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Istanbul: Kreuzpunkt zwischen Asien und Europa

Schossig: Lange vor New York war Konstantinopel, die Stadt am Bosporus, kultureller und wirtschaftlicher Mittelpunkt der Welt, Kreuzpunkt zwischen Asien und Europa, zugleich auch politisches und kulturelles Zentrum des östlichen mediterranen Raums. Hier begegneten einander schon immer Völker und Religionen, Warenströme, Weltauffassungen konkurrierten und arrangierten sich miteinander. Bis heute ist die Metropole Istanbul für Europa Tor zum Orient und Brücke zum Nahen Osten. Die Terroranschläge vom vergangenen Wochenende und gestern zielten im Kern auf dieses schwierige türkische Gleichgewicht. Vor der Sendung habe ich mit Norman Stone gesprochen. Er ist Engländer und Militärhistoriker und lehrt an der Uni Ankara. Ich habe ihn gefragt, die moderne Türkei, insbesondere Ministerpräsident Erdogan, versucht den Kompromiss mit einer überwiegend westlich orientierten Politik. Allein dies macht ja die Türkei anscheinend schon hassenswert für muslimische Hardliner. Was stört die am türkischen Sonderweg? Fühlen sie sich bedroht oder marginalisiert?

    Stone: Ja, sie haben ein fürchterliches Minderwertigkeitskomplex der Türkei gegenüber, denn der Türkei ist letzten Endes das gelungen, was in der übrigen muslimischen Welt meistens fehlt: Es gibt einen gewissen Wohlstand. Der beste Vergleich ist vielleicht Russland. Man nehme Russland, etwa 1920, 1910. Russland war der Türkei in vielen Bereichen weit voraus. Jetzt sieht es anders aus. Die Türken sterben mit 70, die Russen mit 60. Der türkische Außenhandel ist größer als der russische Außenhandel und die Türkei hat eigentlich nur noch Nüsse als Rohstoff. Das Land hat erstaunliche Fortschritte gemacht in den letzten Generationen bei all den Problemen, die wir kennen. Ich nehme an, die anderen Muslime beneiden eigentlich die Türkei.

    Schossig: Wegen des Laizismus, also der Prägung durch Atatürk, also staatlich verordnete Religionsferne?

    Stone: Ich bin versucht zu sagen, dass die Türkei der einzige wirkliche Staat ist zwischen Athen und Singapur.

    Schossig: Wie weit ist denn diese Identität der Türkei jetzt bedroht durch diese Anschläge?

    Stone: Die Türken haben einen nationalen Stolz, und sie fühlen sich dadurch betroffen, dass man sie mit diesen, wie die Amerikaner zu sagen pflegen, dissentional states zu vergleichen geneigt ist.

    Schossig: Die Türkei ist ja, wenn auch noch schwankend, auf dem Wege nach Europa. Sie ist aber das schwächste Glied in der Sperrkette des Westens gegen den Terror. War auch das vielleicht ein Anlass für die Terroristen, hier einzugreifen?

    Stone: Ja, das mag leider wahr sein. Doch das Sicherheitssystem hier ist nicht schlecht. Man vergleiche die heutige Türkei mit der Türkei der siebziger Jahre. In den siebziger Jahren war es eine äußerst schlimme Zeit. Es starben 20 Leute pro Tag. Ich lebe hier jetzt ganz sicher wie die meisten Leute, und alles hat sich verändert.

    Schossig: Auf welche Stimmung treffen zum Beispiel diese Explosionen bei den vielen Millionen, die in Slums leben, denen es eben nicht so sehr gut geht? Auf wie viel Zustimmung in der normalen Bevölkerung können die Terroristen zählen?

    Stone: Auf fast keine. Auch nicht die einfachsten Türken sympathisieren mit den Leuten. Ich darf es sagen, vergessen Sie nicht, dass man den Arabern es übel nimmt, dass das Osmanische Reich zu Ende ging. Ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel. Als etwa in den achtziger Jahren die Firma Kempinski das ??? Palace Hotel eröffneten, luden sie einen ottomanischen Prinzen ein, das Hotel feierlich zu eröffnen. Das Äußere vom Hotel ist glänzend. Das Innere wurde von einer libanesischen Firma, glaube ich, getan, und das ist scheußlich, die Farben, die Möbel, alles ist grauenhaft. Und da fragte seine kaiserliche Hoheit am Ende, wie meinten kaiserliche Hoheit über das Ganze, er sagte, die Rache der Araber. Vergessen Sie nicht, dass der normaler Türke für die Araber nicht sehr viel übrig hat.

    Schossig: Was hätten wir Europäer gleichsam geistig zu exportieren? Was müssten wir tun, um das Misstrauen der türkischen Menschen gegen den Westen zu zerstreuen, um dieses Land nicht den Terroristen zu überlassen?

    Stone: Etwas mehr Verständnis für die Türkei, denn sie verstehen es nicht, wenn beispielsweise diese Schweden hier auftauchen mit erhobenem Finger und die Türken belehren über Behandlung der Minderheiten. Etwas mehr Verständnis für die Probleme der Türkei, doch im Grunde genommen ist die deutsche Haltung eine gute.

    Schossig: Vielen Dank für das Gespräch.