Montag, 06. Mai 2024

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"Jahrhundertschritt"

Karin Fischer: Wolfgang Mattheuer, einer der großen Maler und Grafiker der DDR und ein vielleicht noch größerer Moralist und Zweifler, ist tot. Er starb in der Nacht zum Mittwoch und an seinem 77. Geburtstag in einem Leipziger Krankenhaus an Herzversagen. Mattheuer hat seit den 50er Jahren in Leipzig gelebt, er war mit Werner Tübke, Willi Sitte und Bernhard Heisig einer der am meisten angesehenen Künstler der DDR. Er war seit Mitte der 70er Jahre auch im Westen bekannt, und er vereinigte die typischen Widersprüche der Zeit in sich, in seiner Biografie und in seiner Kunst. Er war Sozialist und Nationalpreisträger, aber ein paar Monate vor dem Fall der Mauer gab er sein Parteibuch zurück.

Ingeborg Ruthe im Gespräch mit Karin Fischer | 07.04.2004
    In seiner Plastik "Jahrhundertschritt" von 1987 ist eine Figur mit überlangen Beinen und Armen dargestellt, fast im Ausfallschritt, den viel zu kleinen Kopf zwischen den Schultern, die eine Hand zur Faust geballt, die andere zum Hitlergruß erhoben: eine Bilanz der treibenden Kräfte des vergangenen Jahrhunderts, Faschismus und Sozialismus, das Gute wie das Böse, und beide sind in einem Körper gefangen. Wolfgang Mattheuer war ein politisch denkender Künstler, der, wie es die Zeit so wollte, im Westen und Osten teilweise unterschiedlich gesehen wurde. Deshalb die Frage an Ingeborg Ruthe, Kollegin von der Berliner Zeitung, die Mattheuer gut gekannt hat, wo innerhalb dieses Großkonflikts Ost-West würden Sie ihn verorten, und wo, wenn Sie das "System DDR" betrachten?

    Ingeborg Ruthe: Auf alle Fälle würde ich nicht unterschreiben, dass er zu den dissidentischen Künstlern gehört hat. Das war er nicht. Er war bis zuletzt bekennender Sachse. Er wollte nie weggehen. Er hat auch immer betont, dass es für ihn nicht in Frage gekommen wäre, nicht in Frage kommen würde, wegzugehen. Er war auch in seiner ganzen Art und Weise ziemlich bei sich und hat auch keine Rücksicht genommen, ob er geliebt wurde dafür oder kritisiert. Er hat immer gesagt, was er denkt, und hat auch gemalt, was ihm sozusagen auf der Seele lag.

    Fischer: Was lag ihm denn auf der Seele?

    Ruthe: Das waren zum Beispiel die deutsch-deutsche Situation, aber auch die Mentalität der Leute. Zum Beispiel, das, was nach der Wende passierte, dass viele Leute erst ganz euphorisch und dann ganz "jammerig" wurden. Das hat ihn unheimlich ärgerlich gemacht, und auf der anderen Seite wollte er immer bekennen, dass er eigentlich den Romantikern sehr nahe ist und eigentlich auch immer schöne Landschaften zeigte. Wo man auch sagt, er hat immer die Idylle und die Harmonie betont, aber immer nur in der Landschaft, und wenn die Landschaft durch Umweltzerstörung kaputt gemacht wurde, hat er das gnadenlos gemalt. Da gibt es ganz viele Bilder mit abgehackten Bäumen, auf denen dann so einsame kleine Vögelchen sitzen, so ganz traurig und Straßenbänder, die sich durch eine völlig zerstörte Landschaft winden. Im Leipziger Raum, aber auch in dem Raum Richtung Tschechien. Dann gibt es da noch dieses berühmte Bild, das er "Hinter den sieben Bergen" nennt, wo er irgendeine verheißungsvolle Göttin, diese Marianne aus der Französischen Revolution, mit ganz vielen bunten Luftballons malt und eigentlich an das Scheitern des Prager Frühlings erinnert und zugleich zeigt, wie die Landschaft auf dem Weg dorthin zerhauen und zerstochen worden ist. Da gibt es keine Bäume mehr, keine Sträucher mehr, nur noch diese Autobahnen mit ihren Schildern, wo die Leute entlang rasen in die Zukunft mit ihrem wahnsinnigen Zukunftsglauben. Das hat er kritisiert und das hat er gesehen wie eigentlich kein anderer und auch ausgedrückt wie kein anderer. Es war ihm egal, was ihm dafür passiert.

    Fischer: Sie haben gesagt, er war kein Dissident, und der Westen hat vielleicht manchmal vorschnell nach diesem kritischen Subtext gefahndet, der aber andererseits so offen in seinen Bildern zutage tritt. Wenn er in der Tradition eines Caspar David Friedrich gemalt hat und auch die Mythologie ein Schwerpunkt war, was waren denn die Themen eigentlich, was wollte er sagen?

    Ruthe: Er hat sich eigentlich mit den Figuren aus der griechischen Mythologie, mit Ikarus, mit Dedalus, also mit dem stürzenden Ikarus natürlich, mit Sisyphus, mit Prometheus, dem Feuerbringer, der den Menschen das Feuer gebracht hat, auseinandergesetzt. Mit Laokoon, der unter dem Schnee gefroren ist mit seinen Söhnen, wo alle Hoffnungen eingefroren schienen. Dieses Bild von Ende der siebziger Jahre, als die Politik von Honecker und auch alle Illusionen, die die Menschen hatten, einfroren. Als alles wieder genauso eng wurde oder noch enger wurde als unter Ulbricht, da hat er sich einfach diese Figuren genommen, als sein Bildpersonal. Er hat einfach immer wieder gezeigt, wie Sisyphus, der für ihn der Arbeiter war, geschuftet hat in drei Schichtsystemen und den Steinberg angerollt hat, und dann rollte der Stein immer wieder nach unten. Irgendwann hat er den Sisyphus in einem Bild der siebziger Jahre wegrennen lassen, desillusioniert, verzweifelt wegrennen lassen. Daneben stand der Maskenmann - das war für ihn praktisch der Staatsapparat, auch die Staatssicherheit, die nichts getan hat, im Gegenteil, sie hat diese Szene observiert und hat noch nach einem Schuldigen gesucht. Diese Zeichen waren immer in seinem Bildern, das war nicht schwer zu lesen. Seine Bilder waren lesbar, wie ein klar formulierter Text, wie ein Klartext. Sie waren nicht so verschlüsselt, wie die anderer Maler.

    Fischer: Wie ist der Staat denn damit umgegangen, mit dieser Sprengkraft, mit dieser malerischen, kritischen Potenz?

    Ruthe: Ich glaube, dass viele Leute, die im Staat das Sagen hatten, gewusst haben, dass solche Malerei, wie die von Mattheuer, also aus der Leipziger Schule - es waren ja auch noch andere Kollegen, die sich der Aktualität der Mythen gewidmet hatten - etwas ausdrücken konnte, was man offiziell so nicht in den Zeitungen lesen konnte. Man wusste, dass das, was in den Medien verboten war, in der bildenden Kunst - auch in der Literatur und im Theater - behandelt wurde, und da war halt Mattheuer ein ganz besonderer Maler. Man hat es verstanden und ich denke, dass das auch diesen "Run" auf seine Bilder erklärt, in den Kunstausstellungen.