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"Italien ist immer schwer regierbar"

Europa blickt gespannt auf die Wahl in Italien. Rudolf Lill, Historiker und Italien-Experte meint: "Die Stimmung ist ungewiss, unsicher." Die Chancen von Berlusconi schätzt er als gering ein, die große Unbekannte sei die Bewegung "Cinque Stelle" des Komikers Beppe Grillo.

Rudolf Lill im Gespräch mit Christoph Heinemann | 24.02.2013
    Heinemann: Die Italienerinnen und Italiener haben heute und morgen die Wahl, nicht nur die Menschen jenseits der Alpen, sondern auch diejenigen unter den rd. 500.000, die in Deutschland leben und sich in die Wahllisten eingetragen haben. Das Wort "Schicksalswahl" wollen wir nicht strapazieren. Als historisch oder schicksalshaft gilt heutzutage ja fast von jeder Abstimmung. Allerdings müssen sich die Wählerinnen und Wähler in der Eurokrise entscheiden, ob das Land den Kurs hält oder eine andere Richtung einschlägt. Das Wort "strapazieren" apropos kommt übrigens aus dem Italienischen und heißt überanstrengen. Und das ist ja vielleicht schon eine Erklärung für das, was sich in den letzten Wochen in den Umfragen zugetragen hat. Im Studio ist der Historiker Professor Rudolf Lill, der in Italien gelebt und geforscht hat, in Deutschland an den Universitäten Karlsruhe und Bonn, viele Bücher und Artikel über Italien geschrieben und Vorträge gehalten hat. Guten Morgen.

    Lill: Guten Morgen, buon giorno.

    Heinemann: Und guten Morgen wünscht und zum Interview der Woche begrüßt Sie Christoph Heinemann. Professor Lill, Sie sind am Dienstag von einer Reise nach Italien zurückgekehrt. Mit welchen Eindrücken?

    Lill: Ich bin nicht mehr so optimistisch wie ich vor sechs Wochen war, als ich hier schon einmal interviewt wurde und als ich meinte, der Wahlsieg der demokratischen Partei, des Partito Democratico, sei so gut wie sicher zu erwarten. Ich habe in den letzten Wochen viel Kritik an den derzeitigen Zuständen Italiens, auch an der Regierung Monti gehört, die ich an sich ja hoch schätze. Monti hat meines Erachtens in den letzten dreizehn Monaten Italien wieder hochgebracht. Aber er hat einige Maßnahmen ergriffen, die vor allen Dingen diese IMU, über die sich Leute aus dem Mittelstand und aus den Unterschichten beklagten, also diese Imposta Municipale Unica, das ist die neue Gebäudesteuer, die also sehr drückend wirkt, deren Reduzierung er jetzt plant. Aber die Stimmung ist ungewiss, unsicher. Das Interesse an den Wahlen ist ungeheuer groß. Heute Morgen konnte ich noch mit einem Bruder des früheren Ministerpräsidenten Prodi sprechen, welcher ja einer der Gründungsväter des Partito Democratico ist. Also, ein wenig Optimismus ist geblieben, gedämpfter Optimismus. Die große Unbekannte ist die Bewegung "Cinque Stelle", diese Protestbewegung von Beppe Grillo, welche zeigt, wie tief das Unbehagen, der Disagio, der Italiener an der bisherigen Politik ist – nicht nur an der Politik Berlusconis, sondern an Fehlentscheidungen in 30, 40 Jahren.

    Heinemann: Berlusconi haben Sie angesprochen. Halten Sie eine neue Regierung Berlusconi für wahrscheinlich?

    Lill: Nein, für wahrscheinlich halte ich sie nicht, ich halte sie sogar für sehr unwahrscheinlich. Aber es ist schon interessant, wie es dem alten Fuchs Berlusconi gelungen ist, in den letzten vier Wochen wieder groß auf der politischen Bühne Italiens aufzutreten. Und das hat er ja vor allen Dingen dadurch geschafft, dass er auf die eben von mir genannten Fehler Montis sich gestürzt und gesagt hat: Wir werden diese Steuern zurückzahlen, wir werden den Mittelstand bestärken und werden die Steuern generell senken und die IMU zurückzahlen. Und darüber hinaus versucht er, das Bild eines liberalen Staatsmannes wieder aufzustellen. Aber er hat auch dieses Bild und diese Politik, diese Selbstdarstellung mit so viel Peinlichkeiten verbunden, dass ich glaube, dass er es nicht schaffen wird, sagen wir über 20, 25 Prozent herauszukommen mit seiner Koalition, zu der ja auch die Lega Nord gehört, zu der man ein eigenes Wort sprechen müsste. Es ist ja immer noch so, dass man annimmt, dass der Partito Democratico eine leichte Mehrheit erhalten wird.

    Heinemann: Zu Berlusconi. Sie sprachen die Peinlichkeiten an, Stichwort "Bunga-Bunga". Berlusconi hat jetzt gerade gemeldet beziehungsweise angekündigt, er wolle diese IMU, diese Steuer, zur Not aus der eigenen Tasche erstatten. Berlusconis Politik war immer einmal sehr stark von privaten Interessen geprägt und in den Umgangsformen – nenne ich es mal so – vulgär. Wieso ist das vergessen, wieso kommt er jetzt schon wieder so hoch?

    Lill: Ja, mir hat der typische Exponent kleiner Leute gesagt: "Si, Berlusconi il più grande dei ladri ..."

    Heinemann: ... der Größte ...

    Lill: ... der größte der Diebe. "Ma ha pensato anche a noi" hat wenigstens auch an uns gedacht, das heißt, er hat mitgegeben. Und auf diese Weise, gerade auch durch Steuersenkungen, hat er sich viele Sympathien erworben. Und die versucht er jetzt auszuspielen. Ich glaube aber, das wird nicht gelingen, auch weil sein Ansehen in Europa gering ist. Und weil die Italiener ja sehr deutlich sehen, auch wenn sie sich gegen äußere Einmischungen äußerst reserviert und empfindlich zeigen – sie sehen, dass mit der Regierung Monti und mit dem Präsidenten Napolitano, der ja Berlusconi durch Monti ersetzt hat, dass mit diesen beiden Führungsfiguren Italien dabei ist, wieder zu der Größe aufzusteigen, die ihnen in Europa zukommt. Und das geht mit Berlusconi nicht.

    Heinemann: Napolitano haben Sie genannt. Der Mann könnte wichtig werden, denn die Italiener wählen ja nicht nur die Kammer, also das Abgeordnetenhaus, sondern auch den Senat. Was würde passieren, wenn es da unterschiedliche Mehrheiten gäbe – im Abgeordnetenhaus auf der einen Seite, im Senat auf der anderen?

    Lill: Gut, das kann ich nicht genau voraussagen. Aber es ist richtig, dass Sie auf diese Diskrepanzen hinweisen. Berlusconi hat ja dem Land ein äußerst kompliziertes Wahlrecht beschert, in dem der Senat nach anderen Regeln als die Kammer gewählt wird. Also zunächst ist zu sagen: Heute wählen die Italiener 630 Abgeordnete zur Kammer und 315 zu wählende Senatoren – gemäß Artikel 55 bis 69 der Verfassung von 1948, die eigentlich eine sehr gute demokratische, rechtsstaatliche, europäisch ausgerichtete Verfassung ist, parallel zu unserem Grundgesetz. Damit kämen wir schon auf die Parallelen zu Deutschland und Italien in der zweiten Nachkriegszeit. Aber dieses Wahlrecht ist unsinnig kompliziert worden dadurch, dass die Senatoren nach den einzelnen Regionen gewählt werden und dass es sehr darauf ankommt, wie man in den einzelnen Regionen, vor allen Dingen in der großen Lombardei abschneidet, weil es dann Mehrheitsbonus gibt. Das ist schwer vorauszusehen. Aber sollte ein Patt entstehen, hat natürlich der Präsident der Republik das Recht, einen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten zu benennen.

    Heinemann: Wäre Italien dann unregierbar?

    Lill: Also wissen Sie, Italien ist immer schwer regierbar. Das weiß man, darüber haben wir schon vor 30 Jahren diskutiert und geschrieben, das gehört zum Lande. Man darf nicht deutsche Stabilitätsmaßstäbe auf Italien anwenden. Italien ist ein Land – trotz der vielen kulturellen, historischen, geografischen Brüche, die durch das lange Land gehen – ein Land, in dem man mehr auf Individualismus und Kleingruppen, denn auf große Organisationen setzt. Schwierig war es immer, aber l'italiano trova sempre la via d'uscita, der Italiener findet eigentlich immer den Ausweg, er kommt aus Krisen immer wieder heraus.

    Heinemann: Laut Umfragen hat Pier Luigi Bersani die Nase vorn. Er stammt aus der traditionell roten Emiglia Romagna, war Mitglied der kommunistischen Partei, die später dann in den Links-Demokraten aufgegangen ist. Er ist jetzt Chef der demokratischen Partei. Würde eine Regierung Bersani die Reformen im Montischen Sinne fortsetzen?

    Lill: Im Wesentlichen ja. So, wie die Dinge jetzt stehen, wäre eine Regierung Bersani wohl die beste Lösung für Italien. Pier Luigi Bersani ist auch insofern typischer Romagna-Italiener, der sein öffentliches Auftreten bei den Messdienern seiner Heimatpfarrei begonnen hat. Aber dann ist er Kommunist geworden, weil er nur vom PCI die durchgreifenden sozialen Reformen erwartete. Er hat sich nach 1990, wie auch Napolitano selbst, vom Kommunisten zum linken Demokraten entwickelt. Und er war unter Prodi Wirtschaftsminister. Und er hat jetzt die Partei, die ja nicht nur eine sozialdemokratische Partei ist, sondern eine Kombination aus Ex-Kommunisten, Post-Kommunisten, Sozialdemokraten und Christdemokraten, die hat er zu einem festen politisch-demokratischen Bewusstsein geführt. Er hat ihr durch das System der Primärwahlen eine große moralische Autorität verschafft. Er selbst wirkt ausgesprochen sachlich, vertrauenswürdig, und er steht für ein Reformbündnis. Aber weil er fürchtet, dass die eigene Kraft nicht reicht, hat er linkere Verbündete, darunter diesen Nichi Vendola, der ein Radikaldemokrat ist, ein Linksliberaler, der aus Apulien stammt …

    Heinemann: ... mit grünen ...

    Lill: ... mit grünen Vermischungen. Und der möchte also zum Beispiel in der wichtigen Frage des Arbeitsmarktes das aus den 70er-Jahren stammende Arbeiterstatut nicht ändern, das praktisch jeden Arbeiter unkündbar macht. Und da sagt Monti, der sich auch deswegen so sehr gegen Bersani geäußert hat in den letzten Wochen: Mit dieser Kombination, mit Vendola, sind die strukturellen Reformen, die eigentlich auch Bersani vorhat, gar nicht durchzuführen. Wir müssen einen neuen Weg gehen, wir müssen von den Lösungen der 70er-Jahre eben so abkommen wie von dem früheren Kapitalismus. Trotzdem, Bersani bietet die realistischste Hoffnung.

    Heinemann: Interview der Woche im Deutschlandfunk mit dem Historiker Professor Rudolf Lill. Wir haben ganz zu Beginn unseres Gespräches den Namen Beppe Grillo ins Gespräch eingeführt. Ein Komiker, der eine Bewegung gegründet hat, die "fünf Sterne" heißt, und keiner weiß so richtig genau, wofür die jetzt politisch eigentlich steht. Wie würde die eingebunden, diese Gruppierung, sollte sie die kritische Marke übersteigen?

    Lill: Ich glaube nicht, dass man die Grillo-Bewegung einbinden kann. Monti hat zwar vorgestern sogar Grillo angesprochen und hat gesagt: Voi portate la protesta, ma noi portiamo le necessarie proposte – Ihr bringt den Protest, der ja verständlich und gerechtfertigt ist, aber bringen die unbedingt notwendigen Vorschläge, um aus der Situation von jetzt herauszukommen. Grillo ist ein politisches Naturphänomen. Er hat in wenigen Jahren diese Protestbewegung zusammengebracht, die aus den verschiedensten Teilen der Bevölkerung besteht. Und er hat vorgestern Abend in Rom auf der Piazza San Giovanni, auf der historischen Piazza der Linksparteien, 70.000 Menschen zusammengebracht. Also es besteht die Gefahr, dass viele sich ihm anschließen, obwohl er kein eindeutiges Programm hat. Sein Programm heißt: Gegen alles, was die bisherigen Politiker getan haben. Sie sind alle gleich schlecht, ob rechts oder links. Bersani ist nicht viel besser als Berlusconi. Wir wollen, dass die alle aus ihren Machtstellungen vertrieben werden, wir wollen mit mindesten 100 Abgeordneten ins Parlament, wir wollen da Mindestrenten austeilen, und dann werden wir weiter sehen. Er hat sich den Diskussionen versagt, er tritt immer allein auf. Er ist also eigentlich kein Mitglied einer ernsthaften politischen Diskussionsrunde.

    Heinemann: Die ersten Drei in den Umfragen haben wir jetzt durchdekliniert, nämlich Bersani, Berlusconi und Grillo. Nummer Vier – laut Umfragen, ob das Wahlergebnis ähnlich sein wird, wissen wir nicht genau – ist Mario Monti, der noch amtierende Ministerpräsident. Warum ist er so unbeliebt? Einen Grund haben wir genannt: die Steuer.

    Lill: Eigentlich nur wegen der Steuern und wegen einer gewissen Härte gegenüber der Linken, nicht nur gegenüber Vendola, sondern auch der linken Gewerkschaft CGL mit ihrer Führerin Susanna Camusso. Also, Monti ist ja in diese Mitte eingestiegen. Sie haben mit Recht gesagt, wir haben die beiden großen Parteien jedenfalls angesprochen, die Partito Democratico und den Populo delle Liberta von Berlusconi. Dazwischen gab es eine relativ kleine Mitte, das ist die UDC, Union del Democratica del Centro, das sind die Christdemokraten, die weder nach rechts zu Berlusconi noch nach links zu Bersani gegangen sind, sondern eine kleine Gruppierung, demokratische Union der Mitte unter Ferdinando Casini gegründet haben. Und dazu kam Gianfranco Fini von den Neofaschisten, der sich ja heftigst von Berlusconi abgesetzt hat mit seinem Futuro e Liberta, zwei Mittelparteien, die eigentlich den Kurs der alten Democrazia Christiana in modernisierter Form fortsetzen wollten. Und zu denen ist nun Monti gestoßen, weil er den Entschluss gefasst hat vor einigen Wochen, nicht von außen her auf diese Wahl einzuwirken, sondern selbst sich zu beteiligen, weil er hoffte, einen Teil der Zivilgesellschaft, der bürgerlichen Gesellschaft der Mitte, auf sich ziehen zu können.

    Und der steht jetzt mit Fini und mit Casini in einer Reihe. Aber ob dieses Mittebündnis viel ergibt, darüber darf man sehr skeptisch sein. Es wäre schon gut, wenn sie gemeinsam auf zehn Prozent kommen. Auf der einen Seite ist Monti hochgeschätzt wegen seiner Grundausrichtung, und das ist auch vollkommen richtig. Auf der anderen Seite kritisiert man ihn wegen der Härten, die er auferlegt hat. Inzwischen erklärt er, dass er eine Art Rosskur hat durchführen müssen, dass er manches auferlegt hat, was er jetzt, da die Situation sich verbessert hat, partiell zurücknehmen wird. Ich halte Monti für einen sehr bedeutsamen Mann. Er ist aber mehr der Mann der Wirtschaftswissenschaft und einer Theorie der Wirtschaftspolitik als der Mann der praktischen Politik. Und dann hat er sich, nachdem er jetzt in den Wahlkampf eingestiegen ist, von irgendwelchen amerikanischen Beratern Mätzchen aufreden lassen. Die haben ihm eher geschadet. Aber im Grunde steht er für eine Erneuerung Italiens. Als er vorgestern in Florenz seine letzte Kundgebung gehalten hat, hat er sie mit den klassischen Worten begründet: "Ich bin nach Florenz gekommen. Florenz ist die Stadt der Renaissance, des Rinascimento. Italien muss wieder auferstehen". Er bezieht sich auch auf De Gasperi, auf den Gründungsvater, der sagt, der Staatsmann muss an die kommenden Generationen denken, nicht an die kommenden Wahlen. Aber nun geht es darum, die Wahlen zu gewinnen.

    Heinemann: Stichwort 'kommende Generationen'. Jugendarbeitslosigkeit 37 Prozent – was ist da schief gegangen?

    Lill: Das kann ich Ihnen im Einzelnen nicht erklären, dazu müsste ich die italienische Wirtschaft besser kennen. Vieles ist schief gegangen. Italien ist seit fünf Jahren in die Krise hineingerutscht. Und das ist eine Krise, die vor allen Dingen die industrielle Produktion erheblich verringert hat. Denken Sie nur an den Fall Fiat, dass Fiat Werke schließen muss und dass Fiat Restriktionen auferlegt. Also, da ist von der Wirtschaft versagt worden. Der Staat hat aber auch die eigene Wirtschaft zu wenig unterstützt. Er hat zu viele Steuern auferlegt. Die öffentliche Hand braucht zu viel Geld. Der Staat ist unsinnig verschuldet. Die Staatsverschuldung Italiens ist die dritthöchste auf der gesamten Welt. Da kommt sehr vieles zusammen. Aber wenn Sie nur bedenken, dass heute 630 Abgeordnete und 315 Senatoren gewählt werden, dann haben sie ein Beispiel dafür, wie in Italien der Staat das Geld der Öffentlichkeit verwirtschaftet. Weniger als 500 wären genug. Der Senat ist eine Verdoppelung praktisch des Geschehens in der Kammer. Die Vereinfachung und die Verknappung des Staates, die Monti angestrebt hat, ist bisher nicht gelungen und es ist auch noch nicht gelungen die Politik des Aufschwunges, die eben auch Reformen am Arbeitsmarkt erforderlich macht, die Monti will.

    Heinemann: Der frühere Ministerpräsident Berlusconi hat im Zusammenhang mit der Sparpolitik Mario Montis von einem Diktat der Frau Merkel gesprochen. Giulio Tremonti, sein früherer Finanzminister, hat Monti als "Gauleiter" bezeichnet. Lohnt sich der Stimmenfang in Italien mit antideutschen Tönen?

    Lill: In diesen Tönen sicher nicht. Berlusconi spielt diese Karte seit einiger Zeit aus. Von Tremonti hätte ich es mir so nicht erwartet, weil er unter den Ministern Berlusconis doch ein Mann von einer gewissen fachlichen Kompetenz gewesen ist. Also wissen Sie, wir wissen beide, dass Frau Merkel da keine Diktate erteilt. Es ist nur Folgendes zu sagen: Das deutsche Auftreten in Europa wird in verschiedenen europäischen Staaten nicht so recht gewürdigt und verstanden. Man möchte keine deutsche Führungsrolle. Da geht es dann oft viel mehr um den Stil als um den Inhalt. Da ist schon eine gewisse Aversion, die übrigens auch zeigt, dass das italienisch-deutsche Verhältnis in den letzten 20 Jahren, also seit dem Deutschland aus der Rolle des mittleren Staates wieder in die einer Großmacht aufgerückt ist, dass sich das verschlechtert hat. Das war nicht nötig und das nützt beiden Seiten nicht.

    Heinemann: Wer hat das verschlechtert?

    Lill: Ich fürchte, dass es von beiden Seiten verschlechtert worden ist. Aber es ist eben auch dadurch verschlechtert worden durch die erwähnten Berliner Großmachtaspirationen. Man muss zurückschauen auf das Europa von 1949 bis 1989. In diesem Europa waren Italien und die Bundesrepublik Deutschland Gründungsnationen. Sie waren beide Mittelstaaten. Sie mussten beide sich gegenüber den USA auf eine gemeinsame Politik verständigen, und das haben sie getan, von Adenauer und De Gasperi angefangen, Heuss und Einaudi, bis hin zu Helmut Schmidt und Craxi und Richard von Weizsäcker bestand eine echte, gleichberechtigte Freundschaft zwischen Deutschland und Italien.

    Und noch 1989 hat Giulio Andreotti beim großen deutsch-italienischen Treffen hier in Bonn leidenschaftlich dafür geworben, diese enge Zusammenarbeit fortzusetzen. Dann aber wurde aus der Mittelmacht Bonner Republik die angebliche Großmacht Berliner Republik, und sie ist auch entsprechend aufgetreten. Denken Sie an den unseligen Streit um eine Sitz in der UNO, wo Italien – weil die italienische Diplomatie ja sehr geschickt ist und genau wusste, dass sie keinen eigenen Sitz durchbringen würde – gesagt hat, wir wollen einen europäischen Sitz. Der hätte ja allen genügt, aber Deutschland, Joschka Fischer und andere, wollten den deutschen Sitz. Das hat in Italien ungeheuer gekränkt. Es ist nur ein Beispiel. Ich könnte viele erwähnen, aber da müsste ich ein ganzes Referat über Italien-Deutschland in den letzten 20 Jahren halten.

    Heinemann: Die Zeit haben wir nicht mehr, denn es bleiben uns noch vier Minuten. Aber in welcher Rolle sehen sich die Italiener selbst heute in Europa?

    Lill: Sie sehen sich nicht sehr selbstbewusst. Sie wissen, dass ihr Land in einer tiefen Krise steckt, dass eben Italien von der Glanzzeit der Gründerjahre, De Gasperi, bis in die 60er Jahre weit herunter gekommen ist. Aber sie wissen auch, dass Italien seine Verpflichtungen in Europa erfüllt, dass Italien zum Beispiel seine finanziellen Leistungen an die Europäische Union – damit, wie man dann gelegentlich bei Berlusconi sagt, auch für die deutsche Wiedervereinigung – korrekt geleistet hat, dass Italien präsent ist in den NATO-Einsätzen von Libanon bis Afghanistan, sehr aktiv präsent, dass die italienischen Truppen meist als sehr menschenfreundlich empfunden werden. Also, man hat ein durchaus starkes Selbstbewusstsein und man will sich nicht von anderen den eigenen Weg vorschreiben lassen. In Italien lebt ja außerdem dann noch die große historische Erinnerung. Wir müssen immer bedenken, dass Italien ein Land der Kultur und der Geschichte und auch der politischen Kultur von großen Dimensionen ist.

    Heinemann: Und auch der religiösen, denn es geht ja auch noch um eine andere Wahl in den nächsten Wochen. Hat das bevorstehende Konklave in irgendeiner Weise den Wahlkampf beeinflusst?

    Lill: Die Nachricht vom Rücktritt des Papstes hat den Wahlkampf momentan gelähmt. Und in den großen italienischen Zeitungen ist seitdem immer auf zwei bis drei Seiten die Rede von dem, was im Vatikan geschieht. Der Vatikan ist sehr präsent. Ob man nun mit allem, was er tut, einverstanden ist oder nicht, der Vatikan ist unter anderem eine italienische Institution. Zusammenfassend sage ich nur, dass gestern Nachmittag der Staatspräsident Napolitano seinen Abschiedsbesuch bei Benedict XVI gemacht hat. Und da wurde eine römische Größe deutlich, die man außerhalb Italiens wohl kaum kennt: der 86-jährige Staatspräsident, der dem alten und fragilen Papst einen Frühdruck der "I Promessi Sposi", also jenes Romans überreicht hat, den noch der alte Goethe bewundert hatte und der Papst, der dem Staatspräsidenten einen Kupferstich vom Bau der Peterskirche im 16. Jahrhundert gibt, und die Herzlichkeit, mit der die beiden alten Herren, obwohl sie aus völlig anderen kulturellen Welten kommen, miteinander umgehen, auch das ist Italien im großen Stil.

    Heinemann: Von Alessandro Manzoni "Die Verlobten", ein Buch. Wird denn die Stimme der Kirche überhaupt noch gehört? Beeinflusst sie die Politik noch in irgendeiner Weise?
    Lill: Ja, obwohl ...

    Heinemann: Zumal: Es gibt Kardinäle, die Berlusconi nahe stehen, der Kardinalstaatsekretär zum Beispiel, und andere, die Monti unterstützen.

    Lill: Ja, der moralische Rigorismus des Vatikans hat auch in Italien verstörend gewirkt. Die einen folgen ihm, die anderen lehnen ihn ab. Der eben erwähnte Ministerpräsident Prodi hat sich, obwohl er selbst praktizierender Katholik ist, widersetzt. Er sagt, ich lasse mir nicht vom Vatikan vorschreiben, ob es Gesetze über homosexuelle Gemeinschaften geben darf oder nicht. Aber die Kirche wird insgesamt noch gehört, weil sie auf vielen Ebenen präsent ist und weil im Vatikan selbst offenbar bezüglich Italien unterschiedliche Meinungen bestehen. Sie erwähnten den Kardinalstaatssekretär Bertone, von dem ich annehme, dass er so etwas wie "bète noir" Benedicts XVI gewesen ist. Der hat tatsächlich mit Berlusconi kooperiert. Aber der Präsident der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Bagnasco, hat immer zur Reformpartei gehalten und hat auch jetzt gesagt, ohne den Namen Berlusconi zu nennen, er kann sich nicht vorstellen, dass die Italiener den wählen, der sie schon mal so hereingelegt hat.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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