Iván de la Nuez gehört zu einer Generation von Kubanern, die im ersten Jahrzehnt der Revolution, den 60er Jahren, geboren wurden. Zumal die Künstler und Intellektuellen dieser Generation haben die Insel im Laufe der 90er Jahre verlassen und sind inzwischen über die ganze Welt verstreut. Sie sind keine Exilanten im klassischen Sinne mehr wie die selbsternannten Exilkubaner, die weiße Bourgeoisie des Landes, die Kuba nach der Revolution scharenweise verlassen hat und immer noch im Exil in Miami auf politische und wirtschaftliche Vergeltung sinnt. Iván de la Nuez und seine Generation sind im sozialistischen Kuba aufgewachsen und ausgebildet worden, haben sich an den kubanischen Verhältnissen gerieben und irgendwann die zerschleißende Arbeit gegen ein veränderungsresistentes System aufgegeben, um draußen in der Welt der künstlerischen und intellektuellen Produktion freien Lauf zu lassen. Für den Autor de la Nuez handelt es sich dabei weniger um ein Phänomen politischer Dissidenz, auch nicht um eine wirtschaftlich motivierte Flucht, als vielmehr um ein "Davonlaufen vor einer Zeit, die mit Politik übersättigt ist", wie er schreibt, und er meint damit Kuba ebenso wie seine Kehrseite, das kubanische Miami.
Nicht umsonst heißt das Buch "Das treibende Floß". Das Floß, das in mannigfacher materieller Gestalt in den 90er Jahren zum Massenfluchtmittel beinahe einer ganzen Generation avancierte, wird hier als Metapher benutzt, denn der Autor begreift die Lebensweise seiner Generation in der Diaspora als Aufbruch zu neuen vielversprechenden postnationalen und transkulturellen Ufern, an denen "die Flucht zu betreiben als eine andere Art zu leben" beschrieben wird. Und man sollte hinzufügen: auch als eine andere Art zu denken. Davon nämlich handelt das Buch. Es besteht aus Texten, die entweder als Küsten oder als Passagen umschrieben sind. Iván de la Nuez schreibt in seiner Einleitung:
Die Kapitel sind Küsten, also relativ fester Boden. Die Passagen deuten auf heikle Navigationen hin. Strenggenommen ist dies weder ein Buch über die westliche Kultur noch über Nord- und Südamerika oder Kuba. Es ist ein Streifzug durch das, was nach dem Austausch zwischen jenen Welten übriggeblieben ist.
In seinen kursorischen, weitverzweigten Erörterungen will Iván de la Nuez vor allem eins: althergebrachte Gegensatzpaare auflösen. Paare wie Kolonisierung versus Unabhängigkeit, Süden versus Norden, Peripherie versus Zentrum, Südamerika versus Nordamerika, aber auch Prospero versus Caliban. Die zuletzt genannten Figuren aus Shakespeares Stück "Der Sturm" haben das lateinamerikanische Denken stark beeinflusst. Insbesondere die Linke hat sich ihrer in den 60er Jahren bemächtigt, und es war ein kubanischer Intellektueller und Dichter, Fernández Retamar, der 1969 einen für die lateinamerikanische Linke damals richtungsweisenden Essay schrieb. Darin entdeckte er in dem von Prospero, dem Eroberer gezeichneten, aber rebellischen Inselbewohner Caliban das lateinamerikanische Subjekt schlechthin. Prospero symbolisierte die USA und ihren Pragmatismus, Caliban den Sklaven und seine Rebellion; und auch Ariel war mit von der Partie. Er wiederum stand für Europa und die abendländische Kultur. Es sind diese Pole, zwischen denen die Suche nach einer lateinamerikanischen, aber auch einer kubanischen nationalen Identität seit dem 19. Jahrhundert, also mit dem Beginn der Moderne, unentwegt hin und her pendelt. Und auch Iván de la Nuez lässt sein Floß zwischen diesen Küsten treiben und steckt neue Routen ab.
Er beobachtet dabei, dass in den letzten beiden Jahrzehnten im kulturell übersättigten und von sich selbst gelangweilten Westen der Ruf nach Caliban wieder laut geworden ist, aber nun auch die lateinamerikanische Kultur aus dieser Nachfrage Kapital zu schlagen trachtet. Caliban ist nicht mehr ein politisches Modell für Guerilla-Strategen, sondern eher ein Gegenstand des Lifestyles, der, wie der Autor schreibt, "dem vielfältigen Verlangen nach neuen peripheren Erfahrungen (seien sie nun erotischer, mystischer oder ästhetischer Natur)" aufs Beste entspricht. Den Platz der Ikone Ché Guevara hat darin Subcomandante Marcos aus dem mexikanischen Chiapas eingenommen, der sich allerdings seinerseits bei der Durchsetzung des Rechts der Indios auf Differenz der Medien-Strategien des Westens bedient. Ob nun allerdings diese neuartigen kulturellen Verflechtungen zur Entkolonialisierung führen oder nur eine weitere postkoloniale Episode markieren, ist, Iván de la Nuez zufolge, noch nicht abzusehen. Und um diesem Konflikt zu entgehen, der auf gewisse Weise der Shakespeareschen Figurenkonstellation bereits innewohnt, schlägt er vor, den Fatalismus der Figur des Caliban zu durchbrechen, dessen Rebellsein ohnehin nur mehr eine Attitüde ist, und lässt auch ihn die Insel verlassen: ein Kuba, das in anti-nordamerikanischen und nationalistischen Posen erstarrt zu sein scheint. Er schickt Caliban also stellvertretend für seine Generation auf die Flucht.
Iván de la Nuez weiß freilich, dass das Leben auf der Flucht zwischen den Kulturen und Welten auch ein höchst schwieriger Drahtseilakt sein kann und manch einer dabei auch schon zugrundegegangen ist. Er weiß auch, dass ein in bestimmten Kreisen gepflegter Multikulturalismus häufig nur der Wiederbelebung der westlichen Kultur dient und die einzelnen Kulturen in ihren jeweiligen Ghettos im Westen gefangen halten kann. Statt auf geförderte Einbindung setzt Iván de la Nuez deshalb auf eigenständiges Vordringen. Da er das Phänomen der Globalisierung allerdings nur unter dem Aspekt der Bewegung einer gebildeten Elite in die Diaspora in den Blick nimmt, befindet er sich letztlich im selben Elfenbeinturm wie eine vorwiegend über Identitätsfragen sinnierende akademische Linke, die in der westlichen Sphäre beheimatet ist und der zunehmend der Verlust gesellschaftskritischer Wirksamkeit ihres Denkens vorgehalten wird. Und so ist die Lebensweise in der Diaspora, wie Iván de la Nuez sie vorführt, am Ende doch die eher intellektuelle Spielart einer postmodern dezentrierten, zerstreuten und fragmentierten Identität, die sich endlich von den antiquierten Erzählungen der westlichen Moderne, von nationaler Zugehörigkeit und kultureller Zentriertheit befreit fühlt.
Trotzdem ist "Das treibende Floß" ein inspirierendes, bewundernswert vielschichtig gebautes Textensemble, das in der Vielfalt seiner Bezüge allerhand Anstöße liefert, und zwar geschichts- und gegenwartsbezogene, über das Verhältnis der Welt zu Kuba und Kubas zur Welt nachzudenken.
Barbara Eisenmann besprach: "Das treibende Floß. Kubanische Kulturpassage"' von Iván de la Nuez. Es wurde von Hans-Joachim Hartstein übersetzt. Erschienen ist der 164-seitige Band im Suhrkamp Verlag und kostet 17,90 DM.