Archiv


Ist das Wenzhou-Modell am Ende?

Im Westen macht sich Panik breit: China sei auf dem Weg, zur größten Volkswirtschaft der Welt zu werden. Mit der Mischung aus niedrigen Löhnen und der Missachtung von Arbeits- und geistigen Eigentumsrechten überrunde das Land allmählich Wirtschaftsnationen wie die USA oder Deutschland, heißt es in ganzseitigen Leitartikeln.

    Es stimmt: Das Handelsdefizit mit den USA oder der EU steigt fast täglich zu Gunsten der Volksrepublik, weil chinesische Unternehmen zu Dumpingpreisen Spielzeug, Textilien, Schuhe und Elektrogeräte in alle Welt exportieren. Doch wie sieht es rund 25 Jahre nach Beginn der Reform- und Öffnungspolitik wirklich aus in Chinas Exportzentren?

    In blau-gelben Arbeitsanzügen sitzen junge Chinesinnen dicht an dicht in einer riesigen Werkshalle an Nähmaschinen der Marke "Golden Wheel". Sechs Tage die Woche steppen sie hier im ostchinesischen Wenzhou unter Neonlicht Nähte von Herrenanzügen und Krawatten. Wie ihre knapp 4.000 Kollegen arbeiten sie daran, dass aus einem fast unbekannten Privatunternehmen ein Weltkonzern mit Renommee wird. Knapp drei Millionen Anzüge nähen sie jedes Jahr. Landesweit werden die hochwertigen Textilien der Firma Fapai für umgerechnet 200 bis 800 Euro verkauft. Stolze Preise, wenn man bedenkt, dass die Arbeiterinnen durchschnittlich nur 70 bis 80 Euro im Monat verdienen.

    Fapai war einst eine kleine Schneiderei. Heute ist das Unternehmen ein Riesenbetrieb. In der Nähe des Flughafens von Wenzhou lässt Firmenchef Peng Xing sich gerade für 20 Millionen Euro den neuen Hauptsitz seiner Firma bauen. Das Verwaltungsgebäude gleicht einer Mischung aus italienischem Palazzo und dem Kapitol in Washington. Wenzhous Privatunternehmer sind zu Geld gekommen, Bildung haben sie in der Regel wenig genossen.

    Die einst schwer erreichbare Küstenstadt Wenzhou in der ostchinesischen Provinz Zhejiang, hat einen besonderen Menschenschlag hervorgebracht. Maos Frau, Jiang Qing, sprach einst vom Schwanz des Kapitalismus, der abgehackt werden müsse. Doch als Peking Ende der siebziger Jahre die ideologischen Fesseln lockerte und schrittweise die Privatwirtschaft zuließ, nutzten die Wenzhouer ihre Chance. Zehntausende Familien liehen von Freunden und Verwandten Geld zusammen und verlegten sich auf Produkte, die einfach herzustellen waren: Anfangs Knöpfe und Reißverschlüsse, später dann Lichtschalter, Batterien, Feuerzeuge, Schuhe und Kleidung. Auf diese Weise eroberten die Wenzhouer nicht nur den Binnenmarkt, sondern auch das Ausland, sagt Xie Hao, Stellvertretender Parteisekretär der Stadt.

    "Im Hochtechnologiesektor hatte Wenzhou ohne die Unterstützung der Regierung keine Chance. Daher hat man sich anders orientiert und eine fast komplette Produktionskette in der Textil und Lederindustrie aufgebaut. Inzwischen konnten wir einen ansehnlichen Anteil des Weltmarktes erobern. 80% aller Feuerzeuge weltweit stammen aus Wenzhou."

    Die Stadt mit ihren 7,5 Millionen Einwohnern ist weltweit zum Synonym für privates Unternehmertum geworden. Schätzungen der Bank of China zufolge, verfügen alle Wenzhouer zusammen über mehr als 30 Milliarden Euro. Damit ist Wenzhou nach der Sonderwirtschaftszone Shenzhen die reichste Stadt des Landes.

    Vor dem Gebäude der Firma Sundial steht ein nagelneuer, weißer BMW. Umgerechnet 48 000 Euro hat Cao Mingxuan für das schöne Stück bezahlt. Der 36-jährige produziert Markenschuhwerk im Auftrag ausländischer Unternehmen. Der Familienbetrieb beschäftigt 800 Menschen, die Schuhe für große Discounter in Westeuropa herstellen. Aufträge verschafft sich der Unternehmer auf Messen in Spanien, Italien oder Deutschland.

    Junge Frauen schneiden Sohlen zu und verkleben sie mit rotem Kunstleder. Von sieben Uhr morgens bis abends um neun werden hier täglich 7.000 Paar Schuhe hergestellt. Die Arbeiter, von denen die meisten jünger als 20 sind, verdienen umgerechnet 100 Euro pro Monat. Im vergangenen Jahr machte Sundial zehn Millionen US$ Umsatz. Dieses Jahr will Unternehmer Cao 30 Prozent mehr erreichen, denn seit die EU-Einfuhrquoten aufgehoben wurden, kann er auch Lederschuhe herstellen. Seit kurzem ist er dabei, ein Zweigwerk in Chinas Inlandsprovinz Hubei aufzubauen.

    "An der Küste werden die Arbeitskräfte zu teuer. Ich schaffe mir ein zweites Standbein im Inland."
    Nach dem Frühlingsfest seien 20 Prozent aller Arbeiter nicht zurückgekommen, klagt Manager Cao Mingxuan.

    "Ich denke, dass der Arbeitskräftemangel ein immer größeres Problem für Wenzhou wird, nicht nur für die Schuhindustrie sondern auch für andere Branchen. Die meisten Arbeiter, die in der Küstenregion tätig sind, kommen von auswärts. Aber nun entwickeln sich auch die Inlandsprovinzen, und der Lebensstandard steigt. Mehr und mehr Unternehmen siedeln sich im Landesinneren an. Das heißt die Leute haben kein Problem mehr, vor Ort einen Job zu finden. Wenn ein Arbeiter bei uns 1.000 Yuan im Monat verdient und dort 600, dann wird er vermutlich in seiner Heimat bleiben, weil er dort weniger braucht."

    Unternehmer wie Cao sind in der EU gefürchtet. Seit die Exportquoten für Kleidung am 1. Januar gefallen sind, verfolgen die USA und Europa nervös, wie spottbillige Massentextilien und Schuhe aus China ihre Märkte ruinieren. Vergangenen September zündete eine aufgebrachte Menge in der spanischen Schuhhauptstadt Elche Lager eines chinesischen Schuhhändlers an. Der Fall schlug politisch Wellen, Chinas Außenministerium intervenierte bei der spanischen Regierung. Auch in Tschechien wurde gegen die Chinesen gewütet, dabei sind es europäische Markenfirmen, die ihre Produktion nach Asien verlagert haben. Die ganze Welt lässt heute in China Schuhe produzieren. Zwei Millionen Chinesen haben im vergangenen Jahr rund sieben Milliarden Paar Schuhe hergestellt, 60% des Weltmarktanteils. Von Dumping oder Subventionen könne keine Rede sein. Ihnen bliebe nur der Arbeitslohn, sagt Zhou Jinmiao, Vizechef der Firma Kangnai – dem zweitgrößten Schuhhersteller Wenzhous.

    "Ich kann sagen, dass wir angesichts der niedrigen Preise am Export so gut wie nichts mehr verdienen. Warum wir es dann trotzdem machen? Wir müssen uns dem immer härter werdenden Wettbewerb stellen."

    Kangnai produziert für Bata, Lloyd und Pierre Cardin. Für 40 US-Dollar gibt die Firma das Paar feinste Lederschuhe an den Auftraggeber weiter. In den USA kosten die Schuhe nicht selten das Sechsfache. Möglich ist dies nur, weil internationale Arbeitsschutzbestimmungen kontinuierlich unterlaufen werden. Die meisten jungen Chinesen, die auf der Suche nach Arbeit in der hässlichen Industriestadt gelandet sind, verdienen nicht mehr als 70 Euro im Monat. Dafür riskieren sie ihre Gesundheit. Viele erkranken an den giftigen Dämpfen der Kleber und Lacke oder verletzen sich an Maschinen. Wang Lin hat im Auftrag der International Labour Organisation die Arbeitsbedingungen untersucht und dringt auf die Einhaltung sozialer Mindeststandards.

    "Überstunden sind quasi in allen Fabriken der Fall. Das heißt 12, 14, 16-Stunden-Tage sind sehr verbreitet. In einigen Fällen sogar mal 20 Stunden am Stück. Das sind natürlich die Extremfälle, aber Überstunden, ohne Pause sind durchaus üblich."

    Wenzhou sucht nach einem Ausweg aus der Sackgasse der Billigproduktion. Auf Plakatwänden entlang der sechsspurigen Schnellstraße zum Wenzhouer Flughafen wirbt der Herrenmoderhersteller SharMoon mit James Bond-Darsteller Pierce Brosnan. Das Unternehmen hat sich mit der italienischen Edelmarke Zegna zusammengetan. Mit Hilfe ausländischer Partner versuchen einzelne Firmen einen Entwicklungssprung zu schaffen. Von der Qualifizierung ihrer Mitarbeiter ist die Rede, eigenem Design und besserer Produktqualität. Sie wissen, dass dies ihre einzige Überlebenschance ist, so der 30-jährige Chen Xiqiang, Chef der Ausstellungsgesellschaft Donner, die im neuen Messezentrum der Stadt internationale Schuhmessen organisiert.

    "Zwei Drittel der Schuhfabriken in Wenzhou wird es in fünf Jahren nicht mehr geben, Wenzhous Billigproduzenten werden nach und nach ins Inland abwandern, so wie die großen es längst vorgemacht haben – wie Kangnai und Aokang, die in Sichuan Fabriken aufgebaut haben. In Wenzhou werden nur die Qualitätshersteller überleben."

    Eigene Marken schaffen, lautet die neue Zauberformel – und das, bevor westliche Produkte die chinesischen Märkte überschwemmen, für die Chinas Mittelschicht längst bereit ist zu zahlen. Nur wenn es Unternehmen wie Aokang und Kangnai gelingt, die Wertschöpfung ihrer Produkte zu erhöhen, werden sie auch in einigen Jahren noch als Stoff für Erfolgsgeschichten taugen.