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Jahrbuch der Lyrik 2004

Das Jahrbuch der Lyrik gibt es nun seit 25 Jahren. Eine Erklärung für diese Kontinuität ist sicherlich die Leidenschaft, mit der sich der Herausgeber Christoph Buchwald immer wieder bei Verlagen für das von ihm erfundene Periodikum eingesetzt hat. Ein anderer Grund für den dauerhaften Erfolg des Jahrbuchs und sein Ansehen in der Lyrikszene, ist das äußerst bewährte Konzept, jedes Jahr einen Dichter als Mitherausgeber zu verpflichten. Dadurch bleibt das "Jahrbuch" lebendig und neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen.

Tobias Lehmkuhl | 20.06.2003
    Einmal traten gleich zwei Mitherausgeber auf. In der Ausgabe 1996/97 richteten Michael Braun und Michael Buselmeier das "Jahrbuch" nach Vorbild der "Frankfurter Anthologie" aus. Sie präsentierten die ausgewählten Gedichte zusammen mit kleinen Kommentaren, in denen sie Gedicht und Dichter erläuternd vorstellten. Im Unterschied zu Marcel Reich-Ranickis in der FAZ erscheinendem Dauerbrenner, widmeten sich Braun und Buselmeier in diesem leider einmaligen Experiment allein der Gegenwartslyrik.

    Aber auch auf andere Weise gab das "Jahrbuch" häufig Anlass zur Diskussion über den Stand der zeitgenössischen Lyrik, ob durch die Nachworte der Herausgeber, Briefe von Dichtern und Lesern oder schlicht durch die Gedichte selbst. Und nebenbei gab es immer wieder ein Kapitel mit dem Titel "Blick zum Nachbarn", in dem Dichter anderer Sprachen vorgestellt wurden.

    Das "Jahrbuch der Lyrik 2004", wie die aktuelle Ausgabe futuristisch heißt, beschränkt sich ganz auf die lyrische Produktion deutschsprachiger Dichter. Bei der Sichtung von 66 Kilogramm eingesandter Manuskripte stand Christoph Buchwald als diesjähriger Mitherausgeber der Dichter, Romancier und Verlagsleiter Michael Krüger zur Seite. Gemeinsam wählten sie knapp 120 Gedichte aus und ordneten sie zu fünf Kapiteln.

    Drei davon - "Portraits/Selbstportraits", "Große Meere" und "Landeskundliche Berichte" - sind thematisch zentriert, die zwei anderen eher assoziativ komponiert. Von den 93 in die Auswahl aufgenommenen Dichtern ist die deutliche Mehrheit bereits arriviert oder aus vorherigen Ausgaben bekannt, nicht wenige von ihnen waren schon beim Jahrbuch-Debüt 1979 dabei. Auffallend ist, dass die derzeit tonangebenden Jahrgänge um 1960 nicht so zahlreich vertreten sind, wie sonst üblich: Thomas Kling ist nicht dabei, Marcel Beyer nicht, und auch Raoul Schrott und Durs Grünbein scheinen diesmal von einer Teilnahme Abstand genommen zu haben. Statt dessen findet man vermehrt Gedichte der Generation eines Oskar Pastior oder der eines Richard Pietraß.

    Auch die junge Generation hat sich breiten Platz erkämpft. Hier fällt auf, dass die neuen Stimmen der letzten Jahrbücher anderen gewichen sind. Es lässt sich fragen, ob sich keine neuen Stimmen von einiger Beständigkeit finden lassen oder ob man ein ums andere Mal aufs falsche Pferd gesetzt hat. Aber weder kann man immer den richtigen Riecher haben, noch werden unermüdlich gute Gedichte geschrieben. Und was etwa von Nicolai Kobus, Jan Wagner oder Nico Bleutge, die alle nach 1970 geboren wurden, ins "Jahrbuch" Eingang gefunden hat, ist allemal eine Veröffentlichung wert. Von Nico Bleutge stammt das vielleicht sogar herausragendste Gedicht des Bandes.

    leichter sommer



    für Bernard Noël

    als läge noch eine schicht zwischen ihnen und dem schmalen streif der küste traten die wolken hervor, scharf ab- geschnitten an der unteren kante, oben ein faltiger riemen, in den die möwen kleine löcher stanzten. beim nächsten aufschauen hatte der dunst die fläche aufgerauht und der wind verfing sich in den drahtnetzen knapp unterm wasserspiegel, die vögel waren längst verschwunden, der himmel hielt noch ein weilchen jene luft die unter ihren flügeln rauschte

    Hier paart sich handwerkliches Können mit dem Geschick, schlichte Bilder präzis zu zeichnen und ihnen den Reiz des Besonderen zu verleihen. Nico Bleutge setzt dabei weniger auf traditionelle Rhythmen, als auf den spannungsvollen Wechsel von kurzen und langen Silben. Sein Blick auf die Landschaft, auf das Meer und den Himmel darüber ist nicht sehnsüchtig oder mythisch verklärt, sondern ganz auf den Gegenstand gerichtet. Das Gedicht dient Bleutge als Wahrnehmungsinstrument: Wie eine geometrische Darstellung fassen die zwei Sätze, aus denen das Gedicht besteht, die zwei Blicke, die es beschreibt.

    Im Jahrbuch findet man sowohl solide gearbeitete, tadellos stimmige und durchaus lesenswerte Gedichte, als auch Verwirrendes und Überraschendes. Wie etwa das "lamento" im Darmstädter Dialekt, das der leider weithin unbeachtete Fitzgerald Kusz beigesteuert hat.

    Aber es findet sich auch Einiges, das schlampig zusammen geschustert wirkt, wenig bis gar nicht durchdacht ist und so einfallslos wie altbacken daher kommt. Vieles in der Auswahl, die das "Jahrbuch der Lyrik 2004" bietet, kann man beschaulich oder aber schlicht langweilig nennen. Gespreizt und geschwätzig sind etwa die folgenden Verse von Elisabeth Borchers: "Jede Zypresse ein Stich./ Jede Sonne ein Brandmal./ Jeder Mond eine Verengung der Arterien./ Die harmlosen Tunnels rufen ins Schwarze". Ebenso bemüht und ungeschickt berichtet Martina Hefter von "heuschnupfen-schweren/ beschwerden". Und Heinz Czechowski dichtet betulich: "Die DDR/ war uns kein unproblematisches Land".

    Insgesamt also wäre weniger mehr gewesen. Auch wenn kaum Lyrik veröffentlicht wird, so kann nicht gelten, dass man soviel wie irgend möglich veröffentlichen sollte. Eine schlankere Auswahl hätte dem "Jahrbuch der Lyrik" eine schärfere Kontur verliehen. Das so gezeichnete Bild von der deutschen Gegenwartslyrik erinnert an eine Rumpelkammer, schlecht beleuchtet und unaufgeräumt, mit versteckten Schätzen, aber auch einem Haufen verstaubten Nippes. Es bleibt die nicht unwahrscheinliche Hoffnung, dass das "Jahrbuch der Lyrik 2005" die deutsche Gegenwartslyrik wieder ins rechte Licht rückt.