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Italienische Avantgarde als Wohlfühlprogramm

Diesmal hat sich Multimedialtheaterwunder Katie Mitchell ein Stück Musiktheater vorgenommen, "Al gran sole carico d'amore" von Luigi Nono. Gestern war Premiere in Salzburg, die musikalische Leitung hatte Ingo Metzmacher; und Frieder Reininghaus sagt, ob wieder ein Theaterwunder geschah.

Von Frieder Reininghaus |
    Mit souveräner Ruhe und einem Maximum an Umsicht dirigiert Ingo Metzmacher den gewaltigen Apparat: die Wiener Philharmoniker und den Wiener Staatsopernchor. Das renommierte Orchester aus der österreichischen Hauptstadt absolviert Luigi Nonos komplexe Partitur keineswegs wie eine Pflichtübung. Es sieht so aus, als wollten die Mitglieder des als konservativ geltenden Klangkörpers deutlich machen, dass sie gerade auch der Nonoschen Moderne ganz und gar gewachsen sind und ihr an dieser Stelle zum Durchbruch verhelfen wollen. Sie sitzen in einer Anordnung, die an die Mannschaft auf dem Deck einer alten Karavelle erinnert – zwei oder drei Schlagwerker am Bug, die Streicher auf dem tiefer liegen Hauptdeck, die kräftig besetzte Batterie dort, wo Kapitän und Steuermann ihre Brücke hatten. Wie eine auf hoher See zusammengeschweißte Mannschaft bringen sie sich mit ihrem Engagement in das historische des Komponisten ein. Der Chor – angeführt von einem Dutzend Chor-Solisten – wurde von Luigi Nono durchgängig sehr differenziert eingesetzt. Metzmacher folgt dieser Intention strikt.

    Nur sehr gelegentlich ballen sich die Fäuste zur Stimmgewalt. Es überwiegt ein gewisser schöner Ton der Resignation im szenischen Oratorium. Um Frauen-Augenblicke und -Blicke in und auf die niedergeschlagenen Revolutionen geht es – in Paris 1871, in Russland 1905, dann um den zunächst fehlgeschlagenen Sturmangriff auf die Mocada Kaserne in Cuba 1953, Befreiungskampf in Bolivien in den 60er-Jahren sowie einen Aufstand in Turin im Jahr 1917. Es geht mit Tania Bunke um eine Weggefährtin Che Guevaras und mit Louise Michel um eine Protagonistin der Pariser Kommune.

    "Al gran sole" ist eine jener ästhetischen Produkte, das von der Möglichkeit eines Gleichklangs von politischem "Fortschritt" und künstlerischem ausging. Diese im Prinzip ja durchaus faszinierende Idee wurde da mit warmem literarischem Herzen, kühlem musikalischem Engagement und ohne Rücksicht auf Theaterkonventionen "umgesetzt". Ein bevorzugt von Sentimentalitäten besetztes Thema – das Weibliche als Stimulans in den von Männern betriebenen Klassenkämpfen – wurde von der Konsequenzlogik einer durchgängigen "Geschichte" und von allen tonalen Fesseln befreit, wurde portioniert und montiert.

    Die lose gewobene Folge von Episoden wurde in der Felsenreitschule von Leo Warner und Sebastian Pircher mit einer elaborierten Live-Video-Produktion angereichert, die sich in eine Inszenierung der britischen Regisseurin Katie Mitchell fügte: Was aus den musealen Glasvitrinen entnommen wird, was sich im Kleinen auf einem Steinhaufen oder einem Rasenstück ereignet, wie die fünf Frauen in den fünf Kammern (hinten links) warten, trauern, nachdenken, sich ermannen – das alles wird unmittelbar auf eine Projektionsfläche übertragen. Sie ist gemustert wie altes gehämmertes Papier oder eine Plakatwand, von der schon unendlich oft die Plakate auch wieder abgerissen wurden. Dadurch erscheinen die modernen Bilder wie von altmeisterlichen Händen gemalt: wie niederländische Gemälde aus dem "Goldenen Zeitalter" oder aus der Ära des frühen französischen Pointillismus. Die harten historischen Wirklichkeiten werden so in hohem Maß weichgespült. Ein dezidiert "weiblicher" Zugriff hat Nonos Virilität kontrapunktiert und trägt nun dazu bei, dass selbst dieses sperrige Werk in Jürgen Flimms Salzburger Wohlfühlprogramm integriert werden kann.