Dieser Logik will sich der Berliner Historiker Rainer Ohliger verweigern. Deshalb hat er gemeinsam mit Jan Motte vom nordrhein-westfälischen Landeszentrum für Zuwanderung neunzehn Aufsätze gesammelt und herausgeben, die sich mit der Geschichte der Migration in der Bundesrepublik Deutschland auseinandersetzen. Schwerpunkt des Buches sind die so genannten "Gastarbeiter”, die seit den 1950er Jahren in den Westen des heutigen Deutschland kamen, um in der Auto- oder Montanindustrie Geld zu verdienen. Erinnert wird beispielsweise an den ersten und bis heute größten Streik von Arbeitsmigranten, den Streik in der Kölner Automobilfabrik Ford von 1973. In den Blick gerückt werden aber auch die Orte, wo die arbeitssuchenden Einwanderer nach oft tagelanger, beschwerlicher Reise in Zügen dritter Klasse in Empfang genommen wurden - in teilweise fensterlosen Nebengebäuden von Bahnhöfen. Arbeiter aus Spanien, Portugal und Italien kamen beispielsweise jahrelang am Bahnhof Köln-Deutz an:
Ein anderer Ort ist der Münchener Hauptbahnhof, an dem die Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei ankamen. Und dieser Ort, dieser emblematische Ort des Münchener Hauptbahnhofes wurde vor einigen Jahren auch genutzt für eine migrationsgeschichtliche Ausstellung, die Ausstellung hieß "für 50 Mark ein Italiener” und war ein Publikumserfolg, weil sie an einem symbolischen Ort, der aber auch ein Ort der Alltagswirklichkeit und der gegenwärtigen Nutzung ist, gezeigt worden war.
Damit spricht Rainer Ohliger ein Thema an, das sich durch nahezu alle Beiträge des Buches zieht: Die Frage nämlich, wie Geschichte und Gedächtnis in einer Einwanderungsgesellschaft funktioniert – erst recht, wenn zumindest Teile der politischen Klasse die Alltäglichkeit von Einwanderung immer noch nicht akzeptieren will.
Im Buch finden sich mehrere plastische Beispiele dafür, wie widersprüchlich die aktuelle Erinnerungskultur in Sachen Einwanderung hierzulande bisher aussieht. Besonders anschaulich ist die Geschichte einer Skulptur des Künstlers Guido Messer, die in den 1980 Jahren im Stuttgarter Vorort Obertürkheim aufgestellt werden sollte: Ein lebensgroßer Mann in zerknittertem Anzug mit Hut und Zigarette im Mund, der sich wartend und ein wenig erschöpft mit dem Rücken an ein Geländer lehnt, vor ihm steht ein Koffer. Die bronzene Hommage an die Gastarbeiter der Mercedes-Fabriken sollte ursprünglich an zentraler Stelle auf dem Marktplatz von Obertürkheim stehen und "Der Ausländer" heißen:
Wurde allerdings umbenannt, von dem Ausländer in der Reisende, landete dann vor dem Bahnhof und nicht in zentraler Lage, was natürlich eine gewisse Botschaft sendet, dass der Reisende derjenige ist, der ankommt aber auch der, der abfährt, auf jeden Fall der, der transitorisch da ist, eine völlige Umdeutung dessen, was mal intendiert war, von dem Künstler mit der Benennung der "Ausländer”, der dann Teil an einem zentralen Teil der Stadt Obertürkheim gewesen wäre.
Der Ausländer, der nicht ankommen und bleiben darf, sondern als "Gastarbeiter” die Verpflichtung hat, nach ein paar Jahren wieder zu gehen: Die Geschichte der Skulptur in Stuttgart spiegelt auch das, was sich jahrelang im deutschen Ausländerrecht abspielte – dies wird im vorliegenden Band gut aufgearbeitet.
Lange Zeit waren die Anwerbeverträge mit den südeuropäischen Staaten nur auf zwei Jahre befristet, und auch die ersten Ausländergesetze sahen eine Integration auf Dauer nicht vor. Mit der Ölkrise 1973 kam es zum ersten Anwerbestopp, in den 1980er Jahren wurden sogar "Rückkehrhilfen” für diejenigen gezahlt, die die Bundesrepublik wieder Richtung Herkunftsland verließen. Rainer Ohliger:
Markanter Einschnitt ist sicherlich noch mal in den 90er Jahren zu sehen, mit einer Modernisierung des Ausländergesetzes, das die konservativ-liberale Regierung 1990 verabschiedet hat, wir haben nicht umsonst auf den Titel des Bandes ein Bild genommen, das sich mit diesem Thema auseinandersetzt, eine Demonstration in Berlin gegen das neue Ausländergesetz, das eine zweiseitige Sache war: einerseits eine Verschärfung der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen mit sich brachte, andererseits erstmals die Möglichkeit zur Einbürgerung vorsah, fast zehn Jahre bevor das neue Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft trat.
Dieses knüpfte 1998 in Deutschland erstmals Bürgerrechte nicht nur an das Blut, sondern an den Geburtsort. Damit stellte die erste rot-grüne Bundesregierung das unselige Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 in Frage. Doch die in diesem Zusammenhang geplante umfassende doppelte Staatsbürgerschaft scheiterte an der Unterschriftensammlung, die der CDU-Politiker Roland Koch startete und mit der er die Landtagswahl in Hessen gewann.
Daran erinnert eine von Rainer Ohliger am Ende des Buches zusammengestellte, sehr nützliche Chronologie der Einwanderung seit 1945. Genau wie an die Geschichte des millionsten deutschen Gastarbeiters: Armando Rodriguez de Sa aus Portugal. Jeder kennt das Foto, das zeigt, wie dem Mann 1964 auf dem Bahnhof Köln-Deutz als Gastgeschenk ein Moped überreicht wird.
Ein glücklicher Moment, doch Rainer Ohliger kritisiert, dass im Haus der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, wo das Moped heute ausgestellt ist, diese Momentaufnahme nicht hinterfragt wird:
Dieser einmillionste Gastarbeiter hat ein relativ trauriges Schicksal gehabt, der ist krank zurück nach Portugal gegangen, als Folge eines Arbeitsunfalls (...) und wusste nicht um den Krankenversicherungsschutz, den er durch die deutsche Krankenversicherung hatte und ist dort an den Folgen dieses Arbeitsunfalls und der Krankheit gestorben.
Es ist ein Verdienst des Buches, dass es immer wieder solche Brüche in der bisherigen Aufarbeitung der Migration entdeckt. In diesen historisch-kritischen Miniaturen liegt die Stärke des Sammelbandes - aber auch gleichzeitig seine Schwäche. Die zeitgeschichtlichen Momentaufnahmen, die das Buch festhält und hinterfragt, bleiben insgesamt etwas unverbunden. Bestimmte Ereignisse wie der Fordstreik 1973 nehmen einen sehr breiten Raum ein, während beispielsweise die Geschichte der Einwanderer in der ehemaligen DDR fast ganz fehlt - man denke beispielsweise an die Vietnamesen, die ja bis heute die Alltagskultur im Osten des Landes mitprägen. Weil es keine wirklich umfassende Darstellung der Einwanderungsgeschichte nach 1945 ist, wird das Buch sicher nicht zu einem "Standardwerk” zum Thema werden. Aber es ist ein wichtiger und gut lesbarer "Text-Steinbruch” zu einem historischen Feld, auf dem sich die Deutschen nach wie vor schwer tun. Rainer Ohliger benennt selbst das Erinnerungsprogramm, das über das vorliegende Buch hinausführen muss:
Wenn man sich bewusst macht, dass 10 Prozent der Bevölkerung mindestens Zuwanderer sind und wenn man Gruppen wie Aussiedler, Flüchtlinge, Vertriebene mitrechnet, sind es weitaus mehr und dann sich anschaut, wie historische Institutionen wie Museen, aber auch historische Schulbücher oder auch die Geschichtsschreibung dieses Thema abdeckt, nämlich als Randthema, dann würde ich sagen, ist das nur ein allererster Schritt, der dort gewagt ist, und es ist noch relativ viel zu tun in der Zukunft, und das Thema gehört sicherlich in das Zentrum der historischen Aufmerksamkeit.
Ein Beitrag von Ludger Fittkau über das Buch "Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft". Der im Klartext-Verlag Essen von Jan Motte und Rainer Ohlinger herausgegebene Band hat 352 Seiten. Der Preis: 18 Euro 90.