Archiv


J. S. Bach: Goldberg-Variationen

Die bereits vor vier Wochen angekündigte Neueinspielung der Bach'schen Goldberg-Variationen mit dem Pianisten Daniel Höxter liegt nun vor, und diese ambitus-CD ist durchaus sensationell. Sie ist keineswegs vordergründig spektakulär, obwohl Höxter, der zu den kompetentesten Interpreten etwa der Strauss’schen Burleske zählt, den Augenblicken von Virtuosität in diesem Variationenzyklus mit einer pianistischen Brillanz gerecht wird, die die reine Fingerfertigkeit ins Immaterielle zu rücken imstande ist. Das sind dann sozusagen Variations d’éxecution transcendante. Wichtiger, ja eigentlich entscheidend ist die außerordentlich geistvolle Art, mit der dieser Pianist anhand der Goldberg-Variationen ein Beziehungsgeflecht der musikalischen Charaktere und der stilistischen Anspielungen knüpft. Alles beginnt quasi lontano, als sei das Thema ein Stück ferner Erinnerung:

Norbert Ely |
    * Musikbeispiel: J. S. Bach - aus: Aria mit verschiedenen Veränderungen, BWV 988

    Höxter spielt einen Ton aus lockerer Schnellkraft heraus und kommt damit dem Lautenisten und dessen präziser Tonbildung nahe; ein Pianist, dessen Finger nicht nur bis zur Taste denken, sondern eben bis zur Saite. Schon in der Aria wird auch deutlich, daß Triller keineswegs den Anlaß für die Gelenkigkeit des Mechanicus bilden, sondern die pianistische Form des Vibrato darstellen, also geeignet, einen Ton mit Erregung aufzuladen. Und bereits in der ersten Variation demonstriert Daniel Höxter die hohe Kunst der Artikulation, in dem er bisweilen Ton für Ton zwischen legato und nonlegato changiert und bis hin zu Wirkungen findet, die man eher mit dem geigerischen Begriff des "spiccato" belegen möchte. Der Nuancenreichtum der Tondauern und der Tonfarben ist hier womöglich noch stärker ausgeprägt als auf der Mozart-CD, die er vor einigen Wochen vorlegte.

    Doch wie legt er diesen eminenten Zyklus der Goldberg-Variationen en gros an? Schlägt er sich auf die Seite der grandiosen Passacaglia oder mehr auf die der Suite? Das ist nicht eindeutig zu beantworten. Irgendwie schafft Höxter die Quadratur des Zirkels. Nimmt man die Variationen als eine einzige Passacaglia, also durchgängig a tempo und attacca, so tritt der große Bau hervor und zugleich verschwinden zumeist ein wenig jene Augenblicke des Geistvoll-Spielerischen, die denn doch zu Recht zum Verweilen schön scheinen. Betont ein Pianist hingegen die Suitenform, spielt also die Variationen als eine Folge von Charakterstücken, so kann es passieren, daß die Architektur unsichtbar oder besser unhörbar bleibt.

    Höxter läßt die einzelnen Variationen dicht aufeinander folgen, aber er spielt sie nicht attacca. Das timing zwischen den Sätzen ist so raffiniert, daß das Ganze mehr und mehr in der Schwebe gehalten wird. Und mehr und mehr zeigt sich im Verlauf des Zyklus auch, daß Höxter mit der Aria tatsächlich den Gestus für diese Interpretation vorgegeben hat: Alles wird gespielt wie aus blitzesschnellem, aber auch blitzeshellem Erinnern. Bach schaut mit sprühendem Geist zurück auf die Formenwelt des Barock, und noch einmal muß gesagt werden, was schon angesichts von Höxters Mozart-CD so auffiel: Dieser Pianist repräsentiert eine selten gewordene Form von Kultur - élégance als Verdinglichung von ésprit.

    Es gibt Momente von überbordender Freude, etwa in der fünften Variation. Hier könnte man als Zuhörer beinahe der Illusion erliegen, der Vorführung von stochastischen Operationen beizuwohnen, denn da spielt Höxter sozusagen Roulette: faîtes vos jeux. * Musikbeispiel: J. S. Bach - aus: Aria mit verschiedenen Veränderungen, BWV 988 Hinter all dem steckt ein philosophischer Kopf. Daniel Höxter hat auch zu dieser CD einen eigenen Text beigesteuert. Und erneut scheut er nicht die Konfession:

    Ich musste schon seit längerer Zeit immer wieder feststellen, dass ich beim Vortrag der 25.Variation (g-moll, zeitlos...) in Konzerten selbst in einen hypnoseartigen Zustand geriet und, obwohl ich diese komplexe Partitur weiterhin konzentriert auswendig spielen konnte, meinte ich, dabei fast im Schlaf zu musizieren. Meine Zuhörer waren plötzlich "verschwunden", denn sie atmeten alle ganz ruhig durch das Zwerchfell. Ich musste mich dann immer sehr disziplinieren, um zurück auf diese Welt zu kehren und den nahtlosen Übergang zur technisch heikelsten 26.Variation in lebendiger Form zu schaffen

    Auch auf der CD vermittelt sich diese Spannung zwischen Schlafen und Wachen, und man denkt an Goethe, der häufig in eben diesem Schwebezustand schrieb und dabei den Bleistift bevorzugte, auf daß ihn nicht das Kratzen der Feder aus dem kreativen chiaroscuro reiße: * Musikbeispiel: J. S. Bach - aus: Aria mit verschiedenen Veränderungen, BWV 988