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James E. Young: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur

Nach 1945 wurde zunächst die deutsche Kriegserfahrung als dominant erinnert, dann in Form eines erinnerungskulturellen Kompromisses ihr die Tat als Bild an die Seite gestellt, aber sorgsam auf Abgrenzungen zwischen beidem geachtet. Das partielle Reden der Soldaten über den Krieg ließ nicht zuletzt ihre Konfrontation mit und ihre Beteiligung an den Schikanen und Massenerschießungen ungesagt. Die eigene Gewalt im Rahmen von Verfolgung und Vernichtung und die ausfransende Grauzone der Mittäterschaft wurden mit Hilfe der Bilder von NS-Zeit, Krieg und Verbrechen in einer Tiefenerinnerung versiegelt, die erst seit den achtziger Jahren aufzubrechen beginnt. Die Imaginationsgrenzen von Reichsparteitagsgelände, Lager und Schlachtfeld werden durchlässig, seitdem Alltäglichkeit und privates Erleben die sorgfältig gegen die Zumutung der Nähe gezogenen Trennungslinien als Konstruktion einer sich selbst schützenden Erinnerung erweisen. Erst die wachsende Bereitschaft, sich dem privaten Blick auf die Gewalt zuzuwenden, wie ihn auch die Soldatenfotografien des Vernichtungskriegs dokumentieren, haben diese lange Dauer des Unsagbaren aufgebrochen, die in der Tat als Bild im medialen Gedächtnis der Bundesrepublik konserviert war.

Guido Graf |
    Nach 1945 wurde zunächst die deutsche Kriegserfahrung als dominant erinnert, dann in Form eines erinnerungskulturellen Kompromisses ihr die Tat als Bild an die Seite gestellt, aber sorgsam auf Abgrenzungen zwischen beidem geachtet. Das partielle Reden der Soldaten über den Krieg ließ nicht zuletzt ihre Konfrontation mit und ihre Beteiligung an den Schikanen und Massenerschießungen ungesagt. Die eigene Gewalt im Rahmen von Verfolgung und Vernichtung und die ausfransende Grauzone der Mittäterschaft wurden mit Hilfe der Bilder von NS-Zeit, Krieg und Verbrechen in einer Tiefenerinnerung versiegelt, die erst seit den achtziger Jahren aufzubrechen beginnt. Die Imaginationsgrenzen von Reichsparteitagsgelände, Lager und Schlachtfeld werden durchlässig, seitdem Alltäglichkeit und privates Erleben die sorgfältig gegen die Zumutung der Nähe gezogenen Trennungslinien als Konstruktion einer sich selbst schützenden Erinnerung erweisen. Erst die wachsende Bereitschaft, sich dem privaten Blick auf die Gewalt zuzuwenden, wie ihn auch die Soldatenfotografien des Vernichtungskriegs dokumentieren, haben diese lange Dauer des Unsagbaren aufgebrochen, die in der Tat als Bild im medialen Gedächtnis der Bundesrepublik konserviert war.

    Zu diesem Ergebnis kommt der Historiker Habbo Knoch in seiner überaus umfangreichen Studie über "Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur", die im vergangenen Jahr unter dem Titel "Die Tat als Bild" in der Hamburger Edition erschienen ist. Nun hat dieser Verlag einen Band herausgebracht, der sich als theoretisierende Fortsetzung von Knochs Untersuchung lesen lässt. "Nach-Bilder des Holocaust in der zeitgenössischen Kunst und Architektur" ist dieses Werk überschrieben. Sein Autor, James E. Young, war Mitglied jener Jury, die den Bundestag bei seiner lange und heftig umstrittenen Entscheidung über das Berliner "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" beriet.

    Zwischen 1982 und 1991 hat James E. Young, Professor für Englisch und Judaistik an der University of Massachusetts, verschiedene Länder bereist, um zu erforschen, wie der Holocaust in eine nationalspezifische "Textur der Erinnerung" eingebunden wird.

    In allen Ländern habe ich in den Gedenkstätten, in den nationalen Museen und Archiven jedesmal einen anderen Holocaust gefunden, und manchmal habe ich auch überhaupt keinen Holocaust gefunden.

    Diese provozierende Beobachtung kann als Fazit für Youngs 1997 auf Deutsch erschienene Studie über Holocaust-Gedenkstätten gelten, die sich vor allem den Formen widmete, in denen der Holocaust dargestellt und interpretiert wird. Mit Denkmälern und Gedenkstätten wird, so Young, ebenso versucht, Geschichte zu löschen wie zu erinnern. Als Gesten der Repräsentation enthalten sie immer die Möglichkeit, für eine öffentliche oder offiziell geprägte Erinnerung gebraucht, aber eben auch missbraucht zu werden. Manche Inhalte werden hervorgehoben, andere ausgeschlossen. Geschichte ist nicht nur das, was geschieht, sondern auch die Form, in der sie vermittelt wird. Nichts führt für Young die Konsequenzen dieser Einsicht deutlicher vor Augen als die Versuche von Kunst und Architektur, mit ihren Mitteln an den Holocaust zu erinnern.

    In diesem Sinn würde ich hoffen, dass die Erinnerungs-Künstler die kommende Historikergeneration zu einer raffinierteren Form der Geschichtserzählung inspirieren können. Und ebenso gern würde ich sehen, wenn die künstlerischen Arbeiten die Wissenschaftler dazu veranlassen würden, deren eigene Weiterverarbeitung der Geschichte des Holocaust zu reflektieren, die Art und Weise, wie die jeweils nächste Generation sich von der Vergangenheit nährt und sie zugleich beseitigt.

    So beschreibt Young die Hoffnungen, die er mit seinem jüngsten Buch über "Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur" verbindet. Die vor zwei Jahren erschienene Originalausgabe trägt den Haupttitel "At Edge": An den Rändern der Erinnerung zeigen sich zugleich die Konturen der Gegenwart. Da findet sich auch der Definitions- und Interpretationshorizont, die Grenze, an der entschieden wird, was mit der Erinnerung geschehen soll. An diese Ränder zu rühren, bedeutet in diesem Verständnis aber auch, aufs Ganze zu gehen, das, was als Widerspruch nicht aufzulösen ist: die Vernichtung, die Leerstelle und das Gedenken daran. Auslöser auch schon früherer Untersuchungen war für Young die Beobachtung, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere in Deutschland eine neue Art von Denkmalskunst etabliert hat. Arbeiten von Jochen Gerz, Alfred Hrdlicka, Norbert Radermacher oder Horst Hoheisel problematisieren die Erinnerung selbst und geben sich als Konstruktionen des Gedenkens zu erkennen. Dass es sich hier um eine relativ junge Entwicklung handelt, hängt mit der erst spät einsetzenden Differenzierung der Verbrechen und Opfergruppen zusammen. Differenzierung erfordert Auseinandersetzung, und Young zeigt anhand der künstlerischen Formen des Erinnerns, wie Geschichte persönlich werden kann, wie sie uns nicht zuletzt als Zuschauer und Zuhörer involviert. Den Wert solcher Projekte misst Young an Saul Friedländers Frage, was aus der Erinnerung an den Holocaust wird, wenn es die Überlebenden nicht mehr gibt.

    Mit einer Vergangenheit aus zweiter Hand wächst zwar die Distanz zu den Geschehnissen, aber auch die Genauigkeit und die Aufmerksamkeit für die Schatten, die wie zwangsläufig von den Formen der Vermittlung geworfen werden. Für den generationsunabhängig unabgeschlossenen und auch unabschließbaren Prozess der Erinnerung bedeutet das für eine Kunst im Angesicht der Katastrophe auch, jede erlöserische Qualität zu vermeiden. Und genau auf diesen Punkt zielte auch Youngs nur teils ironisch zu verstehende Forderung zu Beginn der Debatte um das Berliner "Denkmal für die ermordeten Juden Europas", die Debatte selbst zum Mahnmal zu erklären. Wo das Volk der Täter der Opfer gedenken will, ohne sich je dem Vorwurf aussetzen zu dürfen, man wolle einen monumentalen Schlussstrich ziehen und sich von jedem weiteren Erinnerungsauftrag freisprechen, kann die Debatte um die richtige Form der Erinnerung an kein Ende kommen. Das umfangreiche Schlusskapitel seines Buches widmet Young denn auch dem Verlauf der Debatte, an der er, anfangs dem gesamten Projekt gegenüber ablehnend, noch entscheidenden persönlichen Anteil genommen hat: als einziges ausländisches und einziges jüdisches Mitglied nahm Young an der Jury teil, die dem Bundestag schließlich ihre Empfehlung für den Entwurf des amerikanischen Architekten Peter Eisenman gab. Wichtigstes Kriterium für das Gelingen heutiger Erinnerungskunst ist für Young bei diesem Mahnmal wie auch bei den Beispielen verschiedener amerikanischer und deutscher Künstler, dass Geschichte als ein Vorgang der Aufzeichnung verstanden wird, der aus den Ereignissen besteht und aus der Weitergabe dieser Ereignisse an die nächste Generation. Künstler wie der Comic-Zeichner Art Spiegelman, der in seinen Maus-Geschichten vom Überleben seines Vaters im Holocaust erzählt und wie er als Sohn davon zu hören bekam, der Fotokünstler David Levinthal, der mit Spielzeugfiguren NS-Szenarien nachstellt und fotografiert, oder Shimon Attie, der jüdische Porträtfotos aus den Archiven auf die heute erinnerungslosen historischen Schauplätze projiziert: Sie alle halten uns, so Young, mit ihrer Arbeit erinnerungsfähig.

    Warum das alles darstellen? Weil es für die Generation von Spiegelman, Levinthal und Attie hieße, die Hälfte des Geschehens wegzulassen, wenn man nicht erführe, wie sie vom Holocaust erfuhren: Wir wüssten, was Spiegelmans Vater geschah, nicht aber, was seinem Sohn, was dem Künstler widerfuhr. Ist es nicht ohnehin das Wichtigste, was der Vater in Auschwitz erlebte? Zweifellos. Aber wenn wir uns nicht damit auseinandersetzen, weshalb wir das für so unabdingbar wichtig halten, lassen wir einen Teil der Geschichte weg. Die Umstände, unter denen eine Geschichte erzählt und erzählbar wird, dürfen so wenig vernachlässigt werden wie die historischen Gegebenheiten, aus denen sie besteht.

    Für die deutschen Künstler, deren Arbeiten Young untersucht, geht es nicht allein um eine schmerzvolle Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Väter, sondern auch darum zu vermeiden, diese Verbrechen mit ihrer Kunst sühnen zu wollen. Dabei kommt eine Kunst heraus, die zugleich materiell abwesend und konzeptuell anwesend ist, Denkmale, die sich zu verbergen, die zu verschwinden oder sich selbst zu zerstören scheinen, die dann aber auch, im Prozess ihrer Wahrnehmung, den Betrachter zu Reaktionen oder gar Interaktionen provozieren. Hans Hoheisel beispielsweise wurde in den achtziger Jahren von der Stadt Kassel zu einem Wettbewerb für den Wiederaufbau des 1908 von dem jüdischen Unternehmer Sigmund Aschrott gestifteten und 1939 von den Nazis zerstörten neugotischen Pyramidenbrunnens eingeladen. Statt einer Rekonstruktion schlug Hoheisel ein "Negativform"-Monument vor.

    Ich habe den neuen Brunnen als Spiegelbild des alten in den Platz hinuntergesenkt, um die Geschichte dieses Ortes als eine Wunde und offene Frage in das Bewusstsein der Kasseler Bürger zu retten. … Deshalb habe ich die Brunnenskulptur als hohle Betonform zuerst wieder aufgebaut und sie … einige Wochen auf dem Rathausplatz als wiedergekehrte Form aufgestellt, bevor ich sie dann spiegelbildlich zwölf Meter hinab bis ins Grundwasser versenkte.

    Ein weiteres Beispiel, wie Künstler an etwas Abwesendes erinnern, ist für Young das "Gegen-Monument" von Jochen und Esther Shalev-Gerz in Hamburg-Harburg. Eine zwölf Meter hohe, mit weichem Blei überzogene Stele lud Bürger und Besucher der Stadt ein, mit Gedenkgraffiti beschriftet zu werden. Immer, wenn ein Abschnitt mit Einritzungen dicht bedeckt war, wurde die Stele ein Stück in den Boden versenkt, bis das Monument schließlich ganz verschwunden war.

    Wie könnte man besser eines verschwundenen Volkes gedenken als durch ein fortwährend unvollendetes, weiter und weiter verschwindendes Monument? Gleich einer spottenden Hommage an die Vorgängergeneration, die den Holocaust als eine sich selbst verzehrende Folge von Ereignissen plante - mit der Absicht, alle Spuren, jede Erinnerung an die Opfer zu tilgen -, haben Gerz und Shalev-Gerz ein sich selbst verzehrendes Monument entworfen, das nichts als den Erinnernden und die Erinnerung an ein Mahnmal hinterlässt.

    Young ist sich durchaus bewusst, dass die von ihm mitgetragene Entscheidung der Jury für das Berliner Holocaust-Mahnmal von Peter Eisenman gegenüber dem Harburger Maßstab einen Rückschritt zu überwunden geglaubtem Monumentalismus darstellen könnte. Den Vorwurf der Inkonsequenz will Young dennoch nicht gelten lassen. Dem steht seiner Meinung nach die in der Tat alles andere als beruhigende Aufgabe für die Deutschen entgegen, aus dem Mahnmalsentwurf einen Ort des Gedenkens zu machen, der an den Massenmord und die absolute Leere danach erinnert.

    James E. Young: "Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur". Der Band ist in der Hamburger Edition erschienen, umfasst 291 Seiten und kostet Euro 30. Lediglich hingewiesen werden kann an dieser Stelle auf einen interessanten Band von Daniel Levy und Natan Sznaider, der die Universalisierung der Erinnerung an die Judenvernichtung in den Blick nimmt: "Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust" ist diese Studie überschrieben und erschienen ist sie in der von Ulrich Beck bei Suhrkamp herausgegebenen Edition Zweite Moderne. Die Autoren beschreiben unter anderem, wie der Holocaust sich aus nationalen Erinnerungskulturen löst und Bestandteil eines sich etablierenden kosmopolitischen Gedächtnisses wird. Das macht auch die unfruchtbare Diskussion über Einzigartigkeit oder Vergleichbarkeit des Holocaust hinfällig. "Der Holocaust", befinden Levy und Sznaider kurz und treffend, "wird als einzigartiges Ereignis vergleichbar." Das ist eine einleuchtende Grundlage für die Historisierung des Nationalsozialismus, kein Alibi für Verdrängung und Verharmlosung.