Dienstag, 23. April 2024

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Islam und Christentum
Barmherzigkeit als Brücke

Papst Franziskus wird das Jahr 2016 am Samstag offiziell zu einem "Heiligen Jahr" mit dem Titel "Jubiläum der Barmherzigkeit" erklären. Barmherzigkeit ist nicht nur für Franziskus ein Schlüsselwort, sondern auch für zwei andere namhafte Theologen: einen christlichen und einen islamischen. Eine interreligiöse Chance?

Von Ulrich Pick | 10.04.2015
    Es war während der Tage des Konklaves im März vor zwei Jahren. Die stimmberechtigten Kardinäle hatten ihre Zimmer im Gästehaus Santa Marta bezogen, als Kardinal Walter Kasper eines Abends auf dem Flur seinen argentinischen Kollegen Jorge Mario Bergoglio traf. Die Zimmer der beiden lagen genau gegenüber. Als Kasper den Erzbischof von Buenos Aires sah, überreichte er ihm ein Buch. Wenige Tage zuvor nämlich hatte Kasper die frisch gedruckte spanische Ausgabe seines neuen Werkes erhalten. "Barmherzigkeit - Grundbegriff des Evangeliums", so der Titel; und einige Exemplare hatte er für seine Kollegen aus Lateinamerika mitgenommen:
    "Ich sah ihn stehen vor der Tür und sagte: "Ich habe da was für Sie!" Ich kannte ihn schon von Argentinien her und hab ihm das Buch gegeben. Und er hat es gesehen und gesagt: "Misericordia questo il nome del nostro deo - Barmherzigkeit, das ist der Name unseres Gottes. Ohne das wären wir alle verloren." Er hat es dann offensichtlich während des Konklaves gelesen, und das hat ihn dann bestätigt in seiner Überzeugung, die er dann eben in seiner Verkündigung einfließen lässt."
    Kardinal Bergoglio muss von Kaspers Schrift beeindruckt gewesen sein. Denn wenige Tage später erwähnte er als frisch gewählter Papst Franziskus das Buch in aller Öffentlichkeit bei seinem ersten Angelus-Gebet: Die Lektüre habe ihm gutgetan, sagte er, denn Barmherzigkeit - so das neue katholische Kirchenoberhaupt wörtlich - "macht die Welt weniger kalt und gerechter." Wenn Kardinal Kasper heute von der Begebenheit erzählt, muss er schmunzeln. Gleichzeitig betont er, dass für ihn die Botschaft des Christentums ohne den Begriff "Barmherzigkeit" im Grunde nicht zu verstehen sei. Dies zeige sich übrigens auch in der aktuellen Diskussion seiner Kirche um die Zulassung wieder verheirateter Geschiedener zur Kommunion:
    "Es ist ein Schlüsselbegriff. Vor allem weil es der Spiegel des Wesens Gottes - Gott als Liebe - darstellt und Gott eben seiner Liebe immer entspricht, wenn ein Mensch darum bittet und es braucht."
    "Barmherzigkeit ist ein Schlüssel, um den Koran zu verstehen"
    Parallel zu Walter Kaspers Werk "Barmherzigkeit - Grundbegriff des Evangeliums" veröffentliche der in Münster lehrende muslimische Theologe Mouhanad Khorchide ebenfalls ein Buch zum selben Thema. Sein Titel lautet: "Islam ist Barmherzigkeit: Grundzüge einer modernen Religion". Es wird vom selben Verlag herausgegeben. Wie Kasper sieht auch Khorchide im Begriff "Barmherzigkeit" einen Schlüsselbegriff - und zwar für seine Religion, den Islam. Immerhin, so sagt er, würden 113 der 114 Koran-Suren mit der Formel "Im Namen Gottes des Allerbarmherzigen und Allerbarmers" beginnen. Insgesamt tauche der Aspekt der Barmherzigkeit sogar 550-mal im Koran auf:
    "Deshalb ist es keine aufgesetzte Auslegung, sondern eine Selbstverständlichkeit vom Text her. Da gibt es den Vers im Koran, da heißt es - gerichtet an Mohammed: "Wir - also Gott - wir haben Dich, Mohammed, lediglich aus Barmherzigkeit für alle Welten entsandt." Nicht für die Muslime, nicht für die Gläubigen, für alle Welten. Und deshalb ist Barmherzigkeit eben ein Schlüssel, um den Koran, um die Verkündigung Mohammeds überhaupt zu verstehen. Alles, was im Widerspruch zur Barmherzigkeit steht, kann nicht der Verkündigung Mohammeds gerecht werden."
    Dieser Hinweis Khorchides mag verwundern – steht es doch um das Image des Islams nicht zum Besten. Schließlich wird er immer wieder mit Gewalt in Verbindung gebracht und von vielen Nicht-Muslimen als Bedrohung empfunden. Gleichwohl scheinen die Ansichten des Münsteraner Theologen gerade junge Muslime zu inspirieren:
    "Die jungen Menschen sagen mir immer wieder: "Wir sind aufgewachsen und sozialisiert mit der Vorstellung von einem sehr restriktiven Gott." Und wo sie gesehen haben, man kann das theologisch fundiert auch begründen, dass der islamische Gott ein Gott der Liebe und Gott der Barmherzigkeit ist, sagen mir die Jugendlichen: "Wir haben endlich einen Zugang zu Gott, wo Gott uns viel näher ist. Auch wenn wir in einem Tief sind, auch wenn wir Verfehlungen machen: Gott ist noch auf meiner Seite und holt mich raus und nicht der mir Angst macht."
    Über die Grenzen der eigenen Religion schauen
    Dass der Christ Walter Kasper und der Muslim Mouhanad Khorchide quasi gleichzeitig und, ohne sich abzusprechen, Bücher zur Barmherzigkeit als Schlüsselbegriff ihrer eigenen Religion publiziert haben, ist eine bemerkenswerte Überraschung. Vielleicht ist es aber auch mehr, nämlich eine Chance für eine Verständigung zwischen den Religionen. Denn der Begriff "Barmherzigkeit" könnte dann als "Brückenbegriff" fungieren, um das Verständnis der jeweils anderen Religion zu erleichtern. So jedenfalls sieht es Walter Kasper, der das Buch des Muslim Khorchide ausgesprochen anregend findet:
    "Selbstverständlich ist Barmherzigkeit im Sinn des Islam nicht ganz das Gleiche wie Barmherzigkeit bei Jesus und im Neuen Testament selber. Da gibt es Unterschiede. Aber wir haben eine Brücke. Wir können darüber sprechen. Und mein Wunsch wäre, dass solche Ideen, wie Herr Khorchide sie in seinem Buch darstellt, sich unter den Muslimen noch mehr breiten. Die brauchen wir auch um des Zusammenlebens bei uns in Deutschland und in Europa willen. Aber wir können respektvoll tolerant miteinander sprechen und auch miteinander leben."
    Ob sich aus den beiden Veröffentlichungen ein größeres interreligiöses Fachgespräch entwickeln wird, ist momentan noch offen. Da beide Theologen in Mailkontakt stehen und gegenüber dem Deutschlandfunk versicherten, an einem weitergehenden Austausch interessiert zu sein, darf man gespannt sein. Und wenn Papst Franziskus am Sonntag das Heilige Jahr als "Jubiläum der Barmherzigkeit" ausruft, kann man diesen Schritt nicht nur als innerkatholische Angelegenheit verstehen, sondern auch als Möglichkeit, über die Grenzen der eigenen Religion zu schauen.