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Israelischer Israel-Kritiker

In der Autobiografie "Wissenschaft als Herrschaftsdienst" berichtet der Historiker Ilan Pappe von seinem Verhältnis zu seinem Heimatland Israel. Die Gründung des Staates beschreibt er als systematische ethnische Vertreibung der Palästinenser aus ihren angestammten Siedlungen.

Von Helge Buttkereit | 20.06.2011
    Die Interpretation der Geschichte vollzieht sich nicht im luftleeren Raum. Gerade in Konfliktregionen ist die Deutungshoheit stark umkämpft, so auch im Nahen Osten. So besteht in Israel ein grundlegender Dissens über die Interpretation der Ereignisse um die Staatsgründung des Jahres 1948. Der israelische Historiker Ilan Pappe spricht von einer systematischen ethnischen Vertreibung der Palästinenser aus ihren angestammten Siedlungen durch die jüdischen Institutionen, insbesondere das Militär, für die er Beweise in Hülle und Fülle gefunden habe.

    Das stellt bis heute eine Ungeheuerlichkeit in Israel dar, wo die Mehrheit immer noch von der zionistischen Lesart einer humanistischen Staatsgründung ausgeht. Pappe hat nun eine Art wissenschaftliche Autobiografie vorgelegt: In ihr beschreibt er die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen historischer Forschung und der Reaktion darauf. Sein eigenes Schicksal bettet er dabei immer in das seines Landes ein.

    "Die Entscheidung, diese persönliche Geschichte zu schreiben, ist Teil eines umfassenden Versuchs von anderen wie auch von mir selbst, die Geschichte des modernen Palästina zu dekonstruieren. Sowohl als Historiker wie auch als Friedensaktivist habe ich früh bemerkt, dass meine individuelle Geschichte eine größere Realität symbolisiert und repräsentiert."

    Pappe beschreibt, wie er zunächst als junger Doktorand die Belege für die massenhaften Vertreibungen der Palästinenser und die Zerstörung ihrer Siedlungen fand, wie er offenbar als öffentliches Aushängeschild seiner Universität Haifa eingestellt wurde, um deren Pluralismus zu beweisen, und wie er ins Abseits geriet. Schließlich rührt seine Erforschung der Ereignisse um 1948, bei der er sich im Laufe der Zeit immer mehr von der zionistischen Sichtweise ab und der palästinensischen zuwandte, an den Grundfesten des israelischen Staates. Israel als einzige Demokratie des Nahen Ostens?

    Das Bild bekommt durch die Dekonstruktion des Gründungsmythos bedrohliche Risse. Wie zur Bestätigung wird mit Pappe in seiner Heimat alles andere als demokratisch umgegangen. Auch Studenten, die einen ähnlichen Pfad einschlagen, werden verfolgt. So wird die ursprünglich als herausragend bewertete Masterarbeit eines Studenten nach ihrer verheerenden Außenwirkung aufgrund von Mängeln kassiert. Pappes Forschungen beweisen allerdings, dass es das vom besagten Studenten aufgedeckte Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung im Jahr 1948 gegeben hat. Im Anhang des Buches fasst der Autor seine Recherchen zusammen.

    Auch Pappe selbst sollte aus der Universität gedrängt werden, massive Proteste erhielten ihm die Stelle. Aber wissenschaftliche Arbeit war kaum noch möglich, schreibt er. Als der Historiker 2003 eine Konferenz zu neuen Ergebnissen der Forschung zum Jahr 1948 abhalten wollte, blockierte ihn die Universität, angeführt von deren Präsidenten Yehuda Hayut.

    "Am 22. Mai versammelten sich die Dozenten und das Publikum zur verabredeten Zeit vor den Türen des angegebenen Raums. Diese waren verschlossen. Im Flur stand der Sicherheitschef der Universität mit zehn von seinen Leuten, bewaffnet mit Pistolen und Walkie-Talkies. Ich wurde vom Sicherheitschef und seinem Stellvertreter in einen Nebenraum gestoßen, wo mir ein persönlicher Brief von Professor Hayut übergeben wurde. Dies geschah vor meiner Frau und meinen Kollegen, die die makabre Szene hilflos mit ansahen. Der Brief besagte, dass meine Handlungen ein ernsthafter Verstoß gegen die universitären Vorschriften seien, der Raum daher verschlossen bleibe und die Konferenz abgesagt werde."

    Die Konferenz fand in der Cafeteria statt, die Vorträge wurden quasi ungezwungen im Sitzen gehalten. Die Sicherheitsleute hatten zugesichert, das Treffen dann nicht als Konferenz anzusehen. Beschreibungen von Ereignissen in dieser Art, die fürs Ganze stehen, machen das Buch besonders lesenswert. Die Stimmung in Israel im Jahr 2003 hatte sich durch den Ausbruch der zweiten Intifada zu Ungunsten Pappes gewandelt. Selbst ehemalige Kollegen wie Benny Morris, die wie er zu den "neuen Historikern" zählen, wandten sich von ihm und der kritischen Geschichtsschreibung ab. In diesem Umfeld und insbesondere nach dem Libanon-Feldzug des Jahres 2006 sowie dem parallel dazu verstärkten militärischen Vorgehen der hochgerüsteten israelischen Armee gegen eine fast wehrlose Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen sah Pappe keine Möglichkeit mehr, im eigenen Land tätig zu sein.

    "Zu diesem Zeitpunkt und aus diesem Grund entschied ich, mich nach einem sichereren akademischen Zufluchtsort im Ausland umzusehen. Es wurde dringend, nachdem direkte Todesdrohungen in unser Haus kamen. Briefe, die mit Exkrementen beschmiert waren, wurden in unseren Briefkasten gesteckt, was bedeutete, dass die Absender unser Haus kannten, und ein hartnäckiger Anrufer gab zu verstehen, dass er die täglichen Abläufe meiner Frau und meiner Kinder kenne und drohte, sie zu töten. Die Polizei, bei der ich mich ein Jahr zuvor beschwert hatte, empfahl als bestes Rezept, um den Drohungen ein Ende zu machen, ich solle meine politischen Ansichten ändern."

    Das tat Pappe nicht. Mittlerweile lehrt er im englischen Exeter. Er versucht weiter, die Friedensbewegung in seiner Heimat zu unterstützen, unter anderem mit einer naturgemäß umstrittenen Kampagne zum Boykottaufruf gegen Israel, und tritt für eine Einstaatenlösung ein. Seine Radikalität führt an einigen Stellen des Buches zu problematischen Bewertungen. So greift er auf den Begriff des Völkermords zurück. Ein Begriff, der in Vergangenheit und Gegenwart viel zu oft zur Legitimation einer bestimmten Politik angewandt wurde, ohne diesen Umstand genauer zu problematisieren.

    Auch der Rückgriff auf Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien, die selbst in ihrer Interpretation umstritten sind, trägt nicht gerade zur Klärung der Politik Israels bei. Pappes Positionierung wird aber wiederum durch die Isolation in der eigenen Gesellschaft erklärlich. Sie ist nicht Ausgangspunkt seiner historischen Forschung, sondern Ergebnis ihrer Resultate und vor allem ihrer Rezeption.

    Selbst wer Pappes historische Forschungen für tendenziös, irrelevant oder falsch einschätzt, der sollte durch die ausführlich beschriebene Reaktion der israelischen Gesellschaft nachdenklich werden. Wenn mit missliebigen Meinungen und ihren wissenschaftlichen Protagonisten so irrational und unsachlich umgegangen wird, wie mit Ilan Pappe, dann rührt seine Arbeit wohl am Kern der Wahrheit.