Dienstag, 16. April 2024

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Ja, unsere Kreise berühren sich!

Liebe Christa – Ein Jahr ist es her, seit ich Ihren Brief und dann Ihre Bücher bekam. Ein Jahr – und vor 4 Tagen haben wir zueinander gesprochen – Ich sitze hier, in einem schönen Zimmer in Redcliffe Place, totmüde, den Kopf halte ich mit der rechten Hand, und Augen zu! Und ich "höre" Sie – ich fühlte und habe das Echo wenn Sie hier und da etwas den Atem anhielten (es freute mich!) und dann war es auch wieder ein rhythmisches Fließen. Ich denke daß man zwischen Ahnen und Enthüllung leben und wissen kann oder muß. Ich muß! Wissen ist nicht viel wert oder unheilvoll, wenn es nicht aus dem Boden kommt. Der ist der guide to ourselves, others and – real knowledge – as for us it is possible to get it.

Von Beatrix Langner | 18.03.2004
    Was war es, das die beiden Frauen verband - die Schriftstellerin aus der DDR und die Londoner Psychotherapeutin - deren Lebensbahnen divergenter nicht hätten verlaufen können und die sich persönlich nie begegnet sind? Die deutsche Jüdin mit britischem Pass, die Emigrantin Charlotte Wolff, war im Mai 1933 aus Berlin geflüchtet, nach dem Philosophiestudium in Freiberg bei Husserl und Heidegger, medizinischer Approbation und einer erfolgreichen Laufbahn in der Berliner Schwangerenfürsorge. In Paris fand sie Zugang zu den surrealistischen Kreisen von Saint-Germain um André Breton, Picasso und Matisse. Ihre Studien der Handphysiognomie, aus einer Laune ergriffen, verhalfen ihr zu einem erträglichen Auskommen als Handleserin. Nachdem ihr Londoner Wissenschaftler angeboten hatten, ihre wissenschaftlichen Forschungen der menschlichen Hand unter klinischen Bedingungen fortzusetzen, verließ sie kurz vor dem Krieg Paris und ließ sich als Ärztin in London nieder.
    Am 1. Dezember 1984, fast anderthalb Jahre nach Beginn des Briefwechsels, mittlerweile sind beide beim Du angekommen, schreibt Charlotte Wolff an Christa Wolf:

    Ich fühle denselben Willen zum Absoluten in Dir wie in mir. Das heißt – wir sprechen zueinander ohne je zu "übersetzen". Das ist das Seltenste zwischen Menschen was ich in meinem Leben erfahren habe.

    Und in einer Nachschrift am 7.Dezember fährt sie fort:

    ...wir kennen uns selber doch weniger als wir meinen und wie wir einen anderen Menschen kennen können, ist voll u.(nd) ganz innere Verwandtschaft, die intuitiv uns beherrscht. Das ist es von mir zu Dir.

    Zweifellos war es Liebe, von ihrer Seite zumindest, ein tiefes inneres Berührtsein durch Christa Wolfs Sprache, die sie, wie sie einmal schrieb, in ihrem eigenen Blut hörte. Zum Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft war Charlotte Wolff als Sexualforscherin und Idol der lesbischen Feministinnen in Westberlin noch einmal zu großer Popularität gelangt. Ihre Autobiografie, ihre Bücher über Bisexualität erschienen nach und nach auf deutsch. Bis zur Erschöpfung arbeitet die weit über Achtzigjährige an ihrer Biografie des jüdischen Sexualforschers Magnus Hirschfeld. Ihre psychologischen Studien zur Bisexualität, ihre Theorie der Homoemotionalität als Grundform gewaltfreier gesellschaftlicher Kommunikation trafen sich partiell mit Themen Christa Wolfs. Deren Archäologie des weiblichen Wissens im damals gerade erschienenen Kassandra-Projekt, die Fiktion des Geschlechtertauschs und ein erster zaghafter Ansatz feministischer Literatur in der DDR hatten dieselben Quellen, das Programm einer intellektuell sublimierten und letztlich auf politische und soziale Veränderung zielenden weiblichen Selbsterkenntnis. Dass die beiden Frauen aber, über den Altersunterschied hinaus, nicht nur die Empfindung tiefer Sympathie teilten, sondern sich in einem größeren europäischen Geistes- und Geschichtszusammenhang wussten, war beiden sehr bald klar.

    Ja, unsere Kreise berühren sich – Wir wissen schon von vielen Tangenten – und da sind wohl noch manche (?!) die wir nicht kennen.

    Und so ist dieser Briefwechsel in seiner ansteckenden Intensität, in seinem Drängen, die andere restlos zu ergründen, eine einzige heftige Umarmung, der sich die Jüngere – Christa Wolf ist Mitte fünfzig - immer wieder über Zeiten entziehen muss, um Luft zu holen. Es gibt Telefongespräche, entschuldigende Ansichtskarten, wenn Christa Wolf unterwegs ist, in Italien, Griechenland, USA. Erzählt Christa Wolf, dass sie den Garten geharkt hat, will Charlotte Wolff wissen, ob es Steine oder Hölzchen waren. Berichtet die Schriftstellerin von den Bauarbeiten an dem Landhaus in Mecklenburg (das erste war im Sommer 1983 abgebrannt, die Erzählung "Sommerstück" berichtet später davon), so antwortet Charlotte Wolff wehmütig:

    Ich bin nur bei "mir" zu Haus (hoffe ich!) alle Wohnungen, hier in England, nicht in Paris, sind mir wie Bahnhöfe – ich sitze da wie in Bereitschaft – rauszulaufen zu einem Zug, der mich zu einer Lieben bringt – Nein"! Ich finde die nicht – und in einer Weise hab ich es lieber so.

    Diese siebenundsechzig Briefe sind sozusagen die menschliche Schnittstelle zwischen der Westberliner Feministenszene der frühen siebziger Jahre und der Frauenliteratur in der DDR der achtziger, zwischen den 20er Jahren im lesbischen Berlin und den großartigen Frauen der literarischen und künstlerischen Emigration (viele waren enge Freundinnen von Charlotte Wolff, wie Balandine Klossowska, Tochter des Berliner Malers Eugen Spiro und Mutter von Pierre Klossowski und Balthus oder Aldous Huxleys Frau Maria). All das brennt im Fokus dieses Briefwechsels noch einmal hell auf. Es ist gut, dass diese Briefe nun erschienen sind, die diese leidenschaftliche Forscherin im Kontext der Frauenfiguren Christa Wolfs bewahren – zwischen Kassandra und Karoline von Günderode, zwischen äußerster Hellhörigkeit und tiefster Selbstverlorenheit. Charlotte Wolff starb im September 1986, ohne die Freundin gesehen zu haben. Ihr letzter Brief vom 18. August, in ihrer großen schwungvollen Schrift, spricht nicht von sich, sondern von ihrem Idol Magnus Hirschfeld. Er zeigt Charlotte Wolff so, wie sie sich im Spiegel dieser späten Freundschaft, die sie als wunderbares Geschenk annahm, noch einmal selbst sehen durfte: als Wissenschaftlerin, begierig nach dem klarstmöglichen Urteil, dem präzisesten Gedanken.

    Christa Wolf/Charlotte Wolff, Ja, unsere Kreise berühren sich, Briefe, Luchterhand Literaturverlag München 2004, 160 S.,