Megawati wurde nur mit Hilfe der islamischen Parteien Präsidentin. Also ist es schwierig für sie, Abu Bakhar Baaysir oder andere Führer islamistischer Gruppen zu verhaften. Sie würde deren Unterstützung im Parlament verlieren, ihre Macht wäre gefährdet.
Was ist das für ein Islam, dessen politischer Arm heute so mächtig ist? 90 Prozent der 230 Mio. Menschen im riesigen Inselreich sind nominell Moslems. Doch die Religion hat viele Ausprägungen, seit sie im 14. Jahrhundert auf dem Seeweg nach Indonesien gelangte. Sie wurde fast immer mit schon vorhandenen Glaubensvorstellungen amalgamiert und dadurch verwässert respektive liberalisiert; auch die Fundamentalisten in Indonesien sind mit arabischen Islamisten nur schwer vergleichbar. Ihre Stimmen seien einfach lauter zu vernehmen als früher, heißt es, weil nach dem Sturz Suhartos 1996 nach 40 Jahren Diktatur zum ersten Mal relative Meinungsfreiheit herrscht. Das Bild, das Intellektuelle vom Islam zeichnen, hat mit der Fratze des Terrors jedenfalls nichts zu tun:
Der Islam in Indonesien ist ein gemäßigter; er ist tolerant und friedlich. Ja, es gibt ein paar radikale Gruppen, aber sie sind klein und eigentlich unbedeutend. Ganz überwiegend sind wir friedliche, tolerante, weltoffene Moslems.
betont der prominente Führer der liberal-muslimischen "Muhammadiyah”, Samsul Maarif. Innerhalb der heillos zerstrittenen indonesischen Muslim-Parteien oder Brüderschaften nimmt die Muhammadiyah eine moderne, rationalistische Position ein: für den religiös grundierten, demokratisch verfassten Staat, der Koran und Kapitalismus nicht unbedingt für einen Widerspruch hält. Im Vorfeld der jährlichen großen Parlamentsdebatte im August sprach sich die Organisation mit immerhin 30 Mio. Anhängern gegen die Implementierung der Sharia in die indonesische Verfassung aus. Allerdings betrachtet auch Maarif das Auftreten etwa des Internationalen Währungsfonds als "neo-ökonomischen Imperialismus". Auf diese Weise solle Indonesien abhängig gemacht werden. Das Land steht wirtschaftlich sehr unter Druck; der Staat ist mit der wirtschaftlichen und demokratischen Erneuerung seit dem Ende der Suharto-Ära kaum voran gekommen; und der immer wieder geforderte starke Führer, der die Korruption bekämpft, die ungute Verflechtung des Militärs mit der Wirtschaft beschneidet und ausländischen Investoren wieder ein stabiles Land präsentiert, ist nicht in Sicht. Der Weltmacht Amerika ist man einstweilen in ehrlicher Hassliebe verbunden, auf fast jedem Gebiet. Riefqi Muna ist Direktor von RIDEP, dem "Research Institute for Democracy and Peace" in Jakarta, einem Institut für Friedens- und Konfliktforschung, das sich vor allem mit der Situation von Menschen-rechten, der Demokratisierung und anderen aktuellen politischen Themen befasst. Er sagt:
In Indonesien gibt es zwei Haltungen zu den USA. Es gibt einen wachsenden Antiamerikanismus, besonders bei den islamischen Hardlinern. Sie verlangen, die Wirtschaftsbeziehungen zu Amerika abzubrechen – was unmöglich ist. Als Nike seine Niederlassung in Bandung schloss, demonstrierten 5000 Leute, die ihre Arbeit verloren hatten. Das wäre überaus fahrlässig. Ich sage immer: wollt ihr ohne Computer leben und ohne Flugzeug? All das haben wir doch von dort! Das ist die eine wachsende Gruppe. Und die andere – nun, wer unterstützt eigentlich Amerika? Um ehrlich zu sein, glauben manche hier sogar an eine Verschwörungstheorie, nach der die USA und der Westen Indonesien zerstören wollen, um es besser handhaben zu können. Ich glaube das nicht. Warum? Verschwörungstheorien tauchen immer dann auf, wenn die "Trauben zu hoch hängen". Den einfachsten Weg zu solchen Theorien nenne ich "Conspiranoya".
Genau das, der gelöste Umgang mit den Errungenschaften des Westens einerseits und die antiamerikanische Stimmung andererseits, kennzeichnen eine weit verbreitete Haltung in Indonesien.
Der fast blinde Ex-Präsident Wahid, genannt Gus Dur, der während seiner Amtszeit mehr Rückhalt im Volk als im Parlament genoss und sich heute lieber als Essayist denn als Politiker sieht, bestätigt das. Er erzählt zum Thema Antiamerikanismus, was er schon vor fünf Jahren bei einer Diskussion in Tokio zu Samuel Huntington sagte:
Ich sagte ihm damals: Professor, Sie vergessen, das Hunderttausende Moslems jedes Jahr ins Ausland gehen, um von der westlichen Zivilisation zu lernen; da gibt es natürlich Einflüsse, und umgekehrt auch, so dass es mehr um gegenseitiges Lernen geht als um Kampf. Und Huntington misst außerdem mit unterschiedlichen moralischen Maßstäben: Wenn ein orthodoxer Jude am Sabbath Steine auf vorbeifahrende Autos wirft, ist er immer noch ein Kind des Westens, das ein bisschen den Rahmen sprengt. Wenn ein Moslem das tut, heißt es: er ist gegen das westliche System. Das ist falsch.
Eine Koranschule, Pesantren, in Solo, ausgelassene Stimmung nach dem Abendgebet. Hier wird neben dem normalen Schulstoff vor allem die Lehre des Koran vermittelt – zum Beispiel, dass man ohne das islamische Gesetz, ohne die Scharia, kein guter Moslem sein kann. Viele Moslembruderschaften unterhalten solche Koranschulen, denen in der Suharto-Ära eine gewisse Staatsferne nachgesagt wurde und die Unterricht vor allem für die sozial Schwächeren anbieten. Hier in Solo lebt aber jener Mann, den der Westen als den "bösen Moslem" Indonesiens identifiziert hat. Auch in Indonesien ist es ein offenes Geheimnis, dass Abu Bhakar Baaysir Kontakte zu Al Quaida unterhält. Vor Jahren schon soll er eine radikal-islamische Gruppe in Malaysia gegründet haben. Die USA sähen ihn gern im Gefängnis, doch bislang gab es für eine Verhaftung keine hinreichenden Beweise. Den deutschen Journalisten gegenüber, die ihn im August diesen Jahres besuchten, trat Abu Bakhar Baaysir freundlich, fast zurückhaltend auf. Mit seinem langen weißen Gewand und der weißen Kappe – Kennzeichen des "Dawa", des religiösen Lehrers und Mekka-Pilgers – gleicht er eher einem geistlichen Führer als dem indonesischen Topterroristen. Mit Osama bin Laden fühlt er sich ideologisch verbunden; persönlich sei er ihm aber noch nie begegnet. Er hält Osama bin Laden für den wirklichen Anwalt des Islam, den Anschlag vom 11. September für einen Akt der Selbstverteidigung und das Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban für den wahren Islamstaat – bis die USA ihn zerstörten. Weiss er, ob Osama bin Laden noch lebt?
So Gott will lebt er noch und führt den Kampf fort. Denn wenn er tot wäre, würden die USA das nicht nur in die ganze Welt herausposaunen sondern bis zum nächsten Planeten (lacht). – Was den Terror betrifft: ich mag das Wort "Terror" nicht, denn in Wirklichkeit handelt es sich um einen Fall von Selbstverteidigung gegenüber den Juden und den Amerikanern. Der 11. September hat viel Leid verursacht. Doch ob Osama bin Laden das getan ist, ist bis heute fraglich. Denn bis auf den heutigen Tag haben die USA der Welt keinen Beweis vorgelegt, dass er es war. Und obwohl es keinen Beweis dafür gibt, greifen die USA Afghanistan an. Und Sie unterstützen Israel dabei, die Palästinenser anzugreifen. Das ist der eigentliche Terrorismus, nicht der 11. September.
Frieden kann es nach Meinung von Abu Bakhar Baaysir nicht geben, solange Amerika ohne genügend Beweise andere Länder überfalle oder Israel helfe, palästinensische Zivilisten zu bombardieren:
Immer noch wollen Juden und Christen die Moslems unterdrücken. Weil die Taliban die Sharia verwirklicht haben, wurden sie als Terroristen bekämpft. Für eine friedliche Welt müsste der Westen vor allem den Islam und die Moslems mehr respektieren. Lasst die Moslems nach der Sharia leben und alles wäre gut.
Das in dem riesigen moslemischen Inselstaat weit verbreitete Gefühl, als Nation, als Moslems und als Bewohner eines Schwellenlandes klein gehalten zu werden, muss ernst genommen werden. Der amerikanische "Krieg gegen den Terror" stärkt die radikalen Kräfte in Indonesien, die in den letzten Jahren gerade deshalb Zulauf erhielten, weil das "amerikanische Modell" von Wirtschaftswachstum und Liberalität nach dem Kollaps der Tigerstaaten eher einseitig wirkte: für die großen Konzerne. Sri Nuryanti vom RIDEP-Institut nennt Zahlen von Mitgliedern radikalislamischer Gruppierungen, die er lieber als "militante" denn als "radikale" Islamisten bezeichnet; und die Schwierigkeiten ihrer Erhebung:
Nach meinen Recherchen haben wir nicht mehr als 50.000 solcher Anhänger. Das ist wenig verglichen mit der Gesamtbevölkerung. Aber selbst die wenigen bewegen sich oft in mehreren radikalen Gruppierungen, sind etwa Mitglied bei Laskar Tulula und bei Laskar Djihad – manchmal scheint es sogar mehr Gruppen als Mitglieder zu geben! Und auch nur 50 Leute, wenn sie ins Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit geraten, können ziemlich beängstigend aussehen.
Sri Nuriyanti spielt hier auf das Problem der medialen Vermittlung des Islam im Westen an: eine kleine Gruppe von Demonstranten, eine brennende amerikanische Flagge, eine dicke Schlagzeile – und Indonesien mutiert zum angsteinflößenden Moslemstaat. Auch hier tut Differenzierung not:
Es ist unbestreitbar, dass einige in Afghanistan ausgebildet wurden; sie machten mit im afghanischen Kampf gegen die Russen, und damals waren sie auch noch Freunde der USA. Eine große Frage auch für uns ist, warum sie jetzt plötzlich zu Amerikas Feinden wurden. – Normalerweise unterscheiden wir uns sehr vom arabischen Islam oder der Hizbollah. Aber einige haben doch eine ähnliche Ideologie, wollen die Scharia einführen oder den Heiligen Krieg. Aber auch hier gilt: Die meisten Menschen in Indonesien haben eine andere Vorstellung vom "Djihad", das heißt ja nicht nur Krieg, sondern den Kampf für ein gutes Leben, gegen Laster, gegen ungehörges Benehmen, all das heißt im Islam auch "Djihad" – nur für die Radikalen heißt "Djihad" Krieg. Wenn also auch der Kampf gegen den Terror "Djihad" sein könnte, dann müssen wir Terror erst richtig definieren, bevor wir ihn bekämpfen. (ist ironisch gemeint!)
Je mehr man ihn unter die Lupe nimmt, desto mehr scheint der indonesische Islamismus sich ins Diffuse aufzulösen. Vor allem aber gibt es gute Gründe, das Terrorpotential in Indonesien an ganz anderer Stelle zu suchen. Noch einmal Riefqi Muna von "Ridep":
Wir haben wirklich viele Bombenanschläge in diesem Land. Aber niemand zeichnet dafür verantwortlich, und der Versuch, die Herkunft des Materials herauszufinden, was theoretisch nicht schwierig wäre, scheitert auch, weil die Polizei nicht den Mut zu solchen Untersuchungen hat. Im Normalfall funktioniert Gewalt genau so: Wenn es einmal anfängt und ökonomische Schwierigkeiten dazukommen, entstehen Frustrationen. Wir sagen: das Grass ist schon trocken. Wenn du ein Streichholz dranhältst, wird alles verbrennen. Und wenn es einmal anfängt, kannst du es nicht aufhalten. Das ist die Situation hier.
Schnelle Schuldzuweisungen helfen auch im Fall der Bombenanschläge auf Bali nicht weiter. Während US-Präsident George W. Bush "stark annimmt", dass es sich um indonesische Terroristen handele, die in Kontakt zum Al-Quaida-Netzwerk stehen, gibt der indonesische Geheimdienstchef einen interessanten Hinweis: Bei dem Anschlag sei C4 Plastiksprengstoff verwendet worden. Ihm widerspricht die indonesische Polizei, die herausgefunden haben will, dass der Sprengstoff aus TNT bestanden hat. Was bedeutet dies? Das indonesische Militär hat TNT, aber keinen C 4 Sprengstoff. C 4 soll vornehmlich im Gebrauch von US- oder deutschen Streit-kräften sein. Der Journalist Akuat Supryanto vom Journalistenverband interpretiert die Hinweise so:
Es gibt drei Szenarios. Beim ersten kommen die Täter von außen, das wäre Al Quaida; beim zweiten kommen sie auch von außerhalb, das beträfe die Geheimdienste anderer Länder – manche Moslembruderschaften glauben, dass es der CIA gewesen sein könnte -; und das dritte wäre eine Gruppe im Land wie das indonesische Militär. Es ist schwer vorstellbar, dass radikal-islamische Gruppen für den Anschlag auf Bali verantwortlich sind. Damit hätten sie sich nämlich ihr eigenes Grab gegraben. Gerade soll das Anti-Terror-Gesetz im Parlament verabschiedet werden, und nach der Tragödie auf Bali wird es so schnell wie möglich kommen. Damit schneiden sich die radikalen Islamisten ins eigene Fleisch. Die einzige Gruppe, die von dem Anschlag profitiert, ist das Militär. Das Militär nimmt in der Geschichte Indonesiens eine ganz besondere Stellung ein. Seine Mitglieder haben als Befreiungskämpfer beim Aufbau der Nation geholfen; unter Suharto wurden sie allerdings zur nicht mehr wirklich kontrollierbaren wirtschaftlichen und militärischen Macht im Staat. Das Militär ist mit der Wirtschaft des Landes seit jeher eng verflochten; denn nur 30 Prozent des Militäretats werden von der Regierung bestritten. Für die Armee geht es im Prozess der Demokratisierung und mit zunehmender Rechtstaatlichkeit des Landes um den Erhalt existentieller Pfründe. Was sich wie eine Verschwörungstheorie anhört, ist in Indonesien leidvolle alltägliche Erfahrung.
Es basiert einfach auf den Fakten der Vergangenheit, dass über 200 Bombenanschläge mit dem Militär in Verbindung gebracht werden können; denen aber nicht nachgeforscht wird. Für Indonesier ist es ganz normal, anzunehmen, dass auch diesmal das Militär dahinter steckt.
Erst vor wenigen Tagen haben deshalb demokratische Kräfte und die meisten Nichtregierungsorganisationen vor der Einführung des Anti-Terror-Gesetzes gewarnt, das im Parlament zur Abstimmung steht. Kritiker befürchten, es stärke gerade jene Kräfte, die zusammen mit der korrupten Suhartofamilie das Land heruntergewirtschaftet hätten, und wirke letztlich wie ein Blankoscheck fürs Militär. Riefqi Muna rechnet sogar mit einer Verschlechterung der Menschenrechtssituation in Indonesien:
Wegen des 11. Septembers gibt es möglicherweise einen Backlash innerhalb der demokratischen Entwicklung im Land, speziell was die Streitkräfte betrifft. Das Militär fühlt sich damit wieder in seiner Rolle legitimiert. Die Regierung hat jetzt die Vereinbarung [der ASEAN mit der USA] zur Terrorismus-Bekämpfung unterzeichnet. Ich bin gegen diese Vereinbarung. Nicht, weil wir sie nicht bräuchten, sondern weil es zu wenig definiert ist. Ein autoritäres Regime könnte es dazu benutzen, jeden zu unterdrücken. Es ist darin keine Rede von politischen oder ideologischen Motiven. Mit dieser Anti-Terror-Vereinbarung, wenn sie Gesetz wird, können sie jeden verhaften und ins Gefängnis stecken außer den Terroristen!
Das Machtvakuum nach dem Abgang des Präsidenten Suharto ließ viele über Jahrzehnte unter der Oberfläche schwelende Konflikte in Indonesien gewaltsam hochkochen. Derzeit wird die politische Stabilität des Landes auch mit finanzieller Hilfe des Westens in einer fragilen Balance gehalten. Der Weg bis zu einem funktionierenden demokratischen Staat ist nach dem Anschlag auf Bali möglicherweise in noch weitere Ferne gerückt.