Freitag, 29. März 2024

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Islamistische Gefährder
Straffällig trotz Deradikalisierungsprogramm

Der Attentäter von Wien war in einem Deradikalisierungsprogramm, genauso wie der mutmaßliche Messer-Angreifer aus Dresden. Trotzdem verübten sie tödliche Angriffe. Ein Restrisiko für solche Taten bleibe immer, sagte der Pädagoge Thomas Mücke vom Violence Prevention Network im Dlf.

Thomas Mücke im Gespräch mit Bastian Brandau | 05.11.2020
Zwei Polizeiautos in der Wiener Innenstadt nach dem Terroranschlag am 2.11.2020
Polizisten in Österreich riegeln nach dem Attentat die Wiener Innenstadt ab (imago )
Nach dem islamistisch motivierten Attentat in Wien läuft in Österreich eine Debatte über den Umgang mit Gefährdern. Denn der 20jährige Täter wollte 2018 nach Syrien ausreisen, sich dem sogenannten Islamischen Staat anschließen. Dafür war er zu knapp zwei Jahren Haft verurteilt worden. Daraus wurde er aber mit Auflagen entlassen, zu denen die Teilnahme an einem Deradikalisierungsprogramm gehörte.
IS-Rückkehrer: Hilfe zur De-Radikalisierung
Knapp 1.000 Mitglieder der Terrormiliz "Islamischer Staat" oder ihre Angehörigen warten in der Türkei darauf, in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden. Unter ihnen sind auch Deutsche. Der Berliner Verein "Violence Prevention Network" kümmert sich um die Rückkehrer – eine nicht ganz ungefährliche Aufgabe.
Auch in Deutschland gibt es solche Programme, zum Beispiel beim Verein "Violence Prevention Network", der sie im Auftrag mehrerer Bundesländer umsetzt. Der Syrer Abdullah Al H. war in einem solchen Programm. Er soll in Dresden Anfang Oktober ein homosexuelles Paar mit einem Messer angegriffen und einen der Männer tödlich verletzt haben.
Pädagoge Thomas Mücke, Vorsitzender des "Violence Prevention Network", spricht im Deutschlandfunk über die Arbeit mit radikalisierten Islamisten.
Bastian Brandau: Wie laufen die Deradikalisierungsprogramme Ihres Vereins für verurteilte radikalisierte Islamisten ab?
Thomas Mücke: Der erste Punkt ist erstmal, dass man versuchen muss, mit der Person in Kontakt zu treten und zu schauen, ob sie bereit ist, an einem solchen Programm auch teilzuhaben. Das kann man nicht aufdrängen, da muss eine gewisse Bereitschaft vorhanden sein, und dann beginnt ein langfristiger Prozess. Deradikalisierungsarbeit ist nicht eine Arbeit von wenigen Monaten, sondern es wird geschaut, dass wir daran arbeiten, dass von der Person und für die Öffentlichkeit keine Gefahr mehr ausgeht, dass die Person distanziert bleibt zum extremistischen Milieu, dass die Person sich aber auch in ihren Denkweisen von menschenverachtenden Einstellungsmustern distanzieren kann.
Und dann beginnt der Weg der Integration in die Gesellschaft, von der man sich vorher sehr entfremdet hat. Also wie sieht es aus, dass ich wieder meine privaten Netzwerke aufbaue, dass ich wieder eine berufliche Integration erfahre? Und dann müssen wir aber auf einen längeren Zeitraum beobachten, wie der Mensch in Krisensituationen sich verhält, weil persönliche Krisen ja immer auch ein Faktor gewesen sind, warum man sich der extremistischen Szene zugeordnet hat. Das Ganze braucht sehr viel biographisches Arbeiten, sich genau anzuschauen: Was ist vor der Radikalisierung passiert? Warum ist man überhaupt mit dieser Szene in Kontakt geraten? Das alles gehört mit dazu. Es sind sehr viele Aspekte, die behandelt werden und das Wichtigste ist: Man ist wieder Brückenbauer zu der Gesellschaft, weil man sich von der ja insgesamt schon sehr entfremdet hat.
Gefährder Abdullah Al H. war erst kurz im Programm
Brandau: Und es ist immer so: Sie lernen diese Menschen im Gefängnis sitzend kennen und begleiten sie auf ihrem Weg nach draußen, wenn es auf eine Zusammenarbeit hinausläuft. Vielleicht machen wir es mal konkreter. Wie sah die Zusammenarbeit aus mit Abdullah Al H., der in Dresden jetzt tatverdächtig ist, zwei Männer mit dem Messer angegriffen zu haben?
Porträt von Thomas Mücke
Thomas Mücke, Geschäftsführer des bundesweit agierenden Violence Prevention Network (Deutschlandradio/Sebastian Engelbrecht)
Mücke: Hier waren wir am Anfang des Prozesses, und wir hatten hier auch eine schwierige Ausgangsbedingung gehabt, weil die Person saß ja längere Zeit lang in Untersuchungshaft. Und es gibt das Prinzip, dass man ein Deradikalisierungsprogramm in der Untersuchungshaft nicht beginnt. Einerseits gilt die Unschuldsvermutung, zweitens besteht die Gefahr, dass dann dieses Programm instrumentalisiert wird für den Gerichtprozess. Das versuchen wir zu vermeiden. Das heißt, wir müssen schon die Gerichtsentscheidung abwarten.
Und hier war dann der Punkt gewesen, als er dann zu einer Strafe verurteilt worden ist, dass er ja einen Beamten angegriffen hatte, und dann ist natürlich die Person auch in dem Moment auch erst einmal in der Isolation aufgrund von Sicherheitsbedenken heraus, das heißt dann hatten wir auch hier in der Situation erst mal keinen Zugang. Der war dann möglich gewesen im Januar diesen Jahres. Da hat er es aber abgelehnt gehabt, mit uns zu arbeiten und hat dann im April Signale gesetzt, dass er doch mit uns arbeiten würde. Dann kam aber der Lockdown und das führt dann dazu, dass wir dann natürlich aufgrund der Hygienemaßnahmen von außen gar nicht in den geschlossenen Kontext hineinkommen, sodass dann also diese Arbeit tatsächlich erst Ende Juni anfangen konnte.
Die Entlassung war ja Ende September. Das heißt, wir haben hier versucht, die Arbeitsbeziehung erstmal aufzubauen. Und wir haben versucht gehabt, dann auch das, was nach der Haftzeit passiert, wie da die ersten Schritte aussehen könnten, wohl wissend, dass die Ausgangsbedingungen natürlich auch dadurch erschwert waren, dass er bereits den Abschiebebescheid hatte. Das heißt auch klar war, dass eine Zukunft in dieser Gesellschaft für ihn nicht denkbar ist. Und nach der Haftentlassung - er galt ja als Gefährder und für uns auch als gefahrenrelevanter Fall - der stand dann auch unter Führungsaufsicht. Das heißt der erste Kontakt, den hat er erst aufgenommen gehabt einen Tag nach der Mordtat, also am 5. Oktober und bis zu seiner Verhaftung hatten wir dann drei sehr intensive Beratungstermine gehabt, in denen wir aber nicht in irgendeiner Art und Weise gemerkt haben, was da passiert ist.
Beratungsgespräch in Tatort-Nähe
Brandau: Das heißt, ihm war sie nichts anzumerken, so hatten Sie es auch mal geschildert."
Mücke: Es war nicht anzumerken, wir haben einen Beratungstermin auch außerhalb gehabt. Das heißt auch in der Nähe des Tatortes. Und es war überhaupt gar keine in irgendeiner Hinsicht emotionale Reaktion zu spüren. Unsere Kolleginnen und Kollegen haben natürlich auch ein Bedrohungsmanagement. Die haben ein Frühwarnsystem, sie achten schon auf bestimmte Dialoge. Sie achten auf Körpersprache, darauf wie die Person zurzeit insgesamt auch wirkt. Da war nichts erkennbar gewesen.
Der Angeklagte Harun P. versteckt am 20.01.2015 in München (Bayern) beim Auftakt im Prozess im Oberlandesgericht sein Gesicht unter einer Kapuze. Der 27 Jahre alte Deutsche soll als Mitglied der Gruppe "Junud Al-Sham" am Terror in Syrien beteiligt gewesen zu sein. Er muss sich wegen gemeinschaftlichen Mordes verantworten. Foto: Sebastian Widmann/dpa | Verwendung weltweit
Terrorgefahr: Der schwierige Umgang mit Dschihad-Rückkehrern
Von desillusioniert bis gewaltbereit: Wer etwa vom IS im Irak oder Syrien zurückkehrt, den wollen die Sicherheitsbehörden vom falschen Weg abbringen. Dazu braucht es viel Fingerspitzengefühl mit jenen, die aussteigen wollen – doch daran scheint es bisweilen zu fehlen.
Brandau: Sie haben gesagt, das passiert nur sehr selten. Ich glaube, Sie haben sogar gesagt, im Falle von radikalisierten Islamisten war das der erste Fall, wo jemand sozusagen rückfällig geworden ist, den Sie betreut hatten. Was kann man sagen, ist aus Ihrer Sicht in diesem Fall schief gelaufen?
Mücke: Ja, das ist eine wichtige Frage. Und die gucken wir uns sofort auch an. Also wir schauen auch dann sofort im Rückblick noch einmal hinein. Gab es irgendetwas, wo man hätte etwas merken können? Mal abgesehen davon, dass wir ihn ja vor dem Mord gar nicht gesehen hatten in Freiheit. Aber wir haben nichts gefunden, und das ist natürlich etwas, was uns auch besorgt. Also mir persönlich wäre es besser, wenn ich den Punkt finden würde, weil sie haben ja vergleichbare Fälle, und wir müssen sofort schauen wie kann man das dann auf die anderen Fälle abgleichen? Aber wir mussten auch zur Kenntnis nehmen: Es gibt diesen Fall, so selten vorkommt, dass man in einen Menschen nicht hineinschauen kann und dass der Handlung begeht, die für uns auch nicht mehr erreichbar sind.
"Das Restrisiko bleibt"
Brandau: Das heißt, da bleibt immer ein Restrisiko in Ihrer Arbeit?
Mücke: Das Restrisiko bleibt, ja. Und es wäre fatal anzunehmen, wer durch solche Programme läuft oder wer durch Sicherheitsbehörden ständig beobachtet wird, davon auszugehen, es wird nie etwas passieren. Wer so etwas sagt, das ist nicht leistbar.
Brandau: Schauen wir noch mal auf den Fall in Wien, da hat das österreichische Innenministerium ja zugegeben, dass es wusste, dass der Täter in der Slowakei Munition kaufen wollte, nachdem er freigelassen wurde. Wenn diese Info Ihren Kolleginnen - in Österreich heißt die Organisation, die so ähnlich arbeitet wie Sie Derad - dort bekannt gewesen wäre, wäre das automatisch das Ende der Zusammenarbeit mit dieser Person gewesen? Wie funktioniert das in so einem Fall?
Mücke: In so einem Fall wird eine sofortige, aber wirklich unmittelbare Meldung an die Sicherheitsbehörden gemacht, dass wir hier dann sofort eine Gefährdungssituation wahrgenommen haben. Man kann Österreich und Deutschland nicht vergleichen, auch die Deradikalisierungskonzepte in Österreich sehen anders aus als in Deutschland. Aber wir haben hier in Deutschland schon seit langer Zeit eine doch sehr enge Zusammenarbeit, auch mit den Sicherheitsbehörden, was sogenannte gefahrenrelevante Fälle angeht. Und es gibt auch sogenannte Sicherheitsleitfäden. Also was sind die Indikatoren, wo man bestimmte Meldungen sofort machen muss, damit eben nicht passiert, dass die Person sich oder andere gefährdet. Wenn man weiß, und das ist einer der Punkte, dass eine Munition irgendwo besorgt wird, dann können Sie davon ausgehen, dass innerhalb der nächsten fünf Minuten diese Meldung sofort weitergereicht wird.
"Wir erhöhen die Betreuungsfrequenz"
Brandau: Welche Konsequenzen ziehen Sie und andere Deradikalisierungs-Helfer aus diesen beiden Fällen?
Mücke: Wir schauen eher auf die Fälle hier in Deutschland und natürlich ziehen wir immer eine Konsequenz, wenn etwas passiert. Das ist ein Automatismus, den es bei den Organisation der Deradikalisierungsarbeit gibt. Es wird immer geschaut: Ist etwas, was wir in Zukunft anders betrachten oder beobachten müssen. Aber natürlich auch im Zusammenhang mit Nizza. Wir haben ja jetzt hier gerade eine Phase des Terrorismus, des inspirierten Terrorismus. Das heißt, wir müssen immer damit rechnen, dass durch eine Handlung noch weitere Ereignisse stattfinden können.
Also man nennt das Copy Paste. Das heißt, das ist ein Automatismus. Wenn so etwas passiert, kommen alle Kräfte, die in der Deradikalisierungsarbeit bei uns bundesweit tätig sind, wir kommen noch einmal zusammen. Wir gucken uns noch mal die schwierigen Fälle an. Auch die Personen, die gerade in einer labilen Situation sind. Wir erhöhen auch sofort die Betreuungsfrequenz, wenn es solche akuten gesellschaftlichen Ereignisse gibt und schauen nach, dass hier nicht noch weitere terroristische Anschläge passieren können. Das ist die unmittelbare Konsequenz aber das gehört bei uns zu den ganz normalen Ablaufplänen. Das haben wir auch gehabt, als die Anschläge in Hanau und Halle gewesen sind. Das heißt für uns sind das die Zeiten, wo wir mit hoher Aufmerksamkeit arbeiten und mit einer hohen Beratungsfrequenz.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.