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Ist die Rhythmische Sportgymnastik überhaupt objektiv bewertbar?

Sehr bewegliche junge Frauen werfen zu dramatischer Musik wahlweise Bänder, Reifen oder Keulen in die Luft. Das ist gemeinhin das Bild von Rhythmischer Sportgymnastik. Bei Olympischen Spielen ist sie äußerst beliebt. Aber jetzt hat sie einen Manipulationsskandal zu verarbeiten, dessen Ausmaße mehr als bemerkenswert sind.

Von Sandra Schmidt | 03.08.2013
    "Fantastisch von Italien und doch so hart bestraft von den Kampfrichtern"– so der US-amerikanische Live-Kommentar des Olympischen Gruppenfinals der Rhythmischen Sportgymnastik 2008 in Peking. Doch Italien blieb ohne Medaille und damals sprachen viele Experten offen von Schiebung und Absprachen im Vorfeld. Nicht zum ersten Mal. Die Sportart steht außerdem grundsätzlich im Verdacht, überhaupt nicht objektiv bewertbar zu sein.

    Doch das, was nun geschehen ist, hat eine andere Dimension, denn es geht hier nicht um den ein oder anderen verschobenen Wettbewerb, es geht um systematischen Betrug, der vom obersten Gremium der Rhythmischen Sportgymnastik ausging, dem Technischen Komitee. Dieses Gremium ist laut Statuten für den rechtmäßigen Ablauf aller internationalen Wettbewerbe und auch für die Ausbildung der Juroren verantwortlich. Beim zentralen Ausbildungskurs für den neuen Olympiazyklus, der im November in Bukarest stattfand, wurden die Prüfungsergebnisse offenbar massiv manipuliert. Der Präsident des Weltturnverbandes Bruno Grandi erklärt:

    " Wer hat da profitiert? Die Freunde, dann die Freunde der Freunde – Du bist meine Freundin, ich gebe Dir! Sie haben mir gesagt, dass es so ist und das hat sich ausgebreitet wie ein Ölfleck. "

    Zehn Prozent der 117 Prüflinge hatten in der Bewertung von per Video eingespielten Übungen exakt jene Punktzahl für den Schwierigkeitswert getroffen, den das Technische Komitee als Idealwert festgelegt hatte. Genau dieser Umstand machte Grandi stutzig, denn seit vielen Jahren erklärten ihm die Expertinnen, dass die exakte Bestimmung der Schwierigkeitsnote quasi unmöglich sei. In der Praxis von Wettkämpfen hatte das Komitee folglich zu Grandis Ärgernis immer eine große Abweichung von diesem Idealwert zugelassen. In der Prüfung hingegen war jetzt plötzlich alles ganz anders. Bruno Grandi:

    " Sie haben immer die richtige Note gegeben, immer die Richtige! Bei der letzten WM wurde bei 480 Übungen der Wert nur zwei Mal getroffen und jetzt? In allen Prüfungen, in allen und das nicht nur für eine Übung, bei allen Übungen! "

    Hatte ein Teil der Prüfungskandidaten die Antworten im Vorfeld gekannt? Eine interne Disziplinarkommission wurde eingesetzt und kam unter anderem zu genau diesem Schluss. Sie forderte die schriftlichen Prüfungsunterlagen vom Technischen Komitee an, doch diese waren verschwunden – und blieben es. Die Kommission fand weitere Verstöße gegen die Regularien: Die Prüfungsbogen waren offenbar nicht anonymisiert. Und vor allem hat das Technische Komitee bei der Auswertung nicht rechtmäßige Bonuspunkte vergeben, und zwar offenbar mit dem Ziel, die Ergebnisse bestimmter Kampfrichterinnen zu verbessern und sie somit in den Pool für Rio 2016 zu hieven. Als Konsequenz wurden nun sechs der sieben Mitglieder des Komitees bis Ende 2014 suspendiert, der damaligen Präsidentin Maria Szyszkowska aus Polen wurde gar die goldene Ehrenmitgliedschaft des Weltverbandes wieder entzogen.

    DTB-Präsident Rainer Brechtken nennt die harten Sanktionen einen "Warnschuss". Er unterstützt die Entscheidungen der Disziplinarkommission und formuliert zur grundsätzlichen Frage der Bewertbarkeit der Sportgymnastik:

    " Nun, solche Sportarten haben immer ein gewisses Problem, weil ich natürlich dort auch die ästhetischen Fragen, die Fragen Musikalität, die Fragen künstlerische Seite und das ist auch wichtig, dass man die beinhaltet, ist natürlich immer einer gewissen Subjektivität zugänglich. "

    Aber wo verläuft die Grenze zwischen einer "gewissen Subjektivität" und einer mit objektiv nachvollziehbaren Kriterien schlicht nicht mehr zu bewertenden künstlerischen Aufführung? Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Bemühungen des Internationalen Olympischen Komitees, die Anzahl der Sportler bei den Sommerspielen zu reduzieren, kann der Weltverband weder Debatten um Absprachen und Manipulation noch jene der grundsätzlichen Bewertbarkeit gebrauchen. Das weiß auch Präsident Bruno Grandi. Es mag ein Motiv dafür sein, dass der Weltverband den Skandal selbst per Pressemitteilung an die Öffentlichkeit brachte – zumindest ein Paradebeispiel an Transparenz. Dem Präsidenten fehlt es nicht an klaren Worten:

    "So lange es keine Rechtmäßigkeit der Bewertungen gibt, die garantiert, dass das Ergebnis zu 99 Prozent, sagen wir zu 90 Prozent gültig ist, so lange wird dieser Sport niedergehen, er wird von alleine sterben. "

    Die Ergebnisse der abgehaltenen Kampfrichterkurse wurden übrigens komplett annulliert. Das heißt: Momentan gibt es keine Kampfrichterinnen mit einer gültigen Lizenz. Aber in gut drei Wochen steht die diesjährige WM an. Aus purer Not hat der Weltverband also vor kurzem einen Ersatzkurs abgehalten und zwar unter strenger Aufsicht von Hauptamtlichen aus der Lausanner Zentrale. Alle Prüflinge von Bukarest mussten dort erneut antreten, jene, die betrogen haben und – wegen der zahlreichen Unregelmäßigkeiten – auch jene, die betrogen wurden. Man darf also in jeder Hinsicht gespannt sein, was die WM bringt.