Dirk-Oliver Heckmann: Zunächst hatte Günther Oettinger wohl noch gedacht, es sei getan mit seinem offenen Brief vom Samstag. Darin hatte er bedauert, dass es zu Missverständnissen gekommen sei. Bei seiner Trauerrede für den verstorbenen ehemaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, dem ehemaligen Marinerichter, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges an mehreren Todesurteilen gegen Wehrmacht-Deserteure beteiligt war, hatte Oettinger in der vergangenen Woche als Gegner des NS-Regimes bezeichnet, der nicht über den Bewegungsspielraum verfügt habe, wie es ihm unterstellt werde. Doch nach dem öffentlichen Rüffel durch Bundeskanzlerin Merkel und der anhaltenden Debatte war ihm wohl klar: Damit ist es nicht getan. Nun gab Oettinger der "Bild"-Zeitung ein Interview, in dem er sich entschuldigte.
Am Telefon ist jetzt Wolfgang Thierse, Bundestagsvizepräsident von der SPD. Guten Tag, Herr Thierse!
Wolfgang Thierse: Guten Tag!
Heckmann: Herr Thierse, von Kritikern ist allenthalben davon die Rede, dass es sich um eine aufgeblasene oder gar hysterische Debatte handele. Wird der Wirbel um Günther Oettinger nicht tatsächlich ein wenig übertrieben?
Thierse: Das vermute ich nicht, denn es ist schon eine höchst befremdliche, beunruhigende Äußerung, die Ministerpräsident Oettinger da in seiner Gedenkrede von sich gegeben hat.
Heckmann: Aber er hat sich ja guten Glaubens, wie er sagt, an die Trauergemeinde gerichtet und versucht, das Leben und Wirken von Filbinger zu würdigen.
Thierse: Dagegen ist ja nichts einzuwenden. Und der alte Satz "über Tote nur Gutes" mag ja gelten. Aber was er da vorgenommen hat, ist eine Uminterpretation von Geschichte. Jemand der ein Mitläufer war, ein Mittäter war, umzustilisieren zu einem Gegner des Nazi-Regimes, das ist eben mehr als das, was man an einem Grabe sagen muss. Da hat ein Ministerpräsident den Konsens der deutschen Demokraten aufgekündigt, nämlich die entschiedene unzweideutige Absage an das Nazi-Regime.
Heckmann: Oettinger sagt jetzt, er oder seine Rede sei falsch verstanden worden, zumindest nicht so verstanden worden, wie er sie gemeint hat.
Oettinger: Indem er das so sagt, habe ich sehr große Zweifel daran, dass er überhaupt eine Entschuldigung formuliert hat, denn er hat ja noch zwei, drei Stunden vorher gesagt, und wie ich Ihrem Bericht entnommen habe auch heute Früh noch, dass Filbinger Nazi-Gegner war. Also wir haben nichts missverstanden. Es bleibt bei dem entscheidenden Satz. Er hat eine Uminterpretation vorgenommen, und die hat er nicht zurückgenommen. Wieso reden da eigentlich Menschen von einer Entschuldigung, die Herr Oettinger vorgetragen habe? Ich kann das nicht sehen.
Heckmann: Er hat insofern seine Position relativiert, indem er gesagt und klargestellt hat, Filbinger sei ein Mensch mit innerer Distanz zum Regime. Ist es nicht legitim, zu einer solchen Einschätzung zu kommen?
Thierse: Man kann zu einer solchen Einschätzung kommen, aber ist er dann Nazi-Gegner, wenn er als Staatsanwalt an einem Todesurteil beteiligt war? Wir wissen aus der Forschung, es ist uns noch einmal bestätigt worden, dass keinem Juristen etwas geschehen ist, wenn er sich geweigert hat, an Todesurteilen mitzuwirken. Herr Filbinger hat sich noch gewissermaßen eine Minute nach Zwölf an einem solchen Todesurteil beteiligt. Wie kann man dann davon sprechen, dass er eine innere Distanz hat?
Ich habe nichts dagegen, dass man seine Leistungen in den 50er und 60er Jahren als Ministerpräsident würdigt. Herr Oettinger war aber nicht gezwungen, diese Uminterpretation von Geschichte vorzunehmen.
Heckmann: Filbinger hat sich an einem Todesurteil beteiligt, Filbinger, allerdings in der Funktion als Vertreter der Anklage. Jetzt hat Ministerpräsident Oettinger noch mal gesagt, in dieser Funktion habe er keinen Ermessensspielraum gehabt. Das sei juristisch korrekt gewesen.
Thierse: Also noch einmal: Das ist genau die Uminterpretation. Wir wissen aus den Forschungen zur Nazi-Zeit, dass es keinen Fall gibt, wo ein Jurist, Richter oder Staatsanwalt, Konsequenzen zu ertragen hatte, wenn er sich geweigert hat, an einem solchen Urteil mitzuwirken. Der Staatsanwalt Filbinger hätte sich anders verhalten können. Im Nachhinein zu sagen, es sei alternativlos gewesen, genau das ist etwas, was ich für empörend halte.
Heckmann: Muss man das Verhalten von Filbinger juristisch oder doch eher vielleicht moralisch beurteilen?
Thierse: Man muss es moralisch beurteilen, und genau darum geht es. Da hilft auch nichts, wenn man auf eine juristische Konstellation hinweist. Das ist doch das Problem, dass Filbinger uns im Gedächtnis geblieben ist als der Mann, der gesagt hat, was früher, also zu Nazi-Zeiten, rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein. Einen Mann mit diesem notorisch guten Gewissen genau dafür zu belobigen, genau das ist das, was so viele Menschen auch heute immer noch verständlicherweise aufregt.
Heckmann: Oettinger hat in der "Bild"-Zeitung in dem heute veröffentlichten Interview um Entschuldigung gebeten, falls er die Gefühle der Opfer verletzt haben sollte. Für Sie ist die Sache, wenn ich Sie richtig verstanden habe, nicht erledigt?
Thierse: Ist es denn wirklich eine Entschuldigung gewesen? Ich glaube das nicht. Wer davon spricht, dass es sich um Missverständnisse handelt, um Verletzung von Gefühlen, der begreift nicht, dass er da einen fatal falschen Satz gesagt hat, und den muss Herr Oettinger korrigieren. Das ist mein Wunsch. Danach wird die Sache erledigt sein, aber bevor er diesen eigentlichen Satz nicht korrigiert, sondern von Missverständnissen, von verletzten Gefühlen anderer spricht und nicht davon, was er wirklich gesagt hat, so lange ist die Sache nicht aus der Welt.
Heckmann: Herr Thierse, Grünen-Chefin Claudia Roth sagte im Fernsehsender N24 heute früh, Oettingers Äußerungen seien Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen. Sie frage sich, wie so jemand Ministerpräsident sein könne. Fragen Sie sich das auch?
Thierse: Ich bin kein Mann von allzu flotten Rücktrittsforderungen. Es ist eine Sache, die in der CDU diskutiert wird. Wenn man sieht, dass Herr Brunnhuber, der Vorsitzende der Landesgruppe der baden-württembergischen CDU-Bundestagsabgeordneten, dass andere Mitglieder der CDU Herrn Oettingers Äußerung ausdrücklich unterstützt haben, dann bemerkt man, es geht gar nicht nur um einen individuellen Fall. Da wird eine Stimmung artikuliert, eine politische Meinung bezogen, auf Geschichte artikuliert. Das ist eher ein beunruhigender Vorgang. Da hat die CDU schon noch ein Diskussionsproblem in den eigenen Reihen.
Heckmann: Wolfgang Thierse war das, Bundestagsvizepräsident von der SPD. Herr Thierse, besten Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Thierse: Auf Wiederhören.
Am Telefon ist jetzt Wolfgang Thierse, Bundestagsvizepräsident von der SPD. Guten Tag, Herr Thierse!
Wolfgang Thierse: Guten Tag!
Heckmann: Herr Thierse, von Kritikern ist allenthalben davon die Rede, dass es sich um eine aufgeblasene oder gar hysterische Debatte handele. Wird der Wirbel um Günther Oettinger nicht tatsächlich ein wenig übertrieben?
Thierse: Das vermute ich nicht, denn es ist schon eine höchst befremdliche, beunruhigende Äußerung, die Ministerpräsident Oettinger da in seiner Gedenkrede von sich gegeben hat.
Heckmann: Aber er hat sich ja guten Glaubens, wie er sagt, an die Trauergemeinde gerichtet und versucht, das Leben und Wirken von Filbinger zu würdigen.
Thierse: Dagegen ist ja nichts einzuwenden. Und der alte Satz "über Tote nur Gutes" mag ja gelten. Aber was er da vorgenommen hat, ist eine Uminterpretation von Geschichte. Jemand der ein Mitläufer war, ein Mittäter war, umzustilisieren zu einem Gegner des Nazi-Regimes, das ist eben mehr als das, was man an einem Grabe sagen muss. Da hat ein Ministerpräsident den Konsens der deutschen Demokraten aufgekündigt, nämlich die entschiedene unzweideutige Absage an das Nazi-Regime.
Heckmann: Oettinger sagt jetzt, er oder seine Rede sei falsch verstanden worden, zumindest nicht so verstanden worden, wie er sie gemeint hat.
Oettinger: Indem er das so sagt, habe ich sehr große Zweifel daran, dass er überhaupt eine Entschuldigung formuliert hat, denn er hat ja noch zwei, drei Stunden vorher gesagt, und wie ich Ihrem Bericht entnommen habe auch heute Früh noch, dass Filbinger Nazi-Gegner war. Also wir haben nichts missverstanden. Es bleibt bei dem entscheidenden Satz. Er hat eine Uminterpretation vorgenommen, und die hat er nicht zurückgenommen. Wieso reden da eigentlich Menschen von einer Entschuldigung, die Herr Oettinger vorgetragen habe? Ich kann das nicht sehen.
Heckmann: Er hat insofern seine Position relativiert, indem er gesagt und klargestellt hat, Filbinger sei ein Mensch mit innerer Distanz zum Regime. Ist es nicht legitim, zu einer solchen Einschätzung zu kommen?
Thierse: Man kann zu einer solchen Einschätzung kommen, aber ist er dann Nazi-Gegner, wenn er als Staatsanwalt an einem Todesurteil beteiligt war? Wir wissen aus der Forschung, es ist uns noch einmal bestätigt worden, dass keinem Juristen etwas geschehen ist, wenn er sich geweigert hat, an Todesurteilen mitzuwirken. Herr Filbinger hat sich noch gewissermaßen eine Minute nach Zwölf an einem solchen Todesurteil beteiligt. Wie kann man dann davon sprechen, dass er eine innere Distanz hat?
Ich habe nichts dagegen, dass man seine Leistungen in den 50er und 60er Jahren als Ministerpräsident würdigt. Herr Oettinger war aber nicht gezwungen, diese Uminterpretation von Geschichte vorzunehmen.
Heckmann: Filbinger hat sich an einem Todesurteil beteiligt, Filbinger, allerdings in der Funktion als Vertreter der Anklage. Jetzt hat Ministerpräsident Oettinger noch mal gesagt, in dieser Funktion habe er keinen Ermessensspielraum gehabt. Das sei juristisch korrekt gewesen.
Thierse: Also noch einmal: Das ist genau die Uminterpretation. Wir wissen aus den Forschungen zur Nazi-Zeit, dass es keinen Fall gibt, wo ein Jurist, Richter oder Staatsanwalt, Konsequenzen zu ertragen hatte, wenn er sich geweigert hat, an einem solchen Urteil mitzuwirken. Der Staatsanwalt Filbinger hätte sich anders verhalten können. Im Nachhinein zu sagen, es sei alternativlos gewesen, genau das ist etwas, was ich für empörend halte.
Heckmann: Muss man das Verhalten von Filbinger juristisch oder doch eher vielleicht moralisch beurteilen?
Thierse: Man muss es moralisch beurteilen, und genau darum geht es. Da hilft auch nichts, wenn man auf eine juristische Konstellation hinweist. Das ist doch das Problem, dass Filbinger uns im Gedächtnis geblieben ist als der Mann, der gesagt hat, was früher, also zu Nazi-Zeiten, rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein. Einen Mann mit diesem notorisch guten Gewissen genau dafür zu belobigen, genau das ist das, was so viele Menschen auch heute immer noch verständlicherweise aufregt.
Heckmann: Oettinger hat in der "Bild"-Zeitung in dem heute veröffentlichten Interview um Entschuldigung gebeten, falls er die Gefühle der Opfer verletzt haben sollte. Für Sie ist die Sache, wenn ich Sie richtig verstanden habe, nicht erledigt?
Thierse: Ist es denn wirklich eine Entschuldigung gewesen? Ich glaube das nicht. Wer davon spricht, dass es sich um Missverständnisse handelt, um Verletzung von Gefühlen, der begreift nicht, dass er da einen fatal falschen Satz gesagt hat, und den muss Herr Oettinger korrigieren. Das ist mein Wunsch. Danach wird die Sache erledigt sein, aber bevor er diesen eigentlichen Satz nicht korrigiert, sondern von Missverständnissen, von verletzten Gefühlen anderer spricht und nicht davon, was er wirklich gesagt hat, so lange ist die Sache nicht aus der Welt.
Heckmann: Herr Thierse, Grünen-Chefin Claudia Roth sagte im Fernsehsender N24 heute früh, Oettingers Äußerungen seien Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen. Sie frage sich, wie so jemand Ministerpräsident sein könne. Fragen Sie sich das auch?
Thierse: Ich bin kein Mann von allzu flotten Rücktrittsforderungen. Es ist eine Sache, die in der CDU diskutiert wird. Wenn man sieht, dass Herr Brunnhuber, der Vorsitzende der Landesgruppe der baden-württembergischen CDU-Bundestagsabgeordneten, dass andere Mitglieder der CDU Herrn Oettingers Äußerung ausdrücklich unterstützt haben, dann bemerkt man, es geht gar nicht nur um einen individuellen Fall. Da wird eine Stimmung artikuliert, eine politische Meinung bezogen, auf Geschichte artikuliert. Das ist eher ein beunruhigender Vorgang. Da hat die CDU schon noch ein Diskussionsproblem in den eigenen Reihen.
Heckmann: Wolfgang Thierse war das, Bundestagsvizepräsident von der SPD. Herr Thierse, besten Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Thierse: Auf Wiederhören.