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"Jammern gilt nicht"

Der EKD-Vorsitzende Wolfgang Huber hat die Bürger des Landes zur Stimmabgabe aufgefordert. Wählen sei in heutiger Zeit ein "absolut unriskantes bürgerschaftliches Verhalten". Gleichzeitig stärke derjenige, der nicht wählen gehe, die Extreme, mahnte Huber.

Wolfgang Huber im Gespräch mit Jacqueline Boysen |
    Boysen: Herr Ratsvorsitzender, Kirchen – wie Politik und Parteien – leiden unter Anhängerschwund und verzeichnen eine Erosion ihrer traditionellen Domänen. Wie die Kirche diesem Phänomen begegnet, darüber können wir gleich sprechen. Ich würde aber gerne zunächst auf den heutigen Wahlsonntag blicken. Was sagen Sie jenen, die sich von der Politik abgewandt haben, die sich dieser Bundestagswahl verweigern wollen?

    Huber: Ich hab Ihnen vorher gesagt: Jammern gilt nicht, denn wer sich dem entzieht, verweigert sich der einfachsten Aufgabe, die wir als Bürgerinnen und Bürger haben können. Ich habe vor Augen, was es in dieser Gesellschaft bedeuten kann, wenn man wirklich Zivilcourage zeigt – am Beispiel von Dominik Brunner. Und im Vergleich dazu muss ich sagen: Wählen ist ein in dieser Hinsicht absolut unriskantes bürgerschaftliches Verhalten. Und es ist gleichzeitig so, dass derjenige, der nicht wählt, die Extreme stärkt. Und schon das muss ein Grund sein, dass wir sagen: Es gibt einen Beruf zur Politik, nicht nur für Berufspolitiker, sondern auch für jede Bürgerin und für jeden Bürger.

    Boysen: Ich würde gerne in Kassel anlässlich der "Zukunftswerkstatt" der EKD auf den Reformprozess der Evangelischen Kirche blicken. Bischof Huber, was tragen Sie davon von dieser "Zukunftswerkstatt"?

    Huber: Ich habe den Eindruck, dass der Grundimpuls unseres Reformprozesses sich bewährt hat. Der bestand ja darin, zu sagen: Wir konzentrieren uns auf den Kern des kirchlichen Auftrags, wir bringen die Schönheit des Evangeliums wieder zum leuchten, wir bemühen uns um Qualität in unseren Gottesdiensten und Andachten. Wir halten den Bildungsanspruch der Evangelischen Kirche hoch, ohne uns auf Bildungsschichten zu verengen. Wir öffnen uns für die unterschiedlichen Gruppen und Milieus auch und ganz besonders für diejenigen, die den Kontakt zur Kirche verloren haben. Insbesondere im Osten Deutschlands ist es eine neue und wichtige Erfahrung, dass über diese Arbeit mit Kindern und Jugendlichen auch deren Eltern und Großeltern wieder hineingezogen werden in einen Dialog, zu dem sie Jahrzehnte lang überhaupt keine Chance hatten. Wir denken neu darüber nach, stärker zielgruppenorientiert zu arbeiten, die Anlässe ernst zu nehmen, aus denen Menschen ihrerseits auch den Kontakt zur Kirche suchen – das Beispiel der Einschulung – ich füge auch immer hinzu: das Beispiel des Endes einer Schullaufbahn – sind wunderbare Exempel dafür, dass da Menschen innehalten und froh sind, wenn die Kirche ihnen eine Orientierung anbietet. Deswegen rate ich auch dazu, nicht nur darauf zu schauen, wo traditionelle Kasualien, wie wir das nennen, also Trauungen und auch Beerdigungen in manchen Regionen an Einfluss verlieren, sondern gleichzeitig darauf zu schauen, wo neue Anlässe im menschlichen Lebenslauf entstehen oder im Laufe des Jahres entstehen, an denen Menschen ein solches religiöses Interesse so artikulieren, dass wir als Kirche wirklich verpflichtet sind, ihnen auch eine gehaltvolle Antwort zu geben.

    Boysen: Die Kirchen sind voll zu Anlässen wie Weihnachten. Inzwischen hat man den Eindruck, dass auch angesichts der Krise in bestimmten schwierigen Situationen mehr Menschen situationsbedingt in die Kirchen, in die Gotteshäuser kommen. Daraus spricht ja ein Bedürfnis nach Orientierung, nach Hilfe, nach Rat, vielleicht nach Besinnung. Wie können Sie diejenigen, die zweckgebunden zu bestimmten Anlässen kommen, dauerhaft an die Kirche binden?

    Huber: Erstens dadurch, dass ich diese anlassbezogenen Fragen und das Kommen der Menschen aus bestimmten Anlässen heraus so ernst wie nur eben möglich nehme – nicht anfange mit dem Vorwurf: Du kommst ja nur jetzt, und warum kommst Du nicht auch anders mal? Sondern: Jetzt bist Du da, und Deine Fragen sind wichtig. Und wenn Sie das mal auf das ganze Jahr übertragen und nicht nur die traurigen Anlässe in Krisenentwicklungen nehmen, sondern auf den sehr aufregenden Tatbestand achten, dass eine wachsende Zahl von Menschen in ihrem Urlaub in Gottesdienste gehen und das größere Maß an Zeit und Intensität, das sie in der Offenheit der Urlaubssituation haben, mit einem Gottesdienstbesuch verbinden, wenn Sie anschauen, dass Pilgern auch Evangelischen nun plötzlich etwas Wichtiges wird und damit merken, dass nicht nur Trauer, sondern ebenso Freude, nicht nur Lebensbegrenzung, sondern auch Lebensglück Menschen dazu veranlasst, nach Gott zu fragen, dann haben wir als Kirche so viele Aufgaben, dass wir eigentlich auch selber das Jammern aufhören sollten und uns getrost und getröstet diesen Aufgaben zuwenden. Das wird im Übrigen überspringen auf die Menschen, und die werden merken: Das es nicht eine griesgrämige, jammernde Kirche, sondern das ist eine zuversichtliche Kirche, und wenn ich mit der einen Gottesdienst feiere, dann habe ich das Gefühl, eine Stunde gut verbracht zu haben und in dieser Stunde Gottesbeziehung, Lebensorientierung und Gemeinschaft erlebt zu haben.

    Boysen: Herr Bischof Huber, Sie sind 1993 zum Bischof der Berlin-Brandenburgischen Kirche, die inzwischen auch die schlesische Oberlausitz mit einschließt, geworden, und seit dem Jahre 2003 Ratsvorsitzender der EKD. Sie haben in dieser Zeit die EKD versucht, zu politisieren oder in den politischen Raum wieder stärker hineinzubringen. Sie runzeln die Stirn, ist das ein falscher Eindruck?

    Huber: Ich glaub nicht, dass ich die Evangelische Kirche politisiert habe, sondern ich habe die Aufgabe wahrgenommen, die dem Ratsvorsitzenden der EKD zukommt – übrigens auch dem Bischof der Landeskirche zukommt –, nämlich die Kirche in die Öffentlichkeit hinein zu vertreten und zu versuchen, zu großen gesellschaftlichen Herausforderungen die Stimme der Evangelischen Kirche klar hörbar zu machen. Ich bin dankbar dafür, dass das auch möglich ist auf der Basis von Klärungsprozessen, die die Kammern der EKD oder andere Organe der EKD, der Rat der EKD selber, zustande gebracht hat, sodass ich nicht einfach aus meinem eigenen Fundus zu schöpfen hatte, sondern mich stützen konnte auf geklärte Urteilsbildungsprozesse in meiner Kirche. Und "Politisierung" finde ich dafür deswegen ein unglückliches Wort, weil es uns in solchen Zusammenhängen nicht darum geht, Politik zu machen, sondern Politik möglich zu machen.

    Boysen: Lassen Sie uns über die Beziehung oder auch die Wechselwirkung von Kirche und Politik sprechen. Wenn wir uns angesichts der Globalisierung und der Finanz- und Wirtschaftskrise anschauen, wie die EKD in den vergangenen Jahren reagiert hat, dann sehen wir eine Fülle von Denkschriften. Sie mahnen gerechte Teilhabe an – Sie haben es sogar so weit zugespitzt, dass Sie Herrn Ackermann auf dem Höhepunkt der Krise angegriffen haben. Das Wort "Gier", die Eindämmung der Gier spielte dann plötzlich in der Diskussion eine Rolle. Wie wirksam sind Ihrer Meinung nach diese Appelle?

    Huber: Die Einsicht, dass die Finanzmarktkrise mit der Gier von Menschen und damit, dass diese Gier auf Anreizsysteme gestoßen ist, dass es damit zusammenhängt – damit stehe ich ja nicht allein. Das haben Wirtschaftswissenschaftler genau so gesagt, wie wir es als Kirche gesagt haben. Ich habe nur die religiöse Dimension dieses Vorgangs beschrieben, indem ich an das große biblische Bild vom "Goldenen Kalb" erinnert habe und damit daran, dass auch das Geld zum Gott werden kann. Denn Luther hat gesagt: Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott – und hat damit erinnert an ein großes Wort Jesu: "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon". Und ich glaube, dass insofern die Finanzmarktkrise, die wir erlebt haben, eine religiöse Dimension hat, über die man sich auch nicht zu schnell hinwegsetzen sollte. Es geht um die Frage, ob Geld ein Instrument ist, das bestimmten Zwecken dienstbar gemacht wird, oder ob es in sich selbst zum eigentlichen Ziel wird und ob man um dieses Zieles willen sich hineinziehen lässt in einen Sog, des Immer-mehr-und-immer-mehr – für den man dann Risiken in Kauf nimmt, die eigentlich unvertretbar sind. Genau das ist passiert im letzten Jahr mit dem Zusatz, dass die Gewinne privatisiert worden sind durch Bonussysteme und anderes, und die Risiken und Verluste sozialisiert worden sind durch die gigantischen Schutzschirme, die die Gesellschaft insgesamt finanzieren musste und die keineswegs ausschließlich aus den vorher eingesackten Boni finanziert worden sind. Ich habe es bedauert, dass in einem Teil der Diskussion dann diese Beschreibung des Sachverhalts personalisiert worden ist, als wäre mir daran gelegen gewesen, nun einen Banker zu kritisieren. Das hilft gar nichts, weil man sich dann auch nicht klar macht, wie jede und jeder von uns ein Stück weit auch in diesen Sog mit hineingezogen wird, und wir deswegen nicht nur mit unserem Finger auf andere Leute zeigen können, sondern uns gleichzeitig fragen müssen: Wie gehst Du eigentlich selber damit um und was trägst Du selbst bei zu einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der die Vergötzung des Geldes nicht ein so leichtes Spiel hat, wie es das in den letzten Jahren gehabt hat. Und damit schlagen wir auch als Kirche einen anderen Ton an als nur derjenige, der zunächst ruft: "Katastrophe, Katastrophe, der Staat muss helfen", und sobald man aus der Talsohle herausgekommen zu sein scheint, möchte man so schnell wie irgendwie "business as usual" machen und zu den vorhergehenden Regeln wieder zurückkehren.

    Boysen: Herr Bischof Huber, das eine sind die Regularien für die Wirtschaft und das andere – spiegelverkehrt sozusagen – ist die sozialethische Frage, die sich bezieht auf diejenigen, die von diesen Wirtschaftsprozessen hart getroffen sind. Sie haben immer gesagt, die Gesellschaft – Kirchen auch – müssen sich um diese Menschen mehr kümmern, sie nicht hineinstoßen in eine Passivität, sie nicht fallen lassen. Wie ist das gemeint und wie können die Kirchen dazu stärker beitragen?

    Huber: Also, ich will zunächst einmal daran erinnern, dass wir mit dem gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 den Anstoß dazugegeben haben, dass es in Deutschland eine Reichtums- und Armutsberichterstattung gibt. Und wir wissen dadurch sehr genau, wie in der Entwicklung seitdem aus wirtschaftlichen Gründen ein immer stärkeres Auseinanderdriften von Reich und Arm in einer der reichsten Gesellschaften der Welt stattgefunden hat. Damit haben wir uns als Kirche nie abgefunden, und wir haben deswegen in einem nächsten Schritt die Frage gestellt, was muss eigentlich geschehen, um dieses Auseinanderdriften zu stoppen und einen anderen Prozess einzuleiten. Unsere These ist dabei gewesen, dass das nicht einfach nur durch Umverteilung gelingt, sondern dass das, was wir brauchen, eine stärkere Beteiligungsmöglichkeit für alle Glieder dieser Gesellschaft ist. Deswegen haben wir "gerechte Teilhabe" zum Schlüsselbegriff unserer Antwort auf Arbeitslosigkeit und Hartz IV gemacht. Deswegen finde ich, dass wir auf die Frage, die Sie gestellt haben, ziemlich konkret geantwortet haben. Im Blick auf Hartz IV selber haben wir sehr früh gesagt bei der Einführung der sogenannten Hartz-IV-Reform, wir bestehen darauf, dass diese Reform eine "atmende Reform" ist, wie ich das genannt habe, und deswegen die Auswirkungen der Hartz IV-Reform auf die Betroffenen kontinuierlich begleitet wird und man sich nicht so verhalten darf, wie man sich so oft verhält, wenn der Staat Einschnitte beschließt – beschlossen und Kopf durch die Wand und nicht mehr nachdenken –, sondern dass das begleitet wird. Dadurch hat sich dieser Ombudsrat ergeben unter dem Vorsitz von Herrn Biedenkopf und der Beteiligung von Christine Bergmann. Ich sage nicht, dass da alles gelungen ist, was man sich hätte wünschen müssen, aber dass wir bei dieser Hartz-IV-Thematik so nah an dem Prozess waren, wie wir das nur konnten und dass wir im übrigen in den Gemeinden ganz viel versucht haben, um den Kontakt zu Hartz-IV-Empfängern und zu Menschen in noch schwierigeren Situationen, nämlich Menschen ohne jede Unterstützung, gesucht haben, das kann man, glaube ich, wirklich sagen.

    Boysen: Herr Bischof Huber, wir feiern in diesem Jahr den 500. Geburtstag Calvins. Sein Ethos hat die Wirtschaft in Europa inspiriert. Was lernen wir von ihm bezüglich der Verantwortung der Wirtschaftstreibenden für das Gemeinwohl?

    Huber: Bei den historischen Entwicklungen ist sehr oft ein Element in Calvins eigener Wirtschaftsethik übersehen worden. Er teilt nämlich mit Martin Luther die Überzeugung, dass Handeln im wirtschaftlichen Bereich ein Beruf ist. Und er teilt mit Martin Luther die Auffassung, dass der Beruf immer dadurch geprägt ist, dass man einen Auftrag Gottes annimmt, mit den Gaben, die einem anvertraut sind, verantwortlich umzugehen. Und verantwortlich umgehen heißt, sie in den Dienst des Nächsten zu stellen. Es gibt bei Calvin Aussagen zur Geldwirtschaft, die deswegen so aufregend sind, weil er einfach sagt, wenn du viel Geld hast, versuche es einzusetzen so, dass es dem Nächsten zugute kommt. Und wenn du das nicht kannst, dann lass es alles bleiben – ein radikales Konzept, das viel radikaler ist als die Debatten über die Frage Zins oder nicht Zins. Der instrumentelle Charakter des Geldes, das mir zur Verfügung steht, das ist das A und O. Und der Vorrang der Nächstenliebe vor dem Eigennutz, das ist eine wirtschaftsethische Position, an der wir uns durchaus reiben können, denn sie geht über die verbreitete Formel der Balance zwischen Gemeinwohl und Eigennutz, die wir so häufig wirtschaftsethisch verwenden, weit hinaus. Also, der Calvin hat es in sich.

    Boysen: Ich würde gerne zu einem ganz anderen Punkt kommen, wo sich die Kirche positioniert hat, Sie selber sich auch positioniert haben, und das gehört sicherlich zu der Wechselwirkung zwischen Kirche und Politik und der Anmahnung ethischer Grundsätze. Bischof Huber, die Haltung der Kirche zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr und ihrer Verbündeten, da haben Sie selbst zu Beginn des Irakkrieges schon davon gesprochen, dieser Krieg ist ein Bruch des Rechts. Sollten die Kirchen Ihrer Meinung nach in ihrer pazifistischen Grundhaltung noch offensiver werden?

    Huber: Zunächst muss es darum gehen, dass wir genau erklären, was wir eigentlich mit einer pazifistischen Grundhaltung meinen. Und da haben wir einen aufregenden Schritt vollzogen in den letzten Jahren, indem wir ganz deutlich gesagt haben, Pazifismus heißt Verantwortungspazifismus, nicht nur, dass ich meine Hände vermeintlich in Unschuld wasche, sondern dass meine Mitmenschen ohne Furcht vor Gewalt leben können. Deswegen haben wir den gerechten Frieden zum Leitgedanken unserer friedensethischen Verantwortung erhoben, der Lehre vom gerechten Krieg eine klare Absage erteilt und die Frage studiert "Gibt es Kriterien für den Einsatz rechtserhaltender Gewalt?", und zwar so, dass diese Kriterien im Fall des Polizeieinsatzes im Inneren, im Fall des Waffeneinsatzes in internationalen Konflikten und im Extremfall des Widerstandsrechts die gleichen Grundkriterien sind. Das ist ein revolutionärer Schritt in der kirchlichen Friedensethik, den wir in dieser Denkschrift von 2007 "Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen" vollzogen haben. Im Irakkrieg waren wir in einer anderen Situation. Da waren wir in der Situation, dass die USA die Behauptung verfochten haben, dies sei ein gerechter Krieg. Im Afghanistankonflikt können Sie sehen, dass der Friedensbeauftragte der EKD, der sich jetzt ganz intensiv mit dieser Thematik beschäftigt, dass der Militärbischof, der gerade in Afghanistan war und die Situation der Soldatinnen und Soldaten gesehen hat, dass die in einer erstaunlichen Klarheit sprechen und darauf drängen, dass intensiver über die Frage nachgedacht wird, wann und wie wir aus diesem Krieg heraus kommen.

    Boysen: Bischof Huber, lassen Sie uns für die Hörerinnen und Hörer des Deutschlandfunks das Verhältnis zur katholischen Kirche unter die Lupe nehmen. Wie sehen Sie dieses Verhältnis zur Schwesterkirche heute?
    Huber: Die römisch-katholische Kirche nimmt für sich in Anspruch, sie könnte abschließend definieren, was Kirche im eigentlichen Sinne ist. Und dann unterscheidet sie davon kirchliche Gemeinschaften. Und sie hat damals vor zwei Jahren wiederholt, was sie auch schon im Jahre 2000 mit der Unterschrift von dem damaligen Kardinal Ratzinger gesagt hat. Ich habe bloß gesagt, das zweite Mal war es genau so falsch wie das erste Mal, denn korrekt müsste es heißen, die evangelischen Kirchen sind nicht Kirche im katholischen Sinn. Dann hätten wir eine präzise Aussage, die nicht ausschließen würde, dass wir respektvoll mit dem Kirchesein des ökumenischen Partners umgehen. Und dieser Punkt ist mir deswegen so wichtig, weil ich fest davon überzeugt bin, wirkliche ökumenische Fortschritte wird es nicht geben an dem wechselseitigen Respekt für das Kirchesein des ökumenischen Partners vorbei.

    Boysen: Welche Chance hat denn dann Ihrer Meinung nach die Ökumene?

    Huber: Was wir jetzt miteinander besprechen war ein markantes Phänomen der ökumenischen Situation im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Es kommt übrigens nicht ganz zur Deckung mit dem, was das Zweite Vatikanische Konzil zu dieser Frage gesagt hat, das von 'Kirchen' im Plural geredet hat und dabei ganz klar zu erkennen gegeben hat, dass dabei die Kirchen der Reformation nicht prinzipiell ausgeschlossen waren. Und deswegen habe ich die Hoffnung, dass es auch nicht so sein muss, dass diese Position das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts genauso bestimmt. Wir gehen auf das Jubiläum der Reformation zu. Wir bemühen uns darum, eine gemeinsame Interpretation der Ursachen und Folgen der Reformation zu entwickeln auf dem Weg einer gemeinsamen katholisch-evangelischen Interpretation von reformatorischen Schlüsseltexten Martin Luthers. Und dann schauen wir mal. Dann kommen wir vielleicht weiter, und dann sehen wir vielleicht eines Tages, dass das katholische Amtsverständnis die katholische Kirche nicht daran hindern muss, Respekt zu haben für das Kirchesein von Kirchen der Reformation.

    Boysen: Sie haben sich, Bischof Huber, stets sehr klar geäußert zu den Zuständen in muslimischen Ländern, die Grundsätze der Menschenwürde verletzen. Sie haben den Dialog mit Muslimen auch hierzulande an Bedingungen geknüpft. Wie entwickelt sich Ihrer Meinung nach das Verhältnis zwischen den Christen und den gläubigen Muslimen in Deutschland?

    Huber: Es gibt Gott sei Dank unmittelbare Beziehungen zwischen christlichen Gemeinden, evangelischen und katholischen, und Moscheegemeinden in ihrer Nachbarschaft. Man wird da insgesamt sagen können, dass die Initiative ein Stück stärker auf den christlichen Gemeinden liegt und die Moscheegemeinden etwas stärker in der antwortenden Situation sind. Ich bin ganz nachdrücklich dafür, dass wir das weiterführen und bin denjenigen, die das in den Gemeinden machen, von Herzen dankbar, denn es ist eine Aufgabe, die langen Atem braucht. Wir haben schon im Jahr 2000 dafür praktische Hilfen formuliert in einer Handreichung zu diesem Thema, die ganz an den praktischen Fragen vom Kindergarten bis zur interkulturell sensiblen Pflege und schließlich zur Bestattung gereicht hat. Die gilt auch noch heute. Das haben manche nicht gemerkt. Wir haben sie aber im Jahr 2006 ergänzt durch eine Weiterführung, die nun auch stärker kontroverse Fragen einbezogen hat. Dafür haben wir als Leitbegriff und Überschrift gewählt: "Klarheit und gute Nachbarschaft". Und drei Jahre nach der Veröffentlichung dieses Textes sage ich ganz gelassen, das bleibt auch in der langen Perspektive die richtige Haltung dazu.

    Boysen: Lassen Sie uns, Bischof Huber, zu einer anderen Frage kommen. 20 Jahre nach der friedlichen Revolution interessiert mich Ihre Meinung zur einstigen Opposition unter dem Dach der evangelischen Kirchen der DDR. Wie kann die gesamte evangelische Kirche in beiden Teilen Deutschlands würdigen, was wenige Mutige damals – teilweise ja nicht als Gemeindemitglieder und nicht getragen vom Glauben – unter dem Schutz der Kirche gewollt und angestoßen haben?

    Huber: Das, was Sie ansprechen, Frau Boysen, ist das zentrale Thema der nächsten Wochen. Für uns wird die Erinnerung an 20 Jahre friedlicher Revolution in einem doppelten Sinn vom Geist der Dankbarkeit bestimmt sein: Dankbarkeit gegenüber Gott für den größten geschichtlichen Wandel, den jedenfalls meine Generation erlebt hat – und ich bin einer, der noch im Zweiten Weltkrieg geboren ist und sage das deswegen mit einem besonderen Nachdruck – und große Dankbarkeit für den Mut, die Hartnäckigkeit und die Weitsicht derjenigen, die den Gruppen in der Zeit der DDR Raum gegeben haben, die sie aus dem Geist des christlichen Glaubens angeführt haben, die Friedensgebete durchgehalten haben in ihren Gemeinden, auch in der Zeit, in der nur fünf oder zehn oder fünfzehn Menschen kamen, um auf diese Weise, wie sich hinterher herausstellte, die Türen der Kirchen offen zu haben in dem Augenblick, in dem viele Menschen sich in ihrer Revolte gegen die faktischen Zustände in der DDR von diesem Geist der Gewaltlosigkeit anstecken ließen. Das ist eine großartige Entwicklung gewesen, derentwegen ich auch immer sage, es reicht nicht, nur den 9. November im Blick zu haben. Wir nehmen in unserer Kirche den 9. Oktober sehr wichtig, den Tag der entscheidenden Montagsdemonstration, die von der Nikolaikirche in Leipzig ausging. Und auf diesem Hintergrund sind wir dankbar für den 9. November. Und wir werden jetzt das umgestalten in einem gemeinsamen Erinnern an diese Entwicklungen zwischen Ost und West in einem langgestreckten Prozess, der bis zum 3. Oktober des nächsten Jahres dauern wird.

    Boysen: Lassen Sie uns einen Schnitt machen und Ihr persönliches Leben blicken. Sie sind 15 Jahre lang Bischof und sechs Jahre lang Ratsvorsitzender der EKD. Was war Ihr größter Erfolg, und sehe ich es richtig, dass die verlorene Pro-Reli-Aktion, also der Versuch, einen verpflichtenden Religionsunterricht in Berlin einzuführen, die größte Niederlage gewissermaßen war?

    Huber: Als ich 1994 Bischof wurde, habe ich als Erstes ein Konzept von meiner Kirchenleitung vorgelegt zur Zukunft des Bildungsauftrags der Kirche. Ich habe nie den Religionsunterricht absolut gesetzt als die einzige Thematik, die dabei zu bedenken ist. Aber ich wusste von Anfang an, unter den Berliner Bedingungen, übrigens auch unter den Brandenburgischen, ist die Arbeit für verbesserte Bedingungen für den Religionsunterricht der härteste Brocken, den es überhaupt gibt, weil das eine so lange Geschichte, auch eine blockierte Geschichte hat. Da sind wir in der Tat nicht so weit gekommen, wie wir wollten. Wir haben gesehen, dass das Verfahren Volksentscheid doch nicht der Stein der Weisen dafür gewesen ist. Aber das Eintreten für den Religionsunterricht geht weiter. Flügel hängen lassen gilt auch bei diesem Thema nicht. Meine größte Dankbarkeit richtet sich auf die Gemeinschaft mit den Gemeinden in meiner eigenen Landeskirche und auf die vielfältige Form, in der der Reformprozess in unserer Kirche aufgenommen worden ist. Dabei weiß ich ganz genau, das ist ein langfristiger Prozess. Da hofft man auf einen Mentalitätswandel, der seine Zeit braucht und seine Früchte zu einem späteren Zeitpunkt bringen wird. Aber meine Dankbarkeit dafür ist groß und deswegen schließe ich daran die Hoffnung an, dass Viele diesen Prozess mit Lust und Feuer und Fröhlichkeit aufnehmen und weiter führen.

    Boysen: Vielen Dank.