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J. L. Carr: "Ein Monat auf dem Land"
Anrührend und nie ohne Komik

Es ist der Sommer 1929 in Yorkshire: Ein junger Mann soll ein Wandgemälde einer Kirche freilegen. Schicht für Schicht werden in "Ein Monat auf dem Land" von J. L. Carr auch die Geschichten der Menschen im Dorf freigelegt. Rezensent Joachim Geil gefällt, wie das behutsam, ganz ohne Pathos und in unaufdringlich ironischem Ton passiert.

Von Joachim Geil | 10.08.2016
    Großbritannien - Robin Hood's Bay, Nord-Yorkshire
    In der idyllischen Landschaft von Yorkshire spielt "Ein Monat auf dem Land". (picture-alliance/ dpa/dpaweb / Stephan Görlich)
    Im Sommer 1920 soll der junge Tom Birkin in Yorkshire für einen Hungerlohn das spätmittelalterliche Wandgemälde einer Kirche freilegen. Es verbirgt sich unter einer Kalkputzschicht. Und so erfahren wir Schicht für Schicht von den Lebensgeschichten der Landleute und Toms eigener. Die unmittelbare Vergangenheit, das wird bereits zu Beginn klar, ist der Erste Weltkrieg. Tom ist ihm entkommen. Nicht ohne Blessuren. Nicht ohne Albträume. Nicht ohne ein Zucken im Gesicht.
    "Es begann bei meiner linken Augenbraue und setzte sich bis zum Mund fort. Ich hatte es mir in Passchendaele eingehandelt und war damit nicht der Einzige. Die Ärzte meinten, es würde sich mit der Zeit wieder legen."
    Die Landidylle, in der wir uns befinden, würde in manchen Unterhaltungsromanen unerträglich säuselnd beschworen. Doch mit Ich-Erzähler Tom treffen wir in dem fiktiven Ort Oxgodby auf verschrobene bis liebenswürdige Bewohner. Und allen, die dort verwurzelt sind oder die es dorthin verschlagen hat, wohnt eine allmählich aufscheinende Tragik inne. Alle sind sie launig-kauzig, doch auch versehrt.
    Keiner wird verschont
    Da ist der Pfarrer, Reverend Keach, ein ziemlich mürrischer Vertreter seiner Zunft, der den Auftrag an Tom keineswegs gutheißt. Der kostet doch Geld. Und das Gerüst stört den Gottesdienst. Da ist Keachs hübsche Frau Alice, unterwegs charmant und zum Plaudern aufgelegt, doch im bemoosten Pfarrhaus voller leerer Zimmer zutiefst unglücklich. Da ist Charles Moon, ein Archäologe, ebenfalls dem Krieg entkommen. Er soll neben der Kirche das Grab eines vor Jahrhunderten Verstoßenen ausfindig machen, doch gedenkt er ganz anderes auszugraben. Auch er ist ein aufmüpfiger Freigeist, der nicht in dieses Oxgodby passen will. Auch er legt frei, gräbt im Boden. Und am Ende wissen wir von Schichten seines Seins, die uns überraschen: Im Krieg wurde ihm von den eigenen Leuten übel mitgespielt. Und so begegnen sich alle zugleich in provinzieller Eigenbrötlerei wie in unzweifelhafter Würde.
    Das Wandgemälde erweist sich unterdessen als Jüngstes Gericht. Das ist nicht unbedingt originell, doch, so sagt Tom:
    "Mittelalterliche Wandmalerei bediente sich in der Regel aus einem reichlich abgegriffenen Vorlagenkatalog."
    Mag sein, dass auch die psychologische Verbindung, die J. L. Carr zwischen Himmel, Hölle und der menschlichen Seele schafft, allzu nahe liegt. Dennoch ist es bewundernswert, wie behutsam er, ganz ohne Pathos, in unaufdringlich ironischem Ton die Lebensschichten all der Menschen freilegt. Und so macht es Tom mit den Verfluchten und den Glücklichen auf dem Wandgemälde, bis er eine eigenartige Figur entdeckt. Sie ist so individuell dargestellt, dass es sich nur um eine konkrete Person aus dem mittelalterlichen Oxgodby handeln kann:
    "Sein blondes Haar loderte wie eine Fackel, während er kopfüber die Mauer hinabstürzte. Zwei Teufel mit von zartem Pelz bedeckten Beinen nahmen ihn in Empfang, der eine packte ihn am rechten Handgelenk, der andere zerteilte ihn mit einer Schere.
    Es war das außergewöhnlichste Detail eines mittelalterlichen Gemäldes, das ich je gesehen hatte, und es nahm die Werke der Brueghels um hundert Jahre vorweg. Was hatte ihn dazu bewogen, seiner Zeit mit diesem Detail in einem Riesenschritt vorauszueilen?"
    Auf dem Bild wie im Leben geht es eben stets um jeden einzelnen. Keiner wird geschont. Nichts ist harmlos. Wehmütig wird eine Epoche zu Grabe getragen, die im Gemetzel des Ersten Weltkriegs zu Ende gegangen ist. Sie umweht das junge Leben von Tom Birkin noch. Mit erstaunlicher Leichtigkeit führt Carr den Leser durch diesen letzten Sommermonat 1920. Durch eine Welt von gestern. Auf Verliebtsein in Land und Landfrau folgt der Abschied. Immerhin ist der Krieg seit zwei Jahren vorbei, tagsüber jedenfalls:
    "Wir hatten unsere gefallenen Kameraden abgeschüttelt. Allerdings nur bei Tage. Nachts, im Dunkeln, kehrten sie zu uns zurück, aber wir wollten nichts mehr von ihnen wissen: Sie gehörten jetzt zu einer anderen Welt – nun, zur Hölle, wenn man es so bezeichnen mag."
    Alle würden gerne anders sein
    In Oxgodby kann Tom wohl Trost suchen, aber nicht heimisch werden. Wie auch? Am Ende wissen wir von allen Figuren, wie anders sie gerne sein wollten, wenn sie aus ihrer Haut könnten. Das ist anrührend und nie ohne Komik erzählt. Und keiner in diesem schmalen Band ist nur, was er zu sein scheint. Tom nicht nur Restaurator, sondern, auch wenn er es abstreitet, ein Künstler. Seine ferne Frau Vinny, die ihn betrogen und verlassen hat, ist nicht nur ein unangenehmer Schatten der Vergangenheit. Denn oft ist sie zurückgekommen und könnte es wieder tun. Charles Moon ist nicht nur ein abgebrühter Archäologe, der von einer Karriere im Zweistromland träumt, sondern ein zutiefst Suchender. Und Reverend Keach will keineswegs der missmutige Landpfarrer sein, als der er wahrgenommen wird. Er sagt, als das Gemälde freigelegt und restauriert ist, schließlich zu Tom:
    "Sie sind von einem Ort zurückgekehrt, an dem Sie Dinge gesehen haben, die kein Glaube zu erklären vermag. Dinge, über die Sie nicht sprechen und die Sie nicht vergessen können, aber genau das sind die Dinge, die an das Wesen der Religion rühren. Und darum haben Sie, wann immer ich Sie in diesen letzten Wochen besucht habe und ein Gespräch mit Ihnen beginnen wollte, allenfalls eine Bemerkung über den ungewöhnlich schönen Sommer aufgegriffen, gelegentlich genickt und gesagt, dass Sie gut mit Ihrer Arbeit vorankämen und dass Sie sich im Glockenstuhl oben recht wohl fühlten. Und haben insgeheim gehofft, ich möge bald wieder verschwinden."
    J. L. Carr, der bereits 1994 starb, hat eine intime und anspielungsreiche Novelle geschaffen. "Ein Monat auf dem Land" ist subtile Erinnerungsarchäologie und warmherzige Versuchsanordnung über das Leben, das gelebte, das mögliche und das, was dazwischensteht, zwischen Ideal und Wirklichkeit. Das was einen hindert, der zu sein, der man sein will, aber auch zu dem macht, der man ist: der geworfene Mensch. Selbst im nordenglischen Garten Eden. Die gelungene deutsche Übersetzung von Monika Köpfer liegt nun als schön gestaltetes Bändchen vor.
    J. L. Carr: "Ein Monat auf dem Land"
    Erstmals in deutscher Übersetzung von Monika Köpfer
    DuMont Buchverlag Köln, 157 Seiten, 18,00 Euro