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Jahre des Werbens und Leidens

Mehr als vier Jahre musste Siegmund Freud warten, bis Martha Bernays im September 1886 seine Frau wurde. Nun erscheint der erste Band der "Brautbriefe", die Freud und Bernays einander zwischen 1882 und 1886 geschrieben haben.

Von Annette Meyhöfer |
    Martha Bernays und Sigmund Freud kannten sie sich gerade mal zwei Monate, als sie sich heimlich verlobten. Er konnte es kaum fassen, ein "gaukelnder Traum" war das für ihn, ein Traum, aus dem zu erwachen er sich fürchtete. Doch die Freunde versicherten ihm, es sei reinste Wirklichkeit. Sein "sweet darling girl" gab ihm den Glauben an sich selbst zurück, neue Hoffnung und Arbeitskraft, die er zu diesem Zeitpunkt so dringend nötig hatte.

    Aber Vorsicht: "Ich bin so ausschließlich, wenn ich liebe", schrieb Martha Bernays an ihn. Mehr als vier Jahre musste Sigmund Freud, 26 zu Beginn der Affäre, warten, bis Martha Bernays endlich, im September 1886, ganz offiziell sein ist. Vier Jahre des Werbens und Leidens, des Hoffens und Kämpfens, eine Zeit, in der sie die meiste Zeit getrennt sind. Der Verlobungsbrief erreichte sie im fernen Wandsbek, wo sie bei Verwandten den Sommer verbringt. Es bleibt weitgehend eine Liebe in Briefen. Im ersten von 250 Briefen zwischen Juni 1882 und Juli 1883 heißt es bezeichnend "Sei mein, wie ich es mir denke". Nichts weniger als das forderte Freud von seinem, wie er sie nannte, "Bräutchen", seinem "Weibchen":

    "Die Geliebte soll doch kein Spielpüppchen werden, sondern ein guter Kamerad, der ein kluges Wort noch übrig hat, wenn der gestrenge Herr mit seiner Weisheit zu Ende ist. Und ich habe versucht, ihre Unbefangenheit zu brechen, sie daran zu gewöhnen, dass sie mit ihrem Urteil schüchtern zurückhält, bis sie des meinigen sicher ist."

    Sie antwortet, nur sieben Tage liegt die Verlobung zurück, auf diesen "Ausbruch seiner schwerfälligen, selbstquälerischen Art", seiner Eifersucht auf ihre Vergangenheit wie so oft mit ein paar Zeilen des à-la-mode-Dichters Friedrich Rückert: "So hab ich keinen noch geliebt, so hat mich keiner noch geliebt!"

    Freud hatte mehrmals in seinem Leben ein Autodafé unter seinen Aufzeichnungen und Briefen veranstaltet. Schon 1885 erfreute er sich an der Vorstellung, wie sehr sich die Biografen dereinst plagen sollten. Nur die Briefe Marthas und der Familie wollte er verschonen. Hingegen drängte die Verlobte darauf, am Hochzeitstag alles zu verbrennen. Doch sogar ins englische Exil wurden die "Brautbriefe" gerettet, wo die "Frau Professor" nach Freuds Tod 1939 erneut ihre Vernichtung erwog. Seit Ernest Jones sie für seine Biografie einsehen und daraus zitieren durfte, waren sie unter Forschern und Anhängern fast schon Legende, ein Mythos, weil sie einen ganz anderen Freud zeigen sollten. Und als sein jüngster Sohn, Ernst, schließlich einen Teil dieser Briefe veröffentlichte, konnte man darin, zumal in den Bildern des Wiener und Pariser Lebens, den glänzenden Beobachter und Stilisten entdecken - und, natürlich auch, den zärtlich Liebenden. Allein die Braut blieb stumm, eine schemenhafte Gestalt, damals wie in späteren Jahren nur durch Freuds Brille und die seiner Biografen zu erkennen.

    Erst 2000 sollten, nach dem Willen Anna Freuds, der strengen Hüterin des väterlichen Erbes, die Briefe vollständig erscheinen dürfen. Nun ist, das ist die eigentliche Sensation dieser so sorgsam, in wahrer Mammutarbeit editierten Korrespondenz, Martha Bernays zum ersten Mal zu vernehmen: Ein gerade über 20 Jahre altes Mädchen, gebildet und klug, ein wenig schüchtern in ihren ersten Äußerungen, doch selbstbewusst genug, dem überschwänglichen, aufbrausenden, verzweifelten Verlobten zu begegnen.
    Dabei hatten sie einander Sachlichkeit versprochen. Für ihn bedeutete dies vollkommene Offenheit, ja, die Verpflichtung, einander geringste Tätigkeiten, intimsten Gedanken und Empfindungen mitzuteilen.

    "Ich weiß wohl, Du bist nicht schön im Sinne der Maler oder Bildhauer, wenn Du auf strenge Korrektheit im Wortgebrauche dringen willst, muss ich gestehen, Du bist nicht schön. .."

    Er konnte, er wollte nicht schmeicheln, war ohnehin immer "unempfindlich, oder unterempfindlich für bloße Formenschönheit", aber davor hatte die Natur sie ja zum Glück bewahrt, ihr zwar schöne Augen und eine schöne Stirn, dafür einen Mund und eine Nase, fast männlich ausdrucksvoll, geschenkt. Was lag ihm auch an einer Ballkönigin? Seinem Prinzesschen, seiner "Herrin und Lebensgefährtin", sollte es egal sein, "ob sie goldene Haare hat oder grün-blau-rote".

    "Und vergiß nicht, mein einziges teures Mädchen, ... dass Schönheit nur wenige Jahre anhält und wir ein ganzes Leben miteinander aushalten wollten. Ist die Glätte und Frische der Jugend weg, dann ist nur mehr das Schönheit, wo Güte und Verstand die Züge verklären, und dann holt mein Marthchen die anderen ein."

    Aber er wollte ihr die kleinen Koketterien nur zu gern verzeihen, wenn sie ihm doch bloß alles schrieb, was ihr durch den Kopf flatterte, ganz ungeschmückt, ganz ohne schriftstellerischen Aufputz, in freier Assoziation gewissermaßen. Allein, man sollte sich hüten, in dem ziemlich frisch, nach acht recht verbummelten Jahren promovierten Doktor, den Erfinder der Psychoanalyse, den Revolutionär des Seelenlebens entdecken zu wollen. Ein Tintenklecks in einem Brief oder das Zerbrechen eines Verlobungsringleins waren noch keine Fehlleistungen. Ja, seltsame Träume hat sie manchmal, Träume, in denen sie Briefe von ihm empfängt.

    Er dagegen träumt selten, und wenn doch, dann nichts von dem, was ihn wirklich beschäftigt, er träumt nur von ganz unbedeutenden "Tagesresten"; noch nie hat er von Martha geträumt. Ausgerechnet sie wird zum ersten Mal das Wort "unbewusst" gebrauchen, vielleicht weil sie das Wort bei Jean Paul gelesen hat. Der Begriff war ohnehin in Mode, bevor Freud ihm das theoretische Gewicht verschaffte.

    Der Briefwechsel offenbart: Er ist der Liebeskranke, von Krisen Geschüttelte, immer wieder psychisch Erschöpfte. Sie ist die Vernünftige, die Sachliche. Freud war einer jener jungen Männer, die, nach einem Wort von Emerson, "mit Messern in Gehirnen" herumliefen. So ist sein Liebeswerben auch eine Art Seelenlaboratorium, ein sehr viktorianisches, gewiss. Dieser junge Mann von 26, der sich in allen Wissenszweigen erprobt, der nur auf den ausdrücklichen Rat seines verehrten Lehrers Erich von Brücke die Physiologie die Stelle als Demonstrant oder Wissenschaftsgehilfe aufgegeben hatte, um die wenig aussichtsreiche Karriere eines Mediziners einzuschlagen, - dieser junge Mann war in Gefühlsdingen ein völliger Dilettant, einer, der eine verspätete Adoleszenz durchlebt, von Skrupeln und Selbstzweifeln geschlagen. Ein Mann, der in seiner Jugend nicht jung war und jetzt, im reiferen Alter, nicht altern wollte. Allein seine bitterliche Armut genügte, den stetig zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex Schwankenden in einen nörglerischen, tyrannischen und etwas jämmerlichen Liebenden zu verwandeln. Und er war doch, wie der Held seiner Jugend, David Copperfield, mit einer Glückshaube geboren, zu Höherem bestimmt! Schon zwei Monate nach ihrer heimlichen Verlobung möbliert er das künftige Idyll.

    "... zwei oder drei Zimmerchen, um darin zu wohnen und zu essen und einen Gast zu empfangen und einen Herd, auf dem das Feuer für die Mahlzeiten nicht ausgeht ... Tische und Stühle, Betten, Spiegel, eine Uhr, die die Glücklichen an den Lauf der Zeit erinnert, ein Lehnstuhl für eine Stunde behaglicher Träumerei."
    Aber wie sollte man diese ganze "kleine Welt von Glück, von stummen Freunden und Zeugen edler Menschlichkeit" finanzieren? Sie hatten doch zum Miteinanderleben nichts als ihre Liebe. Er muss sich dauernd sorgen um seine Familie, die Mutter, die häufig krank ist, die fünf Schwestern, die er oft so elend findet; allein der Vater, der Wollhändler Jacob Freud, der in Wien wohl niemals eine feste Anstellung oder ein Gewerbe fand, erscheint ihm manchmal als der "größte Optimist unter uns jungen Leuten". Und wie konnte er selbst an eine Zukunft glauben, von der er noch nicht einmal wusste, wie sie aussehen sollte, wenn es ihn doch von der ungeliebten Medizin immer wieder zum Philosophieren zog, er die Wissenschaft schmerzlich vermisste. Nicht einmal seine Ratgeber und Freunde, Hermann Nothnagel, dieser "germanische Waldschrat", der ihm immerhin die Stelle als Aspirant in der Chirurgie, auf der niedersten Stufe der Medizinerhierarchie besorgt hatte, oder Josef Breuer, der ihm Geld borgte und ihm schon 1882 mit seinen Erzählungen von Bertha Pappenheim, die als Anna O. in die Geschichte der Psychoanalyse einging, den Dietrich reichte zu künftiger Erkenntnis, nicht einmal sie vermochten, ihm mehr als Plagen und Plackerei um kümmerlichsten Lohn in Aussicht zu stellen. Und er ist doch zu verschwenderisch, vor allem das Rauchen kann er nicht lassen, ein "wandelnder Schornstein". Deshalb soll Martha die "Bundes- oder Kriegscassa" verwalten, sein "Sparmütterchen" werden. Kaum ein Dokument ist erschütternder als die Aufstellung seiner Bilanz, seines "Lebens in kleinen Zahlen", selbst das Stücklein Schokolade, das er sich, weil er so hungrig war, auf dem Weg zu Josef Breuer leistet, ist darin aufgelistet.
    "..es kann vorkommen, dass Du im Besitz eines Schatzes dennoch mir leeren Händen oder dastehst ...Deine 'Statistik des Elends' hat etwas Tragikomisches."

    Das ist ihre Antwort. Dennoch, wie konnte er sich seines Schatzes je sicher fühlen, wie konnte er auf Martha hoffen, die, finanziell kaum besser gestellt war, doch immerhin aus einer hoch angesehenen Rabbiner- und Gelehrtenfamilie stammte? Sicherlich durfte sich ihre Mutter Emmeline Bernays einen vielversprechenderen Bewerber erwarten. Und hatte es nicht in der Vergangenheit an Verehrern keineswegs gemangelt? Welche Frechheit von dem Komponisten Max Mayer, Marthas engem Freund, zu schreiben, dass sie bei ihrer Liebesbedürftigkeit ohnehin über kurz oder lang einen anderen finden würde. Welche Beschmutzung seiner Verlobten! Schlimmer noch war der Violinist Fritz Wahle, den er für einen Verbündeten gehalten, den er sogar in das Geheimnis ihrer Verlobung eingeweiht hatte.

    "Wer darf Dich außer mir geliebtes Marthchen nennen, von seiner unendlichen Liebe zu schreiben, und wer mich in Deinen Augen verächtlich machen. Ich kann da rücksichtslos sein; guai a chi la tocca!"

    Wehe dem, der sie berührt! So lautete einst der Kriegsruf der lombardischen Könige, wenn ihnen die Krone aufgesetzt wurde. Aber, schlimmer noch, dieser unwürdige Kerl, der ob ihres Streits weinte, grässlich genug, hatte auch ihm, Freud, die Augen feucht werden lassen. Und ein Mann, der ihn weinen machte, musste viel tun, damit er ihm verzieh: Wehe ihm, wenn er ein Feind wird. Freud war aus härterem Stoff gemacht.
    "Wenn mir diese Erinnerungen kommen, in denen Du doch eigentlich so wenig belastet erscheinst, verliere ich die Herrschaft über mich, und wenn ich die Macht besäße, die ganze Welt, uns mit einbegriffen, zu zertrümmern, um sie von neuem spielen zu lassen; auf die Gefahr hin, dass sie nicht wieder mich und Martha hervorbringt, ich täte es unbedenklich."
    Aber vielleicht weiß sein Mädchen ein Zaubersprüchlein?
    "Geliebter, warum verstimmen wir uns eigentlich gegenseitig, ist das nicht ein Unrecht, sind wir denn nicht Beide jung und haben uns Beide so lieb und geht's uns denn schlimmer als hunderttausend Andern armen Leuten, die so unklug waren, als wir? Sind wir nicht Beide gesund... Geliebter – unsere Zärtlichkeiten werden wir auch gewiß nicht 'einrosten' lassen, und zum alt und grämlich werden - dazu haben wir noch furchtbar lange Zeit, deshalb, Geliebter, laß uns froh sein, laß uns unseres Glückes, unseres Besitzer miteinander freuen, laß uns gar nicht zuviel an die Zukunft denken, sondern uns die schöne Gegenwart einander so ruhig und so wonnig, wie nur möglich zu gestalten suchen.... Und du, mein liebster, "löwen"-ähnlicher, unduldsamer Freund hab doch etwas Geduld mit
    Deiner Martha"


    Immer wieder wird sie diese Beschwörungsformel, geduldig, gelassen und souverän über ihr Alter hinaus, gebrauchen, selbstbewusst und zärtlich auch noch, als jene erste frühe Krise überwunden scheint und die viel größere, schlimmere droht. Freud glaubte schließlich, in ihrer zweimonatigen Trennung, der Inkongruenz ihrer Briefe die Ursache ihrer Zerwürfnisse erkannt zu haben. Zwei Tage war die Post zwischen Wien und Wandsbek unterwegs, oft überschnitten sich ihre Briefe.
    "Die Astronomen behaupten, dass Sterne, die wir heute aufflackern sehen vor hunderttausenden von Jahren zu brennen angefangen haben und vielleicht gerade heute im Verlöschen sind. So groß sind ihre Entfernungen von uns selbst für den Lichtstrahl, der über 40.000 Meilen in der Sekunde, ohne müde zu werden, zurücklegt."
    Sollten sie einander darum schonen, verschonen mit ihren wechselhaften Gemütsbewegungen? Oder nicht doch lieber "mit heiterem Blick", erhaben über das "Possenspiel" des Lebens, einander alles beichten.

    "Denke Dir jede zweite Stunde, von den vier Tagen, die zwischen meiner Frage und Deiner Antwort verstreichen – ja mehr, von den 96 Stunden 64 – mit durcheinander jagenden Gedanken an Dich und über Dich so gedehnt, dass der arme Mensch den Zeitraum endlich nicht mehr von einem Monat oder Jahr unterscheiden kann, denke wie leer und demzufolge kurz Jahrtausende erscheinen, in denen wir nichts denken, und Du wirst zugeben müssen, dass die Verspätung des den Astronomen interessanten Ereignisses nicht größer ist als die uns beiden durch Deinen Sommeraufenthalt in Wandsbek aufgezwungene ...
    Es blieben ihnen, als Martha im Herbst 1882 nach Wien zurückgekehrt war, kaum neun Monate, immer noch Monate der Heimlichkeiten, in denen sie gleichwohl der Sprache des Herzens vertrauen konnten, wo, wenn Lippen schweigen, die Fingerspitzen schwatzen, wie er später einmal schrieb. Ob sie Puritaner waren? Vermutlich in jenem Sinne, dass sie wohl abstinent blieben bis zur Hochzeit, Martha, weil es sich für junge Frauen jener Zeit nicht anders geziemte. Und Freud? Allein sein strenges, sein despotisches Verständnis von Liebe und Treue musste ihn an den Affären, die Männer seines Alters pflegten, hindern, der ewige Geldmangel und die beständige Angst vor venösen Erkrankungen hätten ihr übriges getan. Jedenfalls, wie oft klagt er es der Braut, hat ihr düsterer, ernster Sigi nur allzu wenig Erfahrung mit Frauen.

    Aber Küsse, tausendfach, und Umarmungen tauschen die Verlobten miteinander, immer wieder ist, explizit wie zwischen den Zeilen, das Begehren zu spüren. So liest sich Freuds mehr als zwanzig Jahre später verfasste Polemik wider die "kulturelle Sexualmoral", wider die der psychischen und physischen Gesundheit schädlichen Folgen der Abstinenz für die Männer und viel mehr noch die Frauen, fast wie eine Selbstbiografie. Und Emmeline Bernays, deren überlegene, fast männliche Art ihn nahezu lähmte, machte sogar den Küssen und Umarmungen ein Ende, als sie beschloss, mit den Töchtern nach Hamburg, nach Wandsbek zurückzuziehen.

    Freud war stolz auf die Abkunft seiner Braut. Liebevoll verspielt berichtet er ihr von jenem jüdischen Händler, bei dem er, während seines heimlichen Besuchs in Hamburg, Briefpapier bestellte mit ihrer beider Initialen, dem M und S, darin wenigstens symbolisch verschlungen. Der Mann konnte sich erinnern an ihren Großvater, den berühmten Chacham, den Oberrabbiner von Hamburg, Isaak Bernays, der die Religion mit solchem Geist, solcher Humanität lehrte. Auch von seinen Söhnen wusste der Alte, von Michael Bernays, dem Jüngeren, der in München als Shakespeare- und Goetheforscher eine Universitätskarriere gemacht hatte, von dem Ältesten Jacob, dem Freund Paul Heyses, der als außerordentlicher Professor in Bonn lehrte; seine Studie über die aristotelische Lehre von der Katharsis wurde sogar in den Salons populär – und besonders bedeutsam für Freuds und Breuers erste Schritte in der Neurosenkur.

    Allein der dritte Sohn, "ein ernster und verschlossener Mann, erfasste das Leben noch tiefer, ... rein menschlich und schuf neue Schätze anstatt die alten auzulegen". Also "Ehre seinem Angedenken, der mir Marthchen geschenkt". Vielleicht hatte man Freud die Missgeschicke des Berman Bernays verschwiegen, der, als Kaufmann kaum glücklicher als Jacob Freud, sogar zu einer Haftstrafe wegen verschleppter Insolvenz verurteilt worden war und 1879 in Wien an "Herzlähmung" verstorben war. Zum Vormund wurde Eli, Martha und der jüngeren Minna damals Sigmund Pappenheim bestimmt worden, Berthas Vater; manchmal lesen sich diese Briefe auch wie ein Stück Sozial- und Medizingeschichte..
    Schon früh hatte Freud, trotz aller Verehrung für ihre Angehörigen, seiner Braut abverlangt, ihn doch ein wenig lieber zu haben als ihr Blutsverwandten: "Verwandtschaft ist immer ein Octroi".

    Emmeline Bernays war nun jedenfalls seine erklärte Feindin, die ihm die Braut entführen will, die sein blasses, öfter kränkelndes Mädchen unter die jüdischen Speisegesetze zwingt. Selbst das Schreiben am Sabbath war ihr verboten, nur heimlich konnte sie ihm manchmal mit Bleistift ein paar Zeilen kritzeln. Und Eli, ehemals beinahe ein Freund und später sein Schwager, der betrog seinen kleinen Bruder Alexander, der bei ihm angestellt war, gar ums Gehalt. Und diese beiden, Emmeline und Eli, hielten seine Martha in Gefangenschaft, in einer"Aschenbrödelrolle". Nun diktiert er seinem Mädchen, das zu willensschwach ist, oder einen unauslöschlichen Hang zum Geheimnis hat, eine "Abmachung":

    "... nur zwei Dinge. 1. Dein Benehmen führt zu einer Aufhebung unseres Verhältnisses, in dem für mich alles liegt, was ich Glück nennen kann ... 2. Es bleibt mir nichts übrig, als Dir solange nichts Intimeres über mich zu schreiben – zunächst gar nicht zu schreiben , - bis Du Dir über Deine Verpflichtung, gegen mich vertraulich zu sein, klar geworden und ihr vollkommen nachgekommen bist ... 3. Ich glaube, es ist nicht ökonomisch, dass Du unser kleines Arbeitskapital, meine Gesundheit und geistige Sammlung zugrunde gehen lässt."
    Ja, er musste sie so kränken, auch um den Preis ihrer Gesundheit. Längst ist sie, die er sich einst als seine Mitarbeiterin, Gefährtin im Daseinskampf wünschte, für ihn zum süßen, zum bildsamen Kind geworden. Aber dieses Kind, seine zarte, sonst so gute Martha, hat die Kraft, ihm in Versen zu antworten, Rückert nachempfunden:
    "Die Lippen ruhn, der Liebste ist so weit.
    Er kann mich nicht mehr küssen.
    Nicht mehr streicheln.
    Ich kann ins Ohr ihm nun kein Wort mehr schmeicheln,
    Das ihm bezeigte meine heiße Liebe.
    Ich muss ihm alles auf' s Papier hinmalen.
    Da steht' s mit kecker Deutlichkeit geschrieben.
    Wird oft missdeutet auch
    Und schafft mehr Schmerzen als Genügen."

    Warum nur denkt er nicht öfter an Shakespeares Cordelia, die liebt und schweigt? Aber eilte Cordelia, so schreibt er zurück, die vor dem zärtlichen Wort scheute, nicht zu "liebevollem Tun aus der Ferne ungerufen herbei", ein treuer, zugänglicher Freund? Sein Mädchen scheut nicht vor dem Wort zurück, an den "geliebten teuren, schrecklich eigensinnigen und unausstehlichen, überhaupt, gründlich genommen, gar nicht liebenswürdigen Sigi", dem sie doch die Wahrheit sagen darf, auch wenn sie nicht schmeichelhaft ist. Sie scheut nicht davor zurück, ihre Familie, die Mutter und den Bruder, zu verteidigen, gegen ihren Tyrannen, ihren kleinen, großen Mann. Seine Briefe vom vorherigen Sommer hat sie einstweilen wehmütig beiseite gelegt:
    "Weil sie eine Liebe und Zärtlichkeit atmen, die fremd zwischen uns geworden ist, und fremd geworden durch meine Schuld... es lauert in mir in den süßesten vertraulichsten Momenten ein Etwas, das mir Rückhalt gebietet, ein schreckliches Etwas, für das ich nicht kann, das mich fürchten macht, Deine Liebe könnte sich verringern."
    Allein darum vermochte sie ihm zu trotzen. Jenes "Etwas", Reserve oder innerer Widerstand halfen ihr, sein Ausschließlichkeitsbegehren, seine Eifersuchtskrisen und Wutausbrüche zu ertragen. Das versteht er, anerkennen mag er es nicht. Künftighin wird er also verzichten auf die Kampfgenossin, die er sich schaffen wollte. Kämpfen kann er allein. Möge sie nur sein "süßes Kind" bleiben:

    "Geh, wirf die Schwachheit von dir, lache mich recht aus, sei mein, wie ich mir's denke."

    Statt ihn gebührlich auszulachen, antwortet sie ihm mit einem Lebensentwurf. Wenn er erst Dozent ist – er wird es erst 1902 – und sie seine Frau, dann wird sie, sein "Kamerad", ihn von den Vorlesungen abholen und mit ihm plaudern über die Dinge, die ihn beschäftigen, immer ein offenes Ohr für ihn haben, "wenn auch einen kleinen aber willigen Frauenverstand":

    "....am Abend lesen wir dann die schönen Bücher zusammen – und der Hausstand, ... den muss ich in der Nacht versorgen, wenn mein Tyrann in tiefem Schlafe liegt, der findet mich dann beim Erwachen etwas blaugerädert unter den Augen und macht einen großen Spektakel. Liebster, wie weit führt mich die Phantasie."

    Zu weit, viel zu weit führte sie. Diesmal war er realistischer. Sein Haus- und Sparmütterchen sollte sie werden, so sagen es die meisten, die sie trafen: Martha Bernays, die ihn so vieles gelehrt hatte, die ihm schenkte, was Sigmund Freud später für seine psychoanalytische Kur in Anspruch nahm, "Heilung durch Liebe".


    Martha Bernays: Sei mein, wie ich mir's denke. Die Brautbriefe, Band 1 1882 – Juli 1883
    S. Fischer Verlag
    625 Seiten, 48 Euro