Dienstag, 23. April 2024

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Jacobs Leiter

In einem New Yorker Antiquariat kauft ein Mann 4000 Bücher. Es sind deutschsprachige, sie stammen aus dem Besitz von Emigranten. Der Mann folgt den Spuren von Widmungen, ExLibris, einliegenden Zetteln oder Briefen, bis einige der früheren Bücherbesitzer sichtbar werden. - Das ist ein guter Anfang für einen Roman, aber im Falle von Steffen Menschings "Jacobs Leiter" ist die Vorgeschichte authentisch. Die 4000 Bücher stehen heute in einer Berliner Wohnung, der Autor kann sie stolz vorzeigen und scheint wirklich zu jenen Besessenen zu gehören, die an keinem alten Buch vorbeigehen können. Dennoch sagt Steffen Mensching, dass es ihm nicht um den Besitz ging, und dass er Bauchschmerzen hatte beim Erwerb, aber:

Eva Pfister | 23.07.2003
    Ich glaubte, irgendetwas würde aus diesen Büchern entstehen, herausfallen, was es vielleicht sinnvoll macht, die Bücher zu kaufen. Ich hatte diese ...vielleicht sentimentale Vorstellung, dass diese Bücher einmal über den Ozean sind und wieder zurück müssen über den Ozean ... und dann dachte ich, ich glaube, mit diesen Büchern und mit dir passiert etwas.

    Genau wusste Steffen Mensching also noch nicht, was er mit diesen 4000 Büchern vorhatte, als er sie in 80 Kartons verpackte, um sie nach Deutschland zu verschiffen.

    Ich wusste, ich werde diese Bücher erst mal nach Deutschland bringen, und dann werde ich mich damit beschäftigen ... und habe hier jedes Buch einmal in die Hand genommen und habe gesucht, was ist da drin und was interessiert mich, was spricht mich an ... und so bin ich dann auf Spuren gekommen von Vorbesitzern und da musste ich mich dann irgendwann auch entscheiden,... wer scheint mir besonders wichtig, da war der Zufall sicher auch ein starkes dramaturgisches Element.

    So wird für den Autor und Ich-Erzähler die Stehleiter, die in Jacobs Antiquariat zu den oberen Regalen in der verstaubten Kammer führt, zur Himmelsleiter, wie es einst die biblische Jakobsleiter war. Sie erschließt ihm den Zugang zu unbekannten Menschen, denen er nachforscht, sobald er erste Anhaltspunkte findet. In den 50 Büchern aus dem Besitz von Max Martin Nathan fällt ihm zunächst das schöne Exlibris auf, das ihn als Einwohner von Hamburg ausweist. Ein Zirkel und ein Zeichendreieck verschränken sich zu einem Davisstern. Ein jüdischer Freimaurer? Bildbände finden sich mit diesem Zeichen, klassische Literatur, von Goethe, Storni, Conrad Ferdinand Meyer und anderen - alle sehr gut erhalten, dazu ein zerfledderter Baedeker von der Schweiz mit einem kleinen Schokoladefleck. Zwei Kartons später stößt Mensching beim Auspacken und Sichten auf die Zeitschrift "Kunstblatt der Jugend" und darin auf Zeichnungen eben dieses Max Martin Nathan, - ein Elfjähriger mit außerordentlicher Begabung. Der Autor nimmt die Spur auf. Recherchen in Hamburg klären ihn über die Familie Nathan auf, über ihr Ende in Ausschwitz und die Emigration der beiden Kinder. Dann kommen weitere Entdeckungen in dieser aufregenden Forschungsreise:

    An dem Punkt ist das Buch ja eine Privatdetektivgeschichte, ohne dass es um ein kriminelles Delikt geht... im Archiv war das natürlich ein glücklicher Zufall, in fünf großen Ordnern, in denen ziemlich chaotisch ein Nachlass hineingepresst wurde, eine kleine Telefonnummer zu entdecken auf einem beliebigen Briefbogen, und das war dann die Spur, um an den Cousin von Nathan ranzukommen. Und dass der so offen war, mit mir überhaupt zu sprechen ... und einfach gesagt hat, ok komm vorbei, wenn du vorbeikommen willst.

    So erfahrt Mensching, dass Max Martin Nathan Architekt war, als Maler nicht reüssierte und schließlich nach Australien auswanderte. Aber das ist nur eine der vielen Geschichten, zu denen der Autor Jacobs Leiter geführt hat. Drei Emigrantenschicksale erzählt Steffen Mensching, zwei davon hat er aus den Büchern rekonstruiert, neben Nathans die des überzeugten Kommunisten Abraham Jacobi, der 1853 aus Preußen nach England zu Engels floh, dann als Arzt in New York wirkte und dort den Communisten-Club mitbegründete. Hildes Geschichte hingegen entstand nicht aus den Büchern, sondern verdankt sich einer Begegnung in New York. Dorthin kam der Autor als Stipendiat, wollte eigentlich die Geschichte seiner Mutter schreiben, bevor er sich in den Emigrantenkreisen und ihren Büchern verfing. Auch einem Zufall verdankte er, dass er Zugang fand zum Stammtisch, den einst Oskar Maria Graf gegründet hatte. Nach einer Lesung an der New York University sprachen ihn zwei ältere Damen an

    Da sagte die eine, ach kommen Sie doch bei uns vorbei, wir machen da diesen Stammtisch jeden Mittwoch und wir freuen uns über Leute, die kommen und Deutsch sprechen, denn erster Sinn dieses Stammtischs ist ja, weiterhin Deutsch zu sprechen, mit dieser Initiative wurde er begründet von Graf, also die Amtsprache ist Deutsch an dem Tisch, und ich muss sagen, ich hab mich selten so schnell in einem Raum und unter Leuten so wohl gefühlt wie an diesem Stammtisch.

    Die alten jüdischen Emigranten, die Steffen Mensching dort traf, wunderten sich zunächst darüber, dass ein junger Ostdeutscher sich für ihre Geschichte interessierte, aber dann erführ er immer mehr, und so kann er in seinem Roman nun auch das Leben von Hilde Berger erzählen und damit das vielleicht aufsehenerregendste Schicksal, zu dem diese "Jakobsleiter" hinführte

    Ihre Biographie war mir einfach wichtig, nicht nur, weil sie Schindlers Liste getippt hat, das ist das vielleicht Sensationelle dieser Geschichte, mich hat aber der Kosmos ihres Lebensberichts interessiert, ihre Herkunft als Tochter eines polnischen jüdischen Schneidermeisters, der in Berlin seinen kleinen Laden hat, und die zionistische Jugend und dann der Weg in die kommunistische Partei, die Verhaftung als Trotzkistin, Zuchthauszeit,... und für sie war auch wichtig, dass da jemand kommt, der nicht nur fragt Du warst doch bei Oskar Schindler dabei, sondern der sich für das gesamte Leben interessiert.

    Tatsächlich berichtet Mensching ausführlich von den Aktivitäten der jungen Berliner, Hilde und Hans Berger und ihren Freunden, die im Widerstand agierten, bis sie verhaftet wurden. Hilde wird 1939 aus dem Zuchthaus Cottbus entlassen, aber sie lehnt das Angebot eines norwegischen Genossen ab, sie allein aus Deutschland herauszubringen. Statt dessen fahrt sie zu ihren Eltern nach Polen, wo sie schließlich Sekretärin von Oskar Schindler wird und überlebt, weil sie ihren eigenen Namen mit auf die Liste setzt, die sie tippen muss.

    Steffen Mensching verknüpft in seinem ehrgeizigen Romanprojekt sieben Erzählstränge. In eher flapsigem Jargon berichtet er von seinem Alltag in New York, zunächst als Stipendiat, dann als Besitzer der 4000 Bücher, die in zehn Tagen für den Schiffstransport in Kartons zu verpacken sind, eine Knochenarbeit für den Ich-Erzähler und den Antiquariat Jacob, die sich währenddessen gerne über Politik streiten. Szenen aus einer Kindheit in der DDR sind in dem Buch ebenfalls eingestreut und die Geschichte der Mutter, respektive des Großvaters des Erzählers.

    Als Leser springt man so gezwungenermaßen von einer Epoche zur ändern, von einem Ort zum nächsten. Das ist manchmal irritierend. Nicht nur, weil die Fülle der Geschichten verwirrt, sondern weil Mensching ohne Wertung die Geschichte der Jüdin Hilde, die dem Holocaust nur knapp entging, neben seine Familiengeschichte stellt, beginnend mit dem Großvater Arthur Körner, der als Lageraufseher nach dem Krieg verurteilt wurde, weil er die Kriegsgefangenen bespitzelt und als Agent provocateur gewirkt hätte. Der Großvater selbst hatte die Anschuldigung, stets zurückgewiesen. Steffen Mensching geht mit dem Problem der Nachfolge von Täter und Opfer erstaunlich unbefangen um. So referiert er ein Gespräch mit Lily, einer weiteren Emigrantin:

    Ich erzähle Lily das Leben vom Kraftfahrer und Kontrolltruppführer Arthur Paul Körner. Auch keine schöne Geschichte, sagt sie. Du glaubst, er hat grundlos zehn Jahre gesessen? Ich habe Zweifel, keine Beweise, ich meine, möchtest du einen Nazi zum Großvater haben? Das wäre in meinem Fall, sagt Lily, wenig wahrscheinlich.

    Aber auch das sei kein peinlicher Moment gewesen, sagt Steffen Mensching, denn im Gespräch mit den alten Menschen herrschte ein Klima des Vertrauens, der Offenheit - und außerdem:

    Ich fühle mich für diese Geschichte verantwortlich, aber ich fühle mich für diese Geschichte nicht schuldig in dem Sinne.

    Dennoch ist der Roman von Reflexionen durchzogen, in denen der Autor sich fragt, wie er zu den Personen seiner Nachforschungen steht und was ihn eigentlich antreibt zu der gewaltigen Arbeit. Die Splitter, die der Ich-Erzähler aus seiner Kindheit verrät, deuten etwas an: da ist ein Junge, der in der DDR aufwächst und sich für die Ideale der Arbeiterbewegung begeistert, aber in einer Familie, die sich durch ihre Geschichte davon gänzlich distanziert. Dem niemand erzählt, was das eigentlich ist, ein "Jude".

    Aus dem Jungen ist ein Autor geworden, der sich mit der deutschen Geschichte beschäftigt und der seine Identität findet als Fragender und Forschender. Darum findet Steffen Mensching es auch weniger wichtig, alle Schicksale zu erzählen, von denen er Spuren fand, als eine Methode aufzuzeigen, die vielleicht auch anregen kann ...

    dass man aufmerksamer ist, dass Geschichte nichts Museales ist... sondern wo Vergangenheit oft mit uns zusammenstößt und mit uns zu tun hat und vielleicht auch hilft, diese Gegenwart besser zu durchleben und zu ertragen, weil wir uns dadurch nicht so einsam vorkommen, sondern wir sehen uns dadurch in einer Kontinuität mit anderen Geschlechtern und Generationen, das halt ich für was ganz Wesentliches.