne Felsen können benannt werden, die Namen der Helden sind tief im kulturellen Gedächtnis verankert. Jetzt sind sie also neu übersetzt und in einer fünfbändigen Ausgabe erschienen. Kann man, soll man, will man das lesen?

    Böhm: Absolut! Sie lesen die Sagas, die haben einen unglaublichen Humor. Da passieren Sachen, da denken sie (Kristof Magnusson hat das schon so schön gesagt), als hätte Quentin Tarantino im 13. Jahrhundert gelebt und geschrieben. Das ist ein Erzähllabor sonder gleichen. Wie die erzählen, da stellen sich ihnen die Nackenhaare aufrecht. Die sind hoch spannend, hoch poetisch, unglaublich modern, das sind die Anfänge des modernen Romans in Europa.

    Fischer: Und wie bei Tarantino geht es um Mord und Totschlag, Ehre, Rache, Liebe, Sünde.

    Böhm: Mord und Totschlag. Ich gebe ein Beispiel: Zwei Männer reiten einen Weg entlang, da steht jemand anders, der eine erschlägt den. Dann sagt der andere, warum hast du das denn jetzt gemacht? – Der stand gerade so gut. – Das ist dieser Quentin-Tarantino-Humor, den ich meine. Aber es ist wirklich auch hoch poetisch. Der erste große Held Islands, Egill Skallagrímsson, ein Wikinger wie er im Buche stand, war gleichzeitig der erste große Dichter Islands und die Anfänge der isländischen Literatur sind mit seinem Namen verbunden, drei hoch sensible Gedichte. Eines ist eine Ode an die Freundschaft, wie sie die in der mittelalterlichen Literatur nirgends anders finden.

    Fischer: Was haben Sie von den Isländern gelernt, entweder in Bezug auf die Bewältigung der Krise, oder in Bezug auf die literarische Erzähllust?

    Böhm: Die isländische Kreativität lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Wenn uns nichts anderes mehr einfällt, machen wir eine Performance. Es gibt nichts im Leben, was man nicht mit Kreativität verändern könnte. Das ist das Denken der Isländer, das denen jetzt auch über die Krise drüberhilft. Okay, wir liegen am Boden, ja und! Ja, wir haben jetzt materiell was verloren, was soll’s! Wir haben noch unseren Grips, unsere Kreativität, wir haben unsere Geschichte, wir haben unsere Bücher, wie das gestern in der Eröffnung immer wieder gekommen ist. Die Bücher sind die Elemente, aus denen wir uns neu zusammensetzen können, und das ist dermaßen inspirierend, auch hier, wenn sie in den Pavillon reingehen. Das ist eine Feier des Lesens. Das ist keine politische Botschaft. Wir können alle von den Isländern lernen, Literatur so ernst zu nehmen. Wenn sie sehen, wie ernst die Literatur in Island genommen wird, das ist ermutigend, dass man selbst die Literatur mindestens so ernst nimmt.

    Fischer: Herzlichen Dank, Thomas Böhm, für diesen Überblick über isländische Literatur und Island und die Mentalität dort.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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