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Jahrhundertgestalt des Liberalismus

Nach Auffassung des 1997 verstorbenen Oxforder Ideengeschichtlers Isaiah Berlin ist es die Aufgabe des Intellektuellen, Ideen so interessant wie irgend möglich zu machen. Berlin selbst hat seine Ansicht in einer Weise beherzigt, die ihn zu einem der interessantesten Denker des 20. Jahrhunderts gemacht hat. In England genießt die Jahrhundertgestalt des Liberalismus Kultstatus, in Deutschland dagegen ist Berlin praktisch unbekannt.

Von Thomas Palzer | 02.02.2005
    Die Besonderheit und das Genie von Isaiah Berlin bestanden darin, dass er es sich in seinen Forschungen zur Aufgabe gemacht hatte, in die mentale Welt des Gegners vorzudringen und sich in dessen Gedankenwelt einzufühlen. Mit anderen Worten: Der Erzliberale trieb seinen Liberalismus so weit, dass er selbst noch antiliberalen Strömungen etwas Interessantes abzutrotzen suchte. So gelang es ihm, eine Art kleinen Grenzverkehr zwischen Liberalismus und Antiliberalismus einzurichten - ein vor allem in Deutschland eher anstößiges Unterfangen. Hier sieht man mit einem Automatismus, dessen Vorhersagbarkeit alle Empörung zur Farce gerinnen lässt, in allem, was antiliberale Züge trägt oder als solche wenigstens verstanden werden könnten, Rückwärtsgewandtheit und einen Nährboden für den Faschismus.

    Mit Die Wurzeln der Romantik liegt seit vergangenem Jahr die 1999 edierte Fassung einer Vorlesungsreihe aus dem Jahr 1965 auf deutsch vor. In der damals von der BBC mitgeschnittenen und mehrfach ausgestrahlten Reihe wendet sich Berlin einem Scheitelpunkt der europäischen Geistesgeschichte zu, den er zunächst als Reaktion auf die Aufklärung im späten 18. Jahrhundert deutet und bei Figuren wie Hamann, Kant, Schiller, Fichte, Schelling und Friedrich Schlegel ansiedelt. In ihnen verdichte sich – so der Gelehrte - der antizivilisatorische und ästhetische Reflex der Romantik, der vom Aufkommen der Wissenschaften und der mit ihr verbundenen Zerstückelung der Welt hervorgerufen worden sei. Eine zentrale Rolle spielt für Berlin dabei die These, dass der Sündenfall der Romantik im Bruch mit der Tradition zu sehen ist: nämlich die Aufkündigung der Vorstellung, dass Tugend Erkenntnis bedeutet. Stattdessen habe die Romantik zur unentwegten Schöpfung von Werten, zur endlosen Neuerfindung der Welt aufgerufen. Eine geistesgeschichtliche Revolution, die tatsächlich bis auf den heutigen Tag unabsehbare Folgen zeitigt - man bedenke nur, dass sich unsere Erlösungsformeln seit Anbruch der Moderne auf Kreativität und Erfindung reimen.

    Im romantischen Affekt auf eine zunehmend vom Rationalismus geprägten Welt, der ihre Einheit und vielleicht sogar Einförmigkeit behauptete, sieht Berlin die Quelle für das Aufkommen eines Werterelativismus und -pluralismus - und damit die Quelle für den Liberalismus selbst, als dessen Anhänger und Verteidiger sich der Autor sieht. Er schreibt:

    Montesquieu formulierte gleichwohl etwas, was die Leute schockierte. Ihm zufolge sagte Montezuma nichts Absurdes, als er gegenüber Cortèz behauptete, die christliche Religion sei für Spanien geeignet, die aztekische Religion dürfte aber für sein Volk die Beste sein. Das schockierte natürlich beide Seiten, sowohl die katholische Kirche als auch die Linke. Die katholische Kirche fühlte sich aus offenkundigen Gründen brüskiert. Die Linke jedoch zeigte sich ebenso schockiert, da man dort überzeugt war, dass die Lehre der katholischen Kirche falsch und also ihr Gegenteil wahr ist; da aber nun die Lehre der aztekischen Religion falsch ist, muss das Gegenteil wahr sein.

    Aufschlussreich ist Berlins Blick auf die deutsche Befindlichkeit zu damaliger Zeit. Nicht nur, dass er die romantische Bewegung als ein vorrangig deutsches Phänomen betrachtet, er sieht sie auch als Abkömmling des am Ende des 17. Jahrhunderts hierzulande vorherrschenden Pietismus, der fromm und nach innen gerichtet war und der Gelehrsamkeit, Rituale und Formalismus ebenso verachtete wie höfischen Pomp und rhetorische Gewandtheit. Das provinzielle, vom 30jährigen Krieg zersplitterte Deutschland, dessen Geistesleben weitgehend ausgelöscht war, wurde bevölkert von missvergnügten Gestalten, die aus armen und einfachsten Verhältnissen kamen - wie Lessing, Kant, Herder und Fichte. Hegel, Schelling, Schiller und Hölderlin stammten aus der unteren Mittelschicht, und der Kopf der romantischen Erregung, Johann Georg Hamann, war Sohn...

    ... besonders unscheinbarer Eltern. Sein Vater war Bademeister in der Stadt Königsberg, und er selbst wuchs in Ostpreußen, in einer pietistischen Umgebung, auf.

    Im gedemütigten Deutschland gab es also einen verbreiteten Hass auf Frankreich, auf Perücken und Seidenstrümpfe, Salons und Eleganz. Das erkannte man als Ausdruck der Verdorbenheit und vanitas des Teufels.

    Schlagen wir eine Volte ins Heute: Der in Jerusalem lehrende Philosoph Avishai Margalit hat zu den Attentätern auf das WTC folgende Bemerkung gemacht:

    Einer der Beteiligten bei dem Anschlag auf die Twin Towers, Mohammed Atta, hatte in Hamburg studiert, Osama bin Laden ist ursprünglich Ingenieur. Zwei starke Metaphern, die sie ständig verwenden: der Islam als lebender Organismus versus die westliche Maschine, eine natürliche Lebensweise als Gegensatz zu einem artifiziellen, seelenlosen Dasein. Diese beiden Ideen stammen unmittelbar aus der deutschen Romantik.

    Isaiah Berlin hätte dieser Diagnose zweifellos zugestimmt. Bis in die Gegenwart reichen also die Folgen der romantischen Umkehrung aller Werte. Ist im Begriff Salonphilosoph noch heute die deutsche Verachtung von Eloquenz greifbar - der pietistische Verdacht, im Stottern läge Tiefe -, erkennen wir in der Verachtung des dekadenten Westens durch den islamistischen Fundamentalismus die Wiederkehr des romantischen Affekts.