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Island - Geschichten aus dem Nichts

Das kleine Island ist in diesem Jahr Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Kaum ein Land hat eine so schreib- und lesefreudige Bevölkerung. Jedes Jahr erscheinen dort rund 1500 Bücher - und das bei nur rund 320.000 Einwohnern.

Von Antje Deistler | 11.10.2011
    Hali in Island. Ein Ort mitten im isländischen Nichts. Zugegeben, er liegt in der Nähe des berühmten Gletschers Vatnajökull, aber selbst Isländer bezeichnen den Flecken am Meer als "ziemlich abgelegen". Hier gibt es schroffe vulkanische Felsen, den Nordatlantik, Tausende von Schafen und ein paar hingestreute Häuschen, in denen sehr wenige Menschen wohnen. Und ein ultramodernes Gebäude, entworfen von führenden isländischen Designern. Mitten auf der grünen Wiese steht der Flachbau, dessen mehrere Meter hohe Seitenwand aus riesigen gebundenen Büchern zu bestehen scheint, die einem schon von Weitem orange entgegenleuchten. Es ist das Thorbergur Thordarson-Museum. Thorbergur Thordarson war ein noch heute bei den Isländern sehr beliebter Schriftsteller, der 1888 hier geboren wurde.

    "Ich habe immer gesagt, wir versuchen hier aus Nichts etwas zu machen, aber das stimmt nicht ganz","

    sagt Thobjörg Arnorsdottir, die das Museum gründete und seit 2006 führt.

    ""Wenn man Bücher hat, Literatur, die viele Menschen kennen und gelesen haben, dann haben die Gefühle und Erinnerungen. Und wir hatten hier das Glück, die Bücher von Thorbergur Thordarsson zu haben, der in Island sehr berühmt ist, auch wenn ihn im Ausland kaum jemand kennt. Als wir eröffneten, kamen viele Leute zu uns, die die Natur anhand Thorbergurs Büchern erkunden wollten."

    Im Inneren des brandneuen Museumsbaus geht es zurück in die Vergangenheit. Bis in die 1960er-Jahre hinein war Hali durch die Gletscherflüsse fast völlig von der Außenwelt isoliert. Die Bauern rangen dem steinigen Land etwas Nahrung ab und dem Meer ein paar Fische. Es war ein hartes Leben. Im Wohnraum des original erhaltenen Bauernhauses wird das spürbar. Eine Fläche von der Größe einer Abstellkammer, auf der ganze Familien lebten, kochten, aßen, schliefen und lasen. Thobjörg Arnorsdottir:

    "Die Leute waren sehr arm, sie hatten kaum Teller oder Messer und Gabel, um damit zu essen. Sie saßen auf ihren Betten. Aber was sie immer hatten, waren Bücher, viele Bücher, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Und sie konnten alle lesen und schreiben. Man saß abends zusammen, einer las vor und die anderen hörten zu, und sie lernten Gedichte und Geschichten auswendig. Das war ihre Bildung, die alte Literatur, aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die Sagas und alten Erinnerungen."

    Die Bücher, erzählt die ehemalige Lehrerin und heutige Museumsdirektorin Thobjörg Arnorsdottir, gehörten immer mehreren Höfen gleichzeitig, Bauern legten zusammen, und dann wurden die Geschichtensammlungen untereinander weitergereicht. Sie hält ein beinahe zerfallenes Exemplar in der Hand. Auffallend: Die Seiten sind nicht bedruckt.

    "Ja, sie sind handgeschrieben. Und dieses hier ist mal beschädigt worden und dann wieder zusammengenäht. Es wurden nicht viele Bücher publiziert damals. Es gab Männer, die die alten Bücher mit der Hand abschrieben. Nicht Mönche, wie im Mittelalter, ganz normale Männer, bis ins 19. Jahrhundert ging das so."

    Mag der Buchdruck in Europa im 15. Jahrhundert erfunden worden sein, das bitterarme, abgelegene Island konnte sich gedruckte Bücher noch 400 Jahre danach nicht leisten. Trotzdem gab es seit der Besiedlung der Insel hier immer Geschichten und Literatur und eine große Hochachtung für sie.

    "Was ich faszinierend finde, dass die Leute an solchen Orten, wo das schiere Überleben eigentlich eine Heldentat ist, es auch noch zustande bringen, Bücher zu schreiben, Geschichten zu erzählen. Wie sie hier, an diesem Ort, fast seit 800 Jahren machen."

    Halldór Gudmundsson, selbst Verleger und Schriftsteller, organisiert den isländischen Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse. Er hat uns aus zwei Gründen in den Geburtsort von Thorbergur Thordarson geschleppt: "Islands Adel", einer der autobiografischen Romane des Dichters, wird pünktlich zur Buchmesse auch auf Deutsch bei Fischer herauskommen. Und wir sind in Hali, gerade weil es in the middle of nowhere liegt. Denn das Nichts, glaubt Halldór, sei eine der Triebfedern für den isländischen Drang zum Geschichtenerzählen, zum Schreiben und Lesen von Büchern. In anderen Ländern gab es Bauwerke als Erinnerung an die Vergangenheit, in Island gab es - nichts.

    "Wir hatten keine Ruinen, nichts was wir Leuten zeigen können. Wir können nur auf einen Hügel zeigen, auf einen Berg zeigen und sagen: Hier passierte das und das, hier haben sich Geschichten abgespielt. Und zum Beispiel wenn wir jetzt im Südosten bei Hali sind, Thorbergur Thordarson der Autor, der hier aufgewachsen ist, hat hier als Kind eine ganze Welt erfunden. Und ich glaube, als er hier eine Welt aus dem Nichts erschaffen hat, denn die Kommunikation mit der Umgebung war sehr begrenzt hier, es war schwer, hier wegzukommen, hat ihn später zum Autor gemacht. Vielleicht ist das so'n bisschen der Ursprung der isländischen Literatur. Aus dem Nichts
    Geschichten zu erzählen."

    Das tun die Isländer seit 1000 Jahren. Damals siedelten die ersten Menschen in dieser kargen, lebensfeindlichen Natur. Welche Familie wo hinzog und sich eine Existenz aufbaute, wer von wem abstammte, wer wen heiratete, und welche Männer sich gegenseitig die Schädel einschlugen - das alles lässt sich in den 40 mittelalterlichen Sagas nachschlagen. Die Sagas sind in Island bis heute allgegenwärtig, jede Region hat ihre eigene, in der die Landschaft eine große Rolle spielt, und jedes Schulkind lernt sie irgendwann kennen. Was problemlos geht, denn die isländische Sprache - ebenso wie die vulkanische Landschaft - hat sich seit dem Mittelalter kaum verändert. So kann die Dramaturgin Sigrun Valbergsdottir heute noch am Lachsfluss stehen und auf Schauplätze der "Saga von den Leuten aus dem Lachsflusstal" zeigen.

    Zur Buchmesse gibt der Fischerverlag die Sagas in einer neu ins Deutsche übersetzten Gesamtausgabe heraus und der supposé-Hörbuchverlag fuhr mit deutsch sprechenden Isländern an Originalschauplätze und ließ sie die Abenteuer ihrer Urahnen dort frei nacherzählen. Ein tolles Projekt, das der mündlichen Erzähltradition Rechnung trägt. Und trotzdem dürften die Sagas mit ihren langen und gewundenen Einführungen in den Familienstammbaum der Sippe, um die es gerade geht, den meisten deutschen Lesern fremd bleiben. Für Isländer jedoch sind sie so spannend und identitätsstiftend wie Wildwestgeschichten für US-Amerikaner. Auch Halldór Laxness, der isländische Nobelpreisträger für Literatur, war ein begeisterter Sagaleser.

    Den Literaturnobelpreis bekam Halldór Laxness 1955. Er ist bisher der einzige isländische Schriftsteller geblieben, der ihn gewann, und doch: Weil es so wenige Isländer gibt, sind sie seither das Volk mit der höchsten Nobelpreisträgerdichte pro Einwohner. Und sehr stolz auf den großen Laxness, der 1998 starb. Sein Haus dient heute als Museum, ist eine der Touristenattraktionen Islands und eine Pilgerstätte für Literaturliebhaber aus aller Welt. Den weißen Jaguar vor der Tür darf man nicht fahren, aber sonst ist alles berührbar. In der Küche im Erdgeschoss bekommt man einen Kaffee gekocht, den man auf Laxness' Privatsofa mit Blick auf die Berge trinken kann.

    "Ja, das ist die Idee mit dem Ganzen. Wenn man's nicht anfassen kann, dann kriegt man nicht das richtige Gefühl dafür. Man muss es erleben wie ein Heim, wo die Menschen ihr ganz normales Leben gehabt haben. Und gleichzeitig natürlich auch als die Brutstätte all dieser Werke."

    Halldór Gudmundsson ist hier in Mosfellsbær wieder mit von der Partie. Der Organisator des isländischen Buchmesseauftritts kannte Laxness noch, vor sieben Jahren veröffentlichte er dessen Biografie. Halldór Laxness, sagt Halldór Gudmundsson, beeinflusst die isländische Literatur weiterhin.

    " Ja klar, ich glaube, die jüngere Generation hat ein entspannteres Verhältnis zu ihm. Es gab eine Generation, die sie die Schattengeneration nannten, weil sie dachten, sie stehen in seinem Schatten. Aber für die jüngere Generation spielt er, ob sie ihn mögen oder nicht, ob sie ihn noch immer lesen oder nicht, er spielt die Rolle, er hat allen gezeigt, man kann es schaffen, man kann es machen, aus diesem klitzekleinen Land zu kommen, mit diesen wenigen Einwohnern, und der ganzen Welt seine Geschichten zu erzählen."

    Ihre Geschichten zu erzählen, dazu bekommen die zahlreichen Nachfolger von Halldór Laxness in Deutschland ein Forum. Anlässlich der Buchmesse in Frankfurt erscheinen auf dem deutschen Buchmarkt dieses Jahr an die 200 isländische Titel in Übersetzung. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 waren es noch ganze neun. Mittlerweile denkt man in Deutschland auch an Literatur, wenn der Name Island fällt, und nicht mehr nur an renitente Vulkane und Pleitebanken. Eine, die davon profitiert, ist Gudrun Eva Minervudottir.

    "Ich bin Gudrun Eva Minervudottir und ich habe ein Buch geschrieben, das 'Der Schöpfer' heißt."

    Die 35-jährige Minervudottir, die sich hier selbst vorgestellt hat, ist so etwas wie der Shootingstar der isländischen Literatur. In ihrem internationalen Bestseller "Der Schöpfer" (auf Deutsch bei btb) geht es um die zufällige Begegnung eines einsamen Sexpuppenherstellers mit einer alleinerziehenden Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs.

    "Wo die Idee herkam, über einen Typen zu schreiben, der lebensgroße Sexpuppen herstellt? Das war in Paris, ich las in einem Hochglanzmagazin von diesen Puppen, über die Firma, die sie herstellt, und die Männer, die sie kaufen. Was ich faszinierend fand, waren nicht nur die Dinger selbst, sondern wie sie benutzt werden. Nicht nur als Sexspielzeug, sondern manche Männer halten sie wie Freundinnen."

    Minervudottirs Roman - der übrigens fast komplett ohne Sexszenen auskommt -, schildert die Angst moderner, ganz normal überforderter Menschen vor Nähe und Intimität. Unaufdringlich, aber intensiv. Ein universelles Thema, keinesfalls typisch isländisch. Und die typisch isländische Liebe zur Literatur? Die erklärt die junge Schriftstellerin - wir kennen es schon - mit dem Nichts:

    "Wir lesen viel, weil es sonst nicht viel zu tun gibt. Als ich klein war, gab es nur ein Fernsehprogramm, und donnerstags und im Sommer sendeten sie gar nicht, so nach dem Motto: Geht raus und spielt! Oder macht was anderes! Deshalb haben alle gelesen, es war ein Zeitvertreib, und hinterher konnte man über die Bücher reden. Aber das hat sich geändert, jetzt gibt's ja auch Computerspiele, und Internet, und viele Fernsehprogramme."

    "Wir sind das Volk, das Geschichten schreibt, wir sind das lesende Volk","

    so beschreibt Jonina Leosdottir das tief verwurzelte Selbstverständnis der Isländer.

    ""Das hat sicher auch etwas mit dem Klima zu tun. Wegen der langen Winter, der dunklen Nächte, der Kälte - es ist doch nur natürlich, nach etwas zu suchen, um die Dunkelheit vergessen zu machen, etwas anderes zu erleben, zu lesen oder sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Auch mit unserer Isolation: Da sitzen wir ganz allein und weit weg von allem auf dieser kleinen Insel. Das nährt die Sehnsucht nach Flucht, nach literarischem Eskapismus. Damals wie heute. Mittlerweile steckt es uns in den Genen, kann ich mir vorstellen."

    Jonina Leosdottir, 57 Jahre alt, bisherige Bilanz: zwölf Theaterstücke, sechs Romane, zahllose Reportagen für Magazine. Auf dem deutschen Markt aber kann sie als Newcomerin gelten. Mit "Am liebsten gut", ihrem letzten Buch, hat sie den ersten isländischen Frauenroman vorgelegt. Darin porträtiert sie eine Ehefrau und Mutter um die 50, die immer alles richtig machen will, damit ihrer Umwelt auf die Nerven fällt und schließlich zu verzweifeln droht.

    "Über so eine Person wollte ich schreiben. Jane Austen hat ihre "Emma" ähnlich konzipiert: Sie wollte eine Heldin schaffen, die niemand leiden kann, nur sie selbst. Mir war es nicht wichtig, meine Heldin sympathisch zu machen, aber man soll verstehen, warum sie so ist, wie sie ist."

    Der leichte Unterhaltungsroman wird für Kiepenheuer und Witsch einfach zu vermarkten sein. Nicht nur zielt er auf die große Zielgruppe der weiblichen Leser über 50. Publicityträchtig ist auch die private - oder auch nicht ganz so private Situation der Autorin. Jonina ist nebenbei die First Lady Islands. Vergangenes Jahr hat sie offiziell Johanna Sigurdardottir geheiratet, Islands
    Ministerpräsidentin, die beiden lebten schon lange offen als Paar zusammen. Jonina Leosdottir thematisiert das nicht groß, sie schreibt einfach weiter.

    "Ja. Das ist eins dieser isländischen Klischees: Hier schreibt wirklich jeder ein Buch. Wir nennen das: Ich habe ein Buch im Bauch. Jeder hat etwas zu sagen, oder aufzuschreiben. Natürlich kann nicht jeder schreiben. Aber jeder hat eine Geschichte, die er gern erzählen würde."

    "Ja, man kann es sagen, dass Island eine Paradiesinsel für Literatur ist", "

    meint Hallgrimur Helgason.

    ""Fast jeder Isländer träumt davon, ein Schriftsteller zu sein, und die Leute, die nicht schreiben können, die träumen davon, in einem Buch vorkommen. Es ist fast wie eine große Literaturwerkstatt, Island. Wenn du zum Beispiel in die Bar gehst, um ein Bier zu trinken, fast immer kommt eine Person zu dir, um eine Geschichte zu erzählen."

    Das mag Helgason an Island, obwohl er sonst eher ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Land hat. So gern der 52-Jährige in Reykjavik lebt, ab und an müsse er hier weg, sagt er. Einerseits heimatverbunden, andererseits weltoffen, kosmopolitisch. Schon Halldor Laxness zeichnete diese Spaltung aus, und er gab sie offenbar an die nachrückende Autorengeneration weiter. Hallgrimur Helgason jedenfalls hofft, dass Frankfurt seiner manchmal als zu eng empfundenen Heimat neue Impulse verschafft.

    "Das ist eine große Chance. Wenn man in Island aufwächst, hat man das Gefühl, dass keiner Notiz von einem nimmt. Hier sitzen wir, auf einer kleinen Insel mitten im Atlantik, wir verlieren im Fußball, sind überhaupt große Loser, keiner interessiert sich für uns und unsere Kultur. Aber das hat sich in den letzten 20 Jahren verändert, viele kommen hierher, das freut uns."

    Für seinen eigenen Erfolg braucht Hallgrimur Helgason die zusätzliche Publicity der Buchmesse eigentlich nicht. Vor allem die Deutschen mögen seine Titel schon lange: Die Komödie "101 Reykjavik" und die schräge Gangstergeschichte "Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen", beide als Taschenbuch bei dtv, waren Bestseller. Der rotzige Ton und die skurrilen Einfälle prägen auch sein neuestes im Tropenverlag erschienenes Werk, "Eine Frau bei 1000 Grad". Darin wartet eine alte Dame in einer Garage in Reykjavik auf den Tod. Schön ist anders, aber "Schönliteratur", wie die Isländer das nennen, wofür Übervater Halldór Laxness noch stand, wollte Helgason nie schreiben.

    "Schöne Literatur, das Wort hat mich immer gestört. Ich habe mich nie als Schriftsteller von etwas 'Schönem' gesehen. Ich wollte etwas Wahres schreiben, etwas Originelles, Verrücktes, vielleicht, aber nicht unbedingt schön, der Begriff ist mir zu eng."

    Warum sollte man auch schön schreiben, wenn die Themen so hässlich sind. Bankenkrise und Staatsbankrott - das waren die beiden Überschriften, die die Isländer in den vergangenen drei Jahren beschäftigten, und die ziehen sich seither als roter Faden durch die aktuelle Literatur von der Insel. Schon kurz nach der Krise erschien das Skandalbuch "Frauen" des 38-jährigen Steinar Bragi. Der Überraschungserfolg 2008 in Island, jetzt liegt es bei Kunstmann auf Deutsch vor. Bragi:

    "Ich weiß auch nicht, irgendwas hat die Leute daran bewegt. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass das Ganze in einem Wolkenkratzer spielt, wir haben nicht viele Wolkenkratzer in Island. Oder dass eine Frau gezwungen wird, ihr Gesicht in eine weiße, kalte Wand zu pressen und es kam zur richtigen Zeit raus. Ich hatte keine Ahnung, dass es diesen spektakulären Bankenkollaps geben würde, um mein Buch zu promoten."

    Das klingt leicht zynisch, und die Geschichte von "Frauen" liest sich wie ein düsterer Thriller. Darin wird eine Frau in einem Luxusappartment in Reykjavik in den Wahnsinn getrieben - von einem Banker. Die Kritik lobte Steinar Bragi seine seherischen Fähigkeiten, hatte er doch noch vor der Krise einen Roman über sie verfasst. Andererseits wurde ihm Frauenfeindlichkeit vorgeworfen, weil darin eine Frau gequält wird. Das Gegenteil ist der Fall, Bragi prangert die Männerwelt an. Und er stellt ein positives Klischee von Island infrage, nämlich das vom angeblich so fortschrittlichen, gleichberechtigten Verhältnis zwischen Frauen und Männern.

    "Wir haben keine gleichberechtigte Gesellschaft. Die Businesswelt wird von Männern dominiert, nach wie vor, auch in den letzten 15 Jahren. Frauen hatten da überhaupt keinen Einfluss. Vielleicht zeigt die Statistik was anderes, so und so viele Politiker sind weiblich und so, aber die einflussreichen Wirtschaftsbosse waren alle Männer und Männer haben uns in die Krise getrieben, ein kleiner Kreis von Männern. Beim Bankenkollaps spielten Frauen keine Rolle. Jetzt haben wir eine Premierministerin, nach der Krise, was auch nichts über die Machtverteilung aussagt. Das zeigt nur, dass eine Frau hinterher aufräumen darf oder muss."

    "Ich habe einen Finanztycoon umgebracht","

    gibt Aevar Örn Josepsson zu, Krimiautor aus Reykjavik. Natürlich nur in seinem letzten Buch, "Land der Möglichkeiten".

    ""Ich habe einen Finanzmann umgebracht, ich wollte immer einen fantastisch reichen Mann umbringen, ach, ein Traum von mir."

    Dieser Kriminalroman, der vor dem Hintergrund der Krise spielt, wurde allerdings noch nicht ins Deutsche übersetzt. Der btb-Verlag entschied sich stattdessen dafür, ein älteres Buch Josepssons zum Herbst herauszubringen, "Wer ohne Sünde ist", eine wunderbar gallige Studie protestantischer Bigotterie unter isländischen Sektenmitgliedern, die sich auch sprachlich abhebt. Aevar Örn Josepsson ist nach Arnaldur Indridason einer der führenden Autoren auf dem Krimisektor:

    "Früher war das so, man musste, wenn man ein Buch, einen Roman schreiben wollte, dann musste das proper sein, das musste auf tollem Isländisch sein, das musste literär sein, und das passt nicht für Krimis, das muss mehr vulgär sein, mehr umgangssprachlich, das muss nicht so förmliche, perfekte Sprache sein, das geht einfach nicht in Krimis."
    "Es gibt Leute, die das furchtbar finden, aber die Stimmen werden weniger und leiser. Es wird immer mehr akzeptiert, dass die Krimis dazukommen, die bedrohen nicht die "Schönliteratur", sondern die kommen dazu und vielleicht sogar helfen."

    Kriminalromane aus Island haben eine ähnliche Erfolgsgeschichte hinter sich wie nordische Krimis im Allgemeinen: Gerade in Deutschland werden sie den Buchhändlern fast reflexartig aus den Händen gerissen. Was wegen der geringen Kriminalitätsrate und vor allem angesichts des geradezu anheimelnden, klitzekleinen Gefängnisses in Reykjavik irgendwie komisch wirkt. Yrsa Sigurdardottir, einzige weibliche Krimiautorin Islands, sieht das nicht als Widerspruch.

    "Von ganz Skandinavien gibt es dieses Bild, dass die Gesellschaften gut sind, sehr nett und sozial, und wenn man dann davon liest, dass dort etwas Furchtbares geschieht, dann ist das faszinierender, als wenn etwas Schreckliches an einem schrecklichen Ort passiert. Blut auf weißem Schnee, der Kontrast ist größer. Island hat die Landschaft und die Folklore, das ergibt einen guten Hintergrund, obwohl unsere Kriminellen nicht so doll sind."

    Fünf Romane um die Anwältin Dora Gudmundsdottir hat Yrsa Sigurdardottir geschrieben. Alle längst ins Deutsche übersetzt und bei uns überaus erfolgreich. Zur Buchmesse allerdings erscheint im Fischer Taschenbuchverlag ihr erster Gruselthriller, "Geisterfjord". Die isländischen Bestsellerlisten führte er wochenlang an. Dabei arbeitet die 48jährige eigentlich als Ingenieurin. Das
    Schreiben erledigt sie nebenbei. Typisch isländisch.

    "Also, die beiden Jobs unterscheiden sich gerade so weit voneinander, dass ich von der Arbeit kommen und mich mit dem Schreiben beschäftigen kann, ohne dass es mir wie ein einziger langer Arbeitstag vorkommt. Für mich ist das wie Stricken oder Malen."


    Besprochene Literatur

    Thorbergur Thordarson: "Islands Adel", Fischer Verlag, 311 S., 22.95 Euro

    Halldor Gudmundsson: "Halldor Laxness: Eine Biografie", btb, 864 S., 18 Euro

    Gudrun Eva Minervudottir: "Der Schöpfer", btb, 304 S., 19.99 Euro

    Jonina Leosdottir: "Am liebsten gut", Kiepenheuer und Witsch, 297 S., 16.99 Euro

    Hallgrimur Helgason: "101 Reykjavik", dtv, 448 S., 9.95 Euro
    Hallgrimur Helgason: "Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen", dtv, 272 S., 9.95 Euro
    Halgrimur Helgason: "Eine Frau bei 1000 Grad", Tropen Verlag, 400 S., 19.95 Euro

    Steinar Bragi: "Frauen", Kunstmann Verlag, 272, 19.90 Euro

    Aevar Örn Josepsson: "Wer ohne Sünde ist", btb, 448 S., 9.99 Euro

    Yrsa Sigurdardottir: "Geisterfjord", Fischer Taschenbuch, 356 S., 8.99 Euro

    Die Saga-Aufnahmen: Die Saga von Njáll (Njáls saga) / Die Saga der Leute aus
    dem Lachsflusstal (Laxdaela saga), Hörbuch, supposé, Gesamtlänge: 276 Minuten, 39.80 Euro

    Die Isländersagas in vier Bänden, S. Fischer, 3384 S., 98 Euro