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Jacques Derrida neu entdeckt

Für Peter Sloterdijk steht die Forderung nach Distanz im Dienst einer Wertschätzung. Distanz heißt dabei aber nicht Nivellierung und empathielose Sachlichkeit, sondern die Gewinnung einer geeigneten Betrachterposition, um sich tatsächlich ein umfassendes Bild von der Größe des Philosophen Jacques Derrida zu machen. Zu diesem Zweck setzt Sloterdijk Derrida zu bedeutenden Autoren in Beziehung.

Von Hans Jürgen Heinrichs | 26.06.2007
    Bereits der Titel von Peter Sloterdijks neuestem Buch verweist auf das von ihm angewandte Verfahren: Es handelt sich nicht um eine werkimmanente Rekonstruktion der Gedanken des großen, 2004 verstorbenen Philosophen Jacques Derrida. Was Sloterdijk vielmehr anstrebt, ist die Erschließung überpersönlicher und werkübergreifender Horizonte. Auf diese Weise kommt die fremdartig anmutende Charakterisierung Derridas als Ägypter zustande. Derrida selbst war solchen Vorgehensweisen gegenüber skeptisch und sah darin eher die Verweigerung einer genauen Textanalyse.

    "Wenn ich mich dennoch, diese Warnung im Gedächtnis, für diesen zweiten Weg entschieden habe, dann aus dem Grund, weil ich denke, an ekstatisch-buchstäblichen Derrida-Lektüren in aller Welt bestehe ohnehin kein Mangel; zum anderen weil ich den Eindruck nicht loswerden kann, dass man bei all der berechtigten Bewunderung für diesen Autor nur selten auf ein hinreichend distanziertes Urteil über seine Stellung im Feld der zeitgenössischen Theorie trifft."

    Für den in Karlsruhe und Wien Philosophie und Ästhetik lehrenden Peter Sloterdijk steht seine Forderung nach Distanz im Dienst einer Wertschätzung. Distanz heißt dabei aber nicht Nivellierung und empathielose Sachlichkeit, sondern die Gewinnung einer geeigneten Betrachterposition, um sich tatsächlich ein umfassendes Bild von der Größe dieses Autors, von dem geistigen Gebirgszug zu machen, in dem Derrida als eine der höchsten Erhebungen aufsteigt. Zu diesem Zweck setzt Sloterdijk Derrida zu bedeutenden Autoren in Beziehung, löst dessen Denken aus dem originären Kontext heraus und ortet es neu unter anderem in Bezug zu Niklas Luhmann, Sigmund Freud, Thomas Mann und Hegel. So entstehen sieben in sich abgeschlossene Vignetten oder essayistische Impressionen und Meditationen, die aber auch zugleich in einer konzeptuell aufgebauten Abfolge stehen.

    Der innerste Kern, der die Texte zusammenfügt und der auch im Titel aufscheint, ist das Verhältnis des Judentums zu Ägypten. Sloterdijks Titel-Formulierung "Derrida, ein Ägypter" lehnt sich an die Überschrift "Moses, ein Ägypter” in Freuds Spätwerk "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" an.

    "Derrida formalisiert den von Freud erläuterten Gedanken, wonach man nicht Jude sein kann, ohne in gewisser Weise Ägypten - oder ein Gespenst Ägyptens - zu verkörpern [...] Der Auszug aus Ägypten brachte, nach Freud, die mosaischen Juden als ein heteroägyptisches Volk hervor."

    Auf intellektuell und stilistisch brillante, zuweilen sprachspielerisch übermütige Art und Weise beschreibt Sloterdijk den Exodus, die jüdische Sezession von der ägyptischen Welt:

    "Die Wissenschaft von den Religionen wird eine Teildisziplin der Transportwissenschaft [...] Der Aufbruch Israels aus Ägypten ist der Archetypus aller Transportgeschichten."

    Die Frage, wie Gott reisefähig gemacht werden konnte, wurde von den Juden auf geniale Weise beantwortet: Die schweren Götter der Ägypter konnten aufgrund ihrer steinernen Unbeweglichkeit nicht auf die Reise gehen. Das Medium Stein musste in das Medium Schriftrolle transformiert werden.

    "Wenn also die jüdische Verschriftlichung Gottes seine Übersetzung ins transportable Register mit sich brachte, liegt es nahe zu vermuten, es könnte dem jüdischen Volk auch die Übersetzung des Archetypus Pyramide in ein tragbares Format gelungen sein."

    Wer Sloterdijk bis zu diesem Punkt neugierig und gebannt gefolgt ist, die Verknüpfungen des Derridaschen Werkes mit der Gedankenwelt von Niklas Luhmann, Sigmund Freud, Thomas Mann, Franz Borkenau und Régis Debray in sich aufgenommen hat, wird in dem Kapitel "Hegel und Derrida” eine weitere sprachliche Zuspitzung vernehmen:

    "Noch suchen wir nach einem beweiskräftigen Indiz dafür, dass Derrida selbst die Kontinuität bewußt war, durch die das Immobilienunternehmen Pyramide mit dem jüdischen Projekt verbunden blieb, Gott ein mobiles Format zu geben [...] Derrida dachte die Pyramide als eine transportable Form."

    Alle Kapitel dieses Bandes durchzieht die Frage nach der Legitimation, Effektivität und auch Zukunft von Derridas Verfahren der Dekonstruktion, das Texte in seinen Schwächen und Brüchen, Sprüngen und Lücken stark zu machen versucht. Ist dieser sich ganz in den Dienst eines Textes stellenden Interpretation eine unterwürfige Haltung eigen, wie dies Sloterdijk in seiner letzten Studie "Zorn und Zeit" kritisch vorbrachte? Oder ist diese Vorgehensweise nicht in erster Linie ein enorm produktives, jeden Text aufwertendes und in möglichst vielen Perspektiven bedenkendes Vorgehen, das jede Einseitigkeit und projektive Verzerrung auszuschließen versucht? Ganz in diesem Sinne spricht denn auch Sloterdijk im vorliegenden Band vom dekonstruktiven Gebrauch der Intelligenz als einer "Prophylaxe der Vereinseitigung”. So gesehen erhält Derridas Unentschiedenheit in vielen Fragen den Charakter eines konstitutiven Schwankens, das, als methodische Haltung, nur noch sehr wenig mit einer persönlichen Unentschiedenheit zu tun hat.

    Dennoch hat das ganz persönliche Schwanken Derridas zwischen der Überzeugung, dass mit seinem Tod auch sein Werk aus dem kulturellen Gedächtnis verschwinde und der gleichzeitige Glaube an das Überleben seiner Theorie, auf Sloterdijk eine nachhaltige Wirkung ausgeübt. Seine eigenen Überlegungen werden nun mit Sicherheit zur Fortdauer von Derridas Gedankenwelt beitragen, vor allem dadurch, dass sie Sloterdijk aus dem originären Kontext herauslöst und ihr neue, weite Assoziationsräume erschließt. Ein solches Verfahren zielt gerade nicht auf eine Derrida von außen zugewiesene Identität. Die experimentelle Neuordnung und erweiternde Zuordnung seiner Vorstellungen ebnen seine Singularität nicht ein. So eröffnet Sloterdijk durch die Hinzunahme von Niklas Luhmann eine zunächst höchst befremdliche, dann aber umso aufschlussreichere Konstellation zweier Denkformen, die für das 20. Jahrhundert exemplarischen Charakter haben, die Aufbruch und Abschluss einer epochalen Entwicklung signalisieren. Im Bezug zu Freud kann Sloterdijk Derridas Schlüsselbegriff der "Verschiebung” oder "Entstellung” eine enorme Tragweite verleihen. Schließlich erlaubt die Lektüre Sigmund Freuds und Thomas Manns einen neuen Blick auf Derridas Dekonstruktionsverfahren und macht verständlich, inwiefern die Juden nach ihrem Auszug aus Ägypten ein heteroägyptisches Volk wurden, das ihr Ägyptertum mit anderen Mitteln fortsetzte. Die Frage nach dem Weg, den die Pyramide auf den Pfaden der Textwerdung in den jüdischen Schriftrollen)zurückgelegt hat, beendet Sloterdijk in dieser teilweise mitreißend spekulativen Reflexion mit einer Formulierung, die sich aus höchster Abstraktion und tiefer Mystik speist:

    "In jedem Moment, in dem es sich auf sich besinnt, steht das Leben an seinem Grab-Schacht, seiner selbst gedenkend - aus der Tiefe tönen die Stimmen des eigenen Gewesenseins."