"Der reale Fall, der dahinter steckt, ist der Mord an Helga Matura, die im Januar 1966 durch 16 Stiche ermordet wurde, und der Fall wurde eben nie aufgeklärt."
Der Fall Matura erinnert stark an den noch heute viel präsenteren Fall der Rosemarie Nitribitt neun Jahre zuvor und hatte schon lange das Interesse des Autors geweckt. Auch Helga Matura, ihren Freiern bekannt als Karin Rosenherz, war eine Edel-Prostituierte, auch sie hatte Kontakte zu Prominenten aus Wirtschaft, Politik, auch damals ermittelte die Polizei diskret und die Fantasie der Zeitungsleser schoss ins Kraut. Dass beide Morde nicht aufgeklärt wurden, hängt auch damit zusammen, dass es zu viele Spuren gab und manche wohl, wie bald danach der komplette Fall, zu früh ad acta gelegt wurden, weil es um allzu hochgestellte Persönlichkeiten ging. Wie der Autor schon im letzten Roman - "Die Partitur des Todes” - ein reales historisches Ereignis zum Ausgangspunkt eines Krimis gewählt hat, hat es ihm nun die Akte Rosenherz angetan.
"Die gesamte Akte umfasst 10.000 Seiten, also die reale Ermittlungsakte, und gereizt hat mich eigentlich daran, dass ich es immer gern habe, wenn mir die Realität den festen Boden unter die Füße gibt beim Schreiben, dass die Fantasie sozusagen ein Sprungbrett hat. Da war eben absolut alles drin. Da waren die Tatortfotos drin, der erste Anruf, sämtliche Zeugenvernehmungen, das Obduktionsprotokoll, der Wetterbericht, den man detailliert angefordert hatte, alles. Also ich hatte einen riesigen Schatz gehoben, als ich diese Akten da sah. Eine dramaturgische Herausforderung war dann, einen Fall zu konstruieren, der heute stattfindet, ein heutiges Verbrechen, das irgendwie mit dem Alten in Verbindung steht."
"Die Akte Rosenherz”, wie Jan Seghers seinen Roman nennt, dient ihm lediglich als Ausgangspunkt. Mit der Tatortbesichtigung im Jahr 1966 beginnt er den vierten Krimi mit Kommissar Marthaler, in seinem Zentrum steht der dreiste Raub eines berühmten, also praktisch unverkäuflichen Bildes aus dem Frankfurter Städel. Es gibt einen mysteriösen Hinweis. Ein Obdachloser will die Täter kennen. Das Wort "Rosenherz” ist aber alles, was er auf einem Zettel hinterlässt, bevor er verschwindet und später ermordet wird. So wird die Akte zum Schlüssel des neuen Falls. Über die Handlung im Einzelnen sollen hier nicht viele Worte verloren werden - mit Ausnahme dessen vielleicht, dass Marthaler eigentlich gar nicht ermitteln darf, weil seine Frau bei dem Kunstraub schwer verletzt wurde. Er also persönlich involviert ist. Oder dass sich eine junge Journalistin über die Maßen engagiert in die Ermittlungsarbeit drängelt. Es gelingt dem Autor auf perfekte Weise, beide Fälle zu verschachteln, immer wieder neue Konfliktpotenziale zwischen Marthaler und seinen Kollegen, seiner Frau Tereza, der jungen Journalistin, der verhassten Sensationspresse vor Ort zu kreieren und beide Fälle nach 480 Seiten atemberaubender Spannung plausibel zu lösen! Jan Seghers Kriminalromane - bei ihm lohnt es sich, die Gattungsbezeichnung vollständig auszusprechen - bieten auf vielfältige Weise mehr als nur Spannung. Er nimmt sich Zeit auch für abseitige Figuren, versieht sie mit einer Geschichte, gründet ihre Handlungsweise in konkreten Erfahrungen, auch in konkreten Orten, die ein Eigenleben entwickeln.
"Es ist beim Schreiben schon der halbe Spaß, den man hat, also nicht nur wieder einen Krimi abzuspulen, sondern ihn mit dem, was einen interessieren könnte, auch fett zu füttern, also kommt es darauf an, was man ansonsten zu erzählen hat und da, muss ich sagen, macht mir einfach beim Schreiben die Schauplatzsuche fast den größten Spaß. Weil ich merke, immer wenn man sich auf einen Ort einlässt, dann erzählt einem dieser Ort auch Geschichten, also die Steine oder Bäume oder die Wiese fängt an zu reden. Ein Dialog, der zwischen einem streitenden Ehepaar stattfindet, würde ganz anders verlaufen, wenn er im heimischen Schlafzimmer verläuft oder in einer nächtlichen Unterführung oder auf einem Büroflur."
Seghers reizt die Möglichkeiten aus, die ihm solche Orte schenken, man hält inne, lässt Situationen vor den eigenen Augen entstehen, obwohl die Spannung mit Macht nach vorne drängt. Man freut sich aber auch an winzigen Tupfern, an Bemerkungen ganz am Rande, die Räume öffnen, um dem gesellschaftlichen Bewusstsein, gesellschaftspolitischen Realitäten der 60-Jahre oder der Gegenwart nachzuspüren. "Du bist eine Nutte”, so platzt es plötzlich aus einem jungen Boten heraus, der Karin Rosemnherz am Tage des Mordes das Frühstück bringt, der aber doch von Kopf bis Fuß fasziniert ist von der Frau. Hoppla, denkt der Leser, was ist mit dem denn los? Ein Italiener, der die Tote entdeckt hat, ist sich nur in einem völlig sicher: "Jedenfalls würde er nicht zur Polizei gehen.” Moment mal, warum das denn nicht. Oder Kommissar Marthaler: Er stellt einen 14-Jährigen zur Rede, der ein junges Mädchen anrempelt. Sofort eskaliert die Situation, bis das Mädchen sich als die einzig Souveräne erweist: "Komm, Kevin, hör auf!”, meint sie in die eine, "Alles okay?” in die andere Richtung.
"Ja! Es findet auf jeden, sagen wir mal, eine Beobachtung dessen statt, wie Menschen miteinander umgehen und in welchen Abhängigkeitsstrukturen sie sich bewegen und wie sie sich dabei benehmen, dabei fühlen, ob sie sich unterordnen, ob sie rebellieren dagegen, klar: Das erzählt man in Geschichten, die aber nur dann funktionieren, wenn man sie nicht weitererzählt. Die Pointe muss eigentlich im Kopf des Lesers entstehen. Also man tippt so etwas an und der Leser merkt, 'ha?', oder er merkt auf und es ist etwas fremd an dieser Szene und dann muss er sich die Geschichte selbst weiter erzählen."
Über das gesellschaftskritische Potenzial des Kriminalromans ist viel gesprochen worden, es gab und gibt auch namhafte Autoren, die das Genre zum Vehikel machen, die den Kommissar mit einem erhobenen Zeigefinger versehen. Auch Seghers war in den ersten Romanen nicht frei davon, doch findet er immer deutlicher seine eigene Form, den Krimi als Gesellschaftsroman zu fassen: ohne Thesen zu formulieren, beiläufig, immer im Bewusstsein, das Genre zu achten.
"Man muss die Krimi-Dramaturgie vollständig ernst nehmen, aber sie ist nur das Skelett. Da das aber immer nur die Variante ist, die tausend Mal, zehntausend Mal in ganz vielen Krimis geliefert wird, kommt es darauf an, wie reich man diesen Fall macht. Also mir macht es schon Spaß, selbst dann in dieses Wirrwarr von Geschichten hinein zu geraten. Und ich weiß das ja am Anfang auch nicht so genau, wo diese ganzen Geschichten hinführen werden. Man hat nur eins, was man wissen muss, man muss den Fluchtpunkt der Aufklärung, den muss man früh kennen."
Jan Seghers: "Die Akte Rosenherz", Wunderlich, 480 Seiten, Euro 19,95
Der Fall Matura erinnert stark an den noch heute viel präsenteren Fall der Rosemarie Nitribitt neun Jahre zuvor und hatte schon lange das Interesse des Autors geweckt. Auch Helga Matura, ihren Freiern bekannt als Karin Rosenherz, war eine Edel-Prostituierte, auch sie hatte Kontakte zu Prominenten aus Wirtschaft, Politik, auch damals ermittelte die Polizei diskret und die Fantasie der Zeitungsleser schoss ins Kraut. Dass beide Morde nicht aufgeklärt wurden, hängt auch damit zusammen, dass es zu viele Spuren gab und manche wohl, wie bald danach der komplette Fall, zu früh ad acta gelegt wurden, weil es um allzu hochgestellte Persönlichkeiten ging. Wie der Autor schon im letzten Roman - "Die Partitur des Todes” - ein reales historisches Ereignis zum Ausgangspunkt eines Krimis gewählt hat, hat es ihm nun die Akte Rosenherz angetan.
"Die gesamte Akte umfasst 10.000 Seiten, also die reale Ermittlungsakte, und gereizt hat mich eigentlich daran, dass ich es immer gern habe, wenn mir die Realität den festen Boden unter die Füße gibt beim Schreiben, dass die Fantasie sozusagen ein Sprungbrett hat. Da war eben absolut alles drin. Da waren die Tatortfotos drin, der erste Anruf, sämtliche Zeugenvernehmungen, das Obduktionsprotokoll, der Wetterbericht, den man detailliert angefordert hatte, alles. Also ich hatte einen riesigen Schatz gehoben, als ich diese Akten da sah. Eine dramaturgische Herausforderung war dann, einen Fall zu konstruieren, der heute stattfindet, ein heutiges Verbrechen, das irgendwie mit dem Alten in Verbindung steht."
"Die Akte Rosenherz”, wie Jan Seghers seinen Roman nennt, dient ihm lediglich als Ausgangspunkt. Mit der Tatortbesichtigung im Jahr 1966 beginnt er den vierten Krimi mit Kommissar Marthaler, in seinem Zentrum steht der dreiste Raub eines berühmten, also praktisch unverkäuflichen Bildes aus dem Frankfurter Städel. Es gibt einen mysteriösen Hinweis. Ein Obdachloser will die Täter kennen. Das Wort "Rosenherz” ist aber alles, was er auf einem Zettel hinterlässt, bevor er verschwindet und später ermordet wird. So wird die Akte zum Schlüssel des neuen Falls. Über die Handlung im Einzelnen sollen hier nicht viele Worte verloren werden - mit Ausnahme dessen vielleicht, dass Marthaler eigentlich gar nicht ermitteln darf, weil seine Frau bei dem Kunstraub schwer verletzt wurde. Er also persönlich involviert ist. Oder dass sich eine junge Journalistin über die Maßen engagiert in die Ermittlungsarbeit drängelt. Es gelingt dem Autor auf perfekte Weise, beide Fälle zu verschachteln, immer wieder neue Konfliktpotenziale zwischen Marthaler und seinen Kollegen, seiner Frau Tereza, der jungen Journalistin, der verhassten Sensationspresse vor Ort zu kreieren und beide Fälle nach 480 Seiten atemberaubender Spannung plausibel zu lösen! Jan Seghers Kriminalromane - bei ihm lohnt es sich, die Gattungsbezeichnung vollständig auszusprechen - bieten auf vielfältige Weise mehr als nur Spannung. Er nimmt sich Zeit auch für abseitige Figuren, versieht sie mit einer Geschichte, gründet ihre Handlungsweise in konkreten Erfahrungen, auch in konkreten Orten, die ein Eigenleben entwickeln.
"Es ist beim Schreiben schon der halbe Spaß, den man hat, also nicht nur wieder einen Krimi abzuspulen, sondern ihn mit dem, was einen interessieren könnte, auch fett zu füttern, also kommt es darauf an, was man ansonsten zu erzählen hat und da, muss ich sagen, macht mir einfach beim Schreiben die Schauplatzsuche fast den größten Spaß. Weil ich merke, immer wenn man sich auf einen Ort einlässt, dann erzählt einem dieser Ort auch Geschichten, also die Steine oder Bäume oder die Wiese fängt an zu reden. Ein Dialog, der zwischen einem streitenden Ehepaar stattfindet, würde ganz anders verlaufen, wenn er im heimischen Schlafzimmer verläuft oder in einer nächtlichen Unterführung oder auf einem Büroflur."
Seghers reizt die Möglichkeiten aus, die ihm solche Orte schenken, man hält inne, lässt Situationen vor den eigenen Augen entstehen, obwohl die Spannung mit Macht nach vorne drängt. Man freut sich aber auch an winzigen Tupfern, an Bemerkungen ganz am Rande, die Räume öffnen, um dem gesellschaftlichen Bewusstsein, gesellschaftspolitischen Realitäten der 60-Jahre oder der Gegenwart nachzuspüren. "Du bist eine Nutte”, so platzt es plötzlich aus einem jungen Boten heraus, der Karin Rosemnherz am Tage des Mordes das Frühstück bringt, der aber doch von Kopf bis Fuß fasziniert ist von der Frau. Hoppla, denkt der Leser, was ist mit dem denn los? Ein Italiener, der die Tote entdeckt hat, ist sich nur in einem völlig sicher: "Jedenfalls würde er nicht zur Polizei gehen.” Moment mal, warum das denn nicht. Oder Kommissar Marthaler: Er stellt einen 14-Jährigen zur Rede, der ein junges Mädchen anrempelt. Sofort eskaliert die Situation, bis das Mädchen sich als die einzig Souveräne erweist: "Komm, Kevin, hör auf!”, meint sie in die eine, "Alles okay?” in die andere Richtung.
"Ja! Es findet auf jeden, sagen wir mal, eine Beobachtung dessen statt, wie Menschen miteinander umgehen und in welchen Abhängigkeitsstrukturen sie sich bewegen und wie sie sich dabei benehmen, dabei fühlen, ob sie sich unterordnen, ob sie rebellieren dagegen, klar: Das erzählt man in Geschichten, die aber nur dann funktionieren, wenn man sie nicht weitererzählt. Die Pointe muss eigentlich im Kopf des Lesers entstehen. Also man tippt so etwas an und der Leser merkt, 'ha?', oder er merkt auf und es ist etwas fremd an dieser Szene und dann muss er sich die Geschichte selbst weiter erzählen."
Über das gesellschaftskritische Potenzial des Kriminalromans ist viel gesprochen worden, es gab und gibt auch namhafte Autoren, die das Genre zum Vehikel machen, die den Kommissar mit einem erhobenen Zeigefinger versehen. Auch Seghers war in den ersten Romanen nicht frei davon, doch findet er immer deutlicher seine eigene Form, den Krimi als Gesellschaftsroman zu fassen: ohne Thesen zu formulieren, beiläufig, immer im Bewusstsein, das Genre zu achten.
"Man muss die Krimi-Dramaturgie vollständig ernst nehmen, aber sie ist nur das Skelett. Da das aber immer nur die Variante ist, die tausend Mal, zehntausend Mal in ganz vielen Krimis geliefert wird, kommt es darauf an, wie reich man diesen Fall macht. Also mir macht es schon Spaß, selbst dann in dieses Wirrwarr von Geschichten hinein zu geraten. Und ich weiß das ja am Anfang auch nicht so genau, wo diese ganzen Geschichten hinführen werden. Man hat nur eins, was man wissen muss, man muss den Fluchtpunkt der Aufklärung, den muss man früh kennen."
Jan Seghers: "Die Akte Rosenherz", Wunderlich, 480 Seiten, Euro 19,95