Noch heute erscheint das Turnen eigenartig: Bei Wettkämpfen marschieren drahtige Männer im Gleichschritt in die Halle und heben auf irritierende Art und Weise ihren gestreckten Arm zum Gruß der Kampfrichter. Turner werden in Riegen eingeteilt und Deutschland ist immer noch in Gaue aufgeteilt, Turn-Gaue wohlgemerkt. Der Umstand, dass das Turnen bis heute so anders wirkt als alle anderen Sportarten ist seiner Geschichte geschuldet:
Denn zuerst war das Turnen. Zuerst war Friedrich Ludwig Jahn: Im Juni 1811 eröffnete auf der Berliner Hasenheide der erste Turnplatz. Jahn übernahm einen Großteil der Übungen und Spiele von dem Philanthropen GutsMuths, der diese in privaten Lehranstalten unterrichtet und Gymnastik genannt hatte. Die revolutionäre Neuerung von Jahns Turnplatz bestand in seiner Öffentlichkeit: das Gelände stand Männern aller Schichten und jeden Alters offen. Jahn und seine Mitstreiter verteilten Ledermarken als Zeichen der Zugehörigkeit, und verordneten der Gemeinschaft eine egalitäre Kleidung.
Primäres Ziel dieser patriotischen Bewegung war es, eine paramilitärische Reserve-Armee zu rekrutieren. So die Historikerin Christiane Eisenberg. Das Feindbild war Frankreich. Die Männer turnten und kämpften im Geiste der noch nicht vollendeten Nation. Militärischer Drill jedoch war verpönt. Der Romantiker Jahn wollte Geist und Körper auf spielerischem Wege mit Ehrgeiz und Selbstdisziplin versehen. Gymnasialdirektor Bernardi berichtet 1818 über das Turnen:
"Einseitigkeit, Intoleranz gegen entgegen gesetzte Ansichten, Leidenschaftlichkeit, Übereilung, Verstöße gegen feineres Gefühl, gegen konventionelle Formen; dass aber alles dieses so gut wie gar nicht in Betracht kommt gegen die Tüchtigkeit zur Sache, gegen den Eifer, mit welchem Jahn sie trieb."
Den einen galt Jahn als charismatischer Anführer, den anderen als chaotischer Aufrührer, Marx nannte ihn den "Turnwüterich". Sein Wirken endete jäh als er 1819 verhaftet und das vaterländische Turnen verboten wurde. Nach der Rehabilitierung 1842 wurden besonders in Süddeutschland zahlreiche Vereine gegründet, die sich gleichermaßen um Turnen und um Politik kümmerten. Die demokratischen Turner unterlagen in der Revolution und auch innerhalb der Turnbewegung. Diese war spätestens seit der Reichsgründung von einer national-emanzipatorischen zu einer nationalistischen Bewegung geworden.
Dann kam der Sport nach Deutschland, aus der Industrienation England, wo das Rudern, das Fußball- oder das Tennisspiel längst populär waren. Sport bedeutete Leistung und Konkurrenz, Wettkampf und Internationalität. Nichts, was den Turnern gefiel. Nach dem Historiker Hajo Bernett war "der Sport dem volkstumsbewussten Turner ein fremder Eindringling, eine unerwünschte Importware. Man unterstelle ihm eine undeutsche Wesensart von verführerischer Attraktivität."
Besonders das populäre Fußballspiel hatte es den Turnern angetan: Angesichts eines Spiels mit 45.000 Zuschauern notiert Franz Wiedemann 1921:
"22 Spieler sind auf dem Felde, bei denen nicht einmal einwandfrei erwiesen ist, ob Liebe zur Sache oder das Geld in irgendeiner Form sie treibt. Wäre nicht das ungekehrte Verhältnis, volkserzieherisch betrachtet, viel erfreulicher und wertvoller? 45.000 Spieler und 22 Zuschauer, das ist ein wahres und edles Ziel, aber nicht die Verfallserscheinung gewaltiger Zuschauermengen."
Mit einem Schuss Ironie kommentiert dies heute Holger Albrecht, Chef der deutschen Kampfrichter:
"Es gibt ja große Diskrepanzen in den Sportarten untereinander und der Kampf wie vom Jahn gegen den Fußball ist sicherlich auch jetzt noch im Kleinen ein Kampf, dass wir versuchen, unsere Sportart in den Medien zu präsentieren."
Die Deutsche Turnerschaft wehrte sich auch gegen die Idee der modernen Olympischen Spiele. Ferdinand Goetz, damals ihr Vorsitzender, im Vorfeld der Spiele 1896:
"Das von Franzosen und Südamerikanern, Griechen und sonstigen interessanten Herren entworfene Programm beweist, dass die Welt sich in diesen Köpfen mindestens anders als in deutschen spiegelt. [...] ihre Kraftmeierei, wie sie in dem Athletentum zum Ausdruck kommt, ist uns ebenso zuwider wie die Einseitigkeit in allen anderen Sports. Nach Olympia gehen wir nicht!"
Der bis heute letzte Versuch, sich gegen die Entwicklung der Sportart Turnen zu wehren, geht auf die Frauen im Deutschen Turner-Bund zurück: 1954 beschlossen sie, die internationalen Wettbewerbe zu boykottieren: Ihr Credo war: "Alles Leistungsstreben muss der turnerischen Idee untergeordnet bleiben!" Und diese Idee sah für die deutschen Frauen eine Gymnastik vor, die "beschwingt, organisch, frohmachend und gemeinschaftsbindend" sein sollte. Die Frauenwartin Grete Busch war überzeugt: "Das Turnen wurzelt tief im Deutschen Volkstum".
Tatsächlich ist denn auch die Entwicklung des internationalen Turnens seit den 50er Jahren nicht von Deutschen bestimmt worden. Neue Elemente, perfekte Darbietungen und wissenschaftliche Erkenntnisse kamen und kommen mehrheitlich aus Japan, China und der Sowjetunion.
So ist denn nur folgerichtig, dass Jahn für die heute Verantwortlichen kaum mehr eine Rolle spielt. Bundestrainer Andreas Hirsch:
"Ich seh' mich aber heute in der Situation in meiner Aufgabe nur in zweiter Linie direkt mit Jahn konfrontiert, also die Spitzenleistung heute hat sicher wenig damit zu tun, über wie viel Pferde man früher gesprungen ist."
Ähnlich Ursula Koch, Cheftrainerin der deutschen Frauen auf die Frage, ob das Turnen heute noch etwas mit Jahn zu tun habe:
"Nein, gar nicht mehr. Wir sind so hoch modernisiert, so technologisiert und so wissenschaftlich unterlegt, dass man, glaube ich, keine Gemeinsamkeiten mehr finden kann."
Spezifisch deutsche Elemente sehen beide Trainer im heutigen Turnen nicht. So mag Friedrich Ludwig Jahn zwar in diesen Tagen in Aller Munde sein, mit der olympischen Sportart Turnen allerdings haben seine Übungen nichts mehr gemein.
Denn zuerst war das Turnen. Zuerst war Friedrich Ludwig Jahn: Im Juni 1811 eröffnete auf der Berliner Hasenheide der erste Turnplatz. Jahn übernahm einen Großteil der Übungen und Spiele von dem Philanthropen GutsMuths, der diese in privaten Lehranstalten unterrichtet und Gymnastik genannt hatte. Die revolutionäre Neuerung von Jahns Turnplatz bestand in seiner Öffentlichkeit: das Gelände stand Männern aller Schichten und jeden Alters offen. Jahn und seine Mitstreiter verteilten Ledermarken als Zeichen der Zugehörigkeit, und verordneten der Gemeinschaft eine egalitäre Kleidung.
Primäres Ziel dieser patriotischen Bewegung war es, eine paramilitärische Reserve-Armee zu rekrutieren. So die Historikerin Christiane Eisenberg. Das Feindbild war Frankreich. Die Männer turnten und kämpften im Geiste der noch nicht vollendeten Nation. Militärischer Drill jedoch war verpönt. Der Romantiker Jahn wollte Geist und Körper auf spielerischem Wege mit Ehrgeiz und Selbstdisziplin versehen. Gymnasialdirektor Bernardi berichtet 1818 über das Turnen:
"Einseitigkeit, Intoleranz gegen entgegen gesetzte Ansichten, Leidenschaftlichkeit, Übereilung, Verstöße gegen feineres Gefühl, gegen konventionelle Formen; dass aber alles dieses so gut wie gar nicht in Betracht kommt gegen die Tüchtigkeit zur Sache, gegen den Eifer, mit welchem Jahn sie trieb."
Den einen galt Jahn als charismatischer Anführer, den anderen als chaotischer Aufrührer, Marx nannte ihn den "Turnwüterich". Sein Wirken endete jäh als er 1819 verhaftet und das vaterländische Turnen verboten wurde. Nach der Rehabilitierung 1842 wurden besonders in Süddeutschland zahlreiche Vereine gegründet, die sich gleichermaßen um Turnen und um Politik kümmerten. Die demokratischen Turner unterlagen in der Revolution und auch innerhalb der Turnbewegung. Diese war spätestens seit der Reichsgründung von einer national-emanzipatorischen zu einer nationalistischen Bewegung geworden.
Dann kam der Sport nach Deutschland, aus der Industrienation England, wo das Rudern, das Fußball- oder das Tennisspiel längst populär waren. Sport bedeutete Leistung und Konkurrenz, Wettkampf und Internationalität. Nichts, was den Turnern gefiel. Nach dem Historiker Hajo Bernett war "der Sport dem volkstumsbewussten Turner ein fremder Eindringling, eine unerwünschte Importware. Man unterstelle ihm eine undeutsche Wesensart von verführerischer Attraktivität."
Besonders das populäre Fußballspiel hatte es den Turnern angetan: Angesichts eines Spiels mit 45.000 Zuschauern notiert Franz Wiedemann 1921:
"22 Spieler sind auf dem Felde, bei denen nicht einmal einwandfrei erwiesen ist, ob Liebe zur Sache oder das Geld in irgendeiner Form sie treibt. Wäre nicht das ungekehrte Verhältnis, volkserzieherisch betrachtet, viel erfreulicher und wertvoller? 45.000 Spieler und 22 Zuschauer, das ist ein wahres und edles Ziel, aber nicht die Verfallserscheinung gewaltiger Zuschauermengen."
Mit einem Schuss Ironie kommentiert dies heute Holger Albrecht, Chef der deutschen Kampfrichter:
"Es gibt ja große Diskrepanzen in den Sportarten untereinander und der Kampf wie vom Jahn gegen den Fußball ist sicherlich auch jetzt noch im Kleinen ein Kampf, dass wir versuchen, unsere Sportart in den Medien zu präsentieren."
Die Deutsche Turnerschaft wehrte sich auch gegen die Idee der modernen Olympischen Spiele. Ferdinand Goetz, damals ihr Vorsitzender, im Vorfeld der Spiele 1896:
"Das von Franzosen und Südamerikanern, Griechen und sonstigen interessanten Herren entworfene Programm beweist, dass die Welt sich in diesen Köpfen mindestens anders als in deutschen spiegelt. [...] ihre Kraftmeierei, wie sie in dem Athletentum zum Ausdruck kommt, ist uns ebenso zuwider wie die Einseitigkeit in allen anderen Sports. Nach Olympia gehen wir nicht!"
Der bis heute letzte Versuch, sich gegen die Entwicklung der Sportart Turnen zu wehren, geht auf die Frauen im Deutschen Turner-Bund zurück: 1954 beschlossen sie, die internationalen Wettbewerbe zu boykottieren: Ihr Credo war: "Alles Leistungsstreben muss der turnerischen Idee untergeordnet bleiben!" Und diese Idee sah für die deutschen Frauen eine Gymnastik vor, die "beschwingt, organisch, frohmachend und gemeinschaftsbindend" sein sollte. Die Frauenwartin Grete Busch war überzeugt: "Das Turnen wurzelt tief im Deutschen Volkstum".
Tatsächlich ist denn auch die Entwicklung des internationalen Turnens seit den 50er Jahren nicht von Deutschen bestimmt worden. Neue Elemente, perfekte Darbietungen und wissenschaftliche Erkenntnisse kamen und kommen mehrheitlich aus Japan, China und der Sowjetunion.
So ist denn nur folgerichtig, dass Jahn für die heute Verantwortlichen kaum mehr eine Rolle spielt. Bundestrainer Andreas Hirsch:
"Ich seh' mich aber heute in der Situation in meiner Aufgabe nur in zweiter Linie direkt mit Jahn konfrontiert, also die Spitzenleistung heute hat sicher wenig damit zu tun, über wie viel Pferde man früher gesprungen ist."
Ähnlich Ursula Koch, Cheftrainerin der deutschen Frauen auf die Frage, ob das Turnen heute noch etwas mit Jahn zu tun habe:
"Nein, gar nicht mehr. Wir sind so hoch modernisiert, so technologisiert und so wissenschaftlich unterlegt, dass man, glaube ich, keine Gemeinsamkeiten mehr finden kann."
Spezifisch deutsche Elemente sehen beide Trainer im heutigen Turnen nicht. So mag Friedrich Ludwig Jahn zwar in diesen Tagen in Aller Munde sein, mit der olympischen Sportart Turnen allerdings haben seine Übungen nichts mehr gemein.