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J. S. Bach: Matthäus-Passion

Heute möchte ich Ihnen eine Neuerscheinung der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach vorstellen, die kein geringerer als der frühe Revolutionär der Historischen Aufführungspraxis, Nikolaus Harnoncourt, jetzt für die Firma Teldec aufgenommen hat. Und - das ist heute leider nicht selbstverständlich - es handelt sich wirklich um eine ausgefeilte Produktion, nicht um einen Konzertmitschnitt, bei dem vielleicht im Anschluß noch bei Nachaufnahmen die eine oder andere Korrektur vorgenommen wurde. Harnoncourt, sein Concentus musicus, der Arnold Schönberg Chor, die Wiener Sängerknaben und eine ganze Phalanx erstklassiger Solisten haben insgesamt 12 Tage lang in der Wiener Jesuitenkirche aufgenommen. Diese neue Produktion erscheint ziemlich genau 30 Jahre nach Harnoncourts erster, damals im Vergleich zu anderen Einspielungen äußerst radikal anmutenden Schallplatteneinspielung dieses Werkes, mit der er nicht nur in der Fachpresse für Schlagzeilen sorgte. Aus dem fanatischen Verfechter Alter Instrumente und Spielweisen ist lange schon ein weltweit anerkannter Dirigent geworden, dessen Repertoire sich bis ins 20. Jahrhundert erweitert hat und der ständig auch mit den "ganz normalen" stahlbesaiteten Streichern und "modernen" Bläsern der wichtigen großen Orchester arbeitet. Auch da ist Harnoncourt zwar immer noch für Überraschungen gut, bringt auch bei Beethoven, Brahms, Dvorák oder Strauß wichtige Elemente der Partituren ans Tageslicht, die man vorher so noch nicht wahrgenommen hat. Aber insgesamt ist er gelassener geworden, stößt unverkrampft zum Kern der Musik vor und hat auch bereits 1985 völlig unorthodox die Bach'sche Matthäus-Passion mit dem lange von ihm betreuten großen Concertgebouw Orchester in Amsterdam aufgenommen. Seine jetzige Neuaufnahme mit den zum großen Teil langjährigen Weggefährten des klein besetzten, auf historischen Instrumenten spielenden Concentus musicus profitiert von all diesen Erfahrungen - Harnoncourt gelingt eine in Tempi und Ausdrucksgehalt rundum überzeugende Darstellung. * Musikbeispiel: J.S. Bach - "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen" aus: Matthäus-Passion Deutlicher noch als in den früheren Aufnahmen arbeitet Harnoncourt ein wesentliches Merkmal der Bach'schen Matthäus-Passion heraus: die Doppelchörigkeit. Wenn man weiß, daß es Bach oft schon schwer genug fiel, für seine sonntäglichen Kantaten-Aufführungen auch nur eine einigermaßen gute einfache Chor- und Orchesterbesetzung auf die Beine zu stellen, er aber bei der Fortentwicklung der Matthäus-Passion zunehmend Doppelchöriges vorsieht, kann man ermessen, wie wichtig ihm diese getrennte Aufstellung zweier Klangkörper gewesen sein muß. Und dies nicht so sehr wegen der sich daraus ergebenden festlicheren Klangpracht, sondern eher, um das dialogische Prinzip der Textanlage zu verdeutlichen. Picanders Text über die Passionsgeschichte nach Matthäus ist ein betrachtendes Zwiegespräch der Tochter Zion (gesungen von Gruppe 1) mit den Gläubigen (gesungen von Gruppe 2). Hierfür nun ein kleines Beispiel, bei dem Sie auch zwei der hervorragenden Solisten hören können: Christine Schäfer, Sopran, und Bernarda Fink, Alt. Außerdem wird deutlich, mit welcher Dramatik Harnoncourt an die Ausdeutung des Textes geht... * Musikbeispiel: J.S. Bach - "So ist mein Jesus nun gefangen" aus: Matthäus-Passion Nicht nur musikalisch ist diese Neuproduktion der Bach'schen Matthäus-Passion der Firma Teldec rundum empfehlenswert. Auch die Aufmachung kann sich sehen lassen: Keine Plastik-Hülle, sondern ein kleines 96seitiges Büchlein im CD-Format, prächtig aufgemacht mit sehr ausdrucksstarken, fast drastischen Passionsdarstellungen aus dem Ende des 15. Jahrhunderts und - das ist der Clou - mit der Möglichkeit, auf einem entsprechend ausgestatteten Computer die komplette autographe Partitur mitlesen zu können. Hier zum Abschluß noch eine musikalische Kostprobe aus dem 2. Teil, wo Sie auch den phänomenalen Evangelisten Christoph Prégardien hören können. * Musikbeispiel: J.S. Bach - "O Haupt voll Blut und Wunden" aus: Matthäus-Passion Die Neue Platte - heute mit der Neuaufnahme der Bach'schen Matthäus-Passion mit Christoph Prégardien, Tenor, als Evangelist, Matthias Goerne, Baß, als Jesus, Christine Schäfer und Dorothea Röschmann, Sopran, Bernarda Fink und Elisabeth von Magnus, Alt, Michael Schade und Markus Schäfer, Tenor, Dietrich Henschel und Oliver Widmer, Baß. Es singen die Wiener Sängerknaben und der Arnold Schönberg-Chor, es spielt der Concentus musicus Wien, die Leitung hat Nikolaus Harnoncourt. Einen weiterhin schönen Feiertag wünscht Ihnen Ludwig Rink.

Ludwig Rink |