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Japaner im Unruhestand

Viele Japaner haben keine Lust auf den Ruhestand. Sie gehen lieber arbeiten, auch für weniger Geld. Doch nicht für alle älteren Arbeitnehmer ist das eine Frage des Wollens, sondern oft genug des Müssens.

Von Peter Kujath |
    "Mit meinem 63. Geburtstag im Januar bin ich in Rente gegangen. Aber als die Kirschbäume im April blühten, hatte ich das Leben bereits satt und mir war klar, dass ich wieder anfangen wollte zu arbeiten. Ich habe mich bei über 30 Firmen beworben. Alle haben mich abgelehnt."

    Motokazu Nagayasu ist 66 Jahre alt, verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, ein geruhsames, zurückgezogenes Leben zu führen. Aber man merkt dem schlanken, energisch wirkenden Mann an, dass das wohl keine echte Alternative war.

    "Mir wäre jede Arbeit recht gewesen. Deshalb habe ich mich überall beworben sogar bei der Post, um Briefe zu sortieren. Es hätte mir gereicht, dort einfach eine gewisse Zeit zu verbringen und mit anderen Leuten zu sprechen. Ich habe eine gute Rente. Deshalb spielte die Art der Arbeit keine Rolle."

    Motokazu Nagayasu ist kein Einzelfall. Das Sozialleben vieler Japaner beschränkt sich auf die Arbeit. Man geht mit den Kollegen abends gemeinsam etwas trinken und am Wochenende zum Golfspielen. Mit der Pensionierung fällt man aus der Gruppe heraus und sucht auch von sich aus den Kontakt nicht mehr. Das offizielle Renteneintrittsalter in Japan wird mit Beginn des neuen Fiskaljahres im April auf 65 Jahre erhöht, aber die genauen Regelungen sind kompliziert. So sind die Firmen zwar angehalten, ihren Beschäftigten bis zum 65. Lebensjahr Arbeit anzubieten, aber sie können sie weiterhin ab 60 kündigen und dann zu schlechteren Bedingungen anstellen.

    "Die Wirklichkeit sieht so aus, dass einige Firmen bevor man 60 Jahre alt wird anfragen, ob man weiterarbeiten möchte. Wenn man darauf mit einem ja antwortet, dann wird das Gehalt auf der Stelle gekürzt. So etwas kommt vor. Aber es ist auf der anderen Seite auch nicht einfach für die Unternehmen, das notwendige Geld für die Weiterbeschäftigung bis 65 zusammenzubekommen."

    Yukari Takahira muss es wissen. Sie ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied von MyStar 60. Die Firma wurde vor 22 Jahren gegründet und ist die älteste Senioren-Zeitarbeitsfirma in Japan.

    "Nimmt man nur diejenigen, deren Vorstellungsgespräche nicht länger als drei Jahre zurückliegen, so sind bei uns 6655 Senioren als Leiharbeiter angemeldet. Die meisten sind zwischen 60 und 64 Jahre alt."

    In Japan gilt das Senioritätsprinzip. Das heißt, das Gehalt steigt automatisch mit zunehmendem Alter. Auch die lebenslange Verbundenheit mit einer Firma ist noch immer weit verbreitet. Daher bringt der Schnitt mit 60 den Unternehmen eine deutliche Einsparung. Auf die Frage, warum die Japaner trotz der schlechteren Bezahlung weiterarbeiten wollen, hat Yukari Takahira eine einfache Antwort.

    "Der Arbeitseifer der Japaner ist im internationalen Vergleich sehr hoch. Das gilt auch für die Menschen über 60. Daher wollen viele Japaner trotz ihres Alters auf jeden Fall weiterarbeiten."

    Es ist aber nicht für alle älteren Menschen in Japan eine Frage des Wollens, sondern manchmal des Müssens.

    An vielen S- bzw. U-Bahn-Stationen im Großraum Tokio gibt es einen Fahrradparkplatz.

    Mit einem guten Morgen nehmen die älteren Herren die Räder in Empfang. 100 Yen kostet der Abstellplatz pro Tag. Das reicht für die geringe Bezahlung der Senioren nicht aus. Deshalb hilft die Gemeinde mit einem Zuschuss. Denn viele der alten Herren müssen arbeiten, weil sie nur eine kleine oder gar keine Rente bekommen. Auch auf Baustellen arbeiten diese Menschen als sogenanntes Sicherheitspersonal. Mit einem Leuchtstab schicken sie zum Beispiel die Autos auf die andere Straßenseite oder passen auf, dass die Fußgänger nicht in das ausgehobene Loch fallen. MyStar 60 vermittelt auch solche Tätigkeiten. Schwer haben es vor allem die mittleren Büroangestellten, erklärt Yukari Takahira.

    "In Japan gibt es viel Büropersonal, das man am besten mit dem Ausdruck Generalisten bezeichnet. Sie können vielleicht alles, aber alles können sie nicht wirklich. Oder nur das, was gerade für diese Firma an diesem Platz von Nutzen war. Wer technisches Wissen oder handwerkliche Fähigkeiten hat, der hat auf dem Anstellungsmarkt für Senioren deutlich bessere Chancen."

    Die japanische Rentenregelung sieht vor, dass jeder bereits mit 60 in den Ruhestand gehen kann, dann aber 30 Prozent weniger erhält. Geht er jedoch erst mit 70, erhöhen sich die monatlichen Auszahlungen ab diesem Zeitpunkt um 30 Prozent. Das betrifft aber nur einen Teil der staatlichen Rente und nur wenn man 25 Jahre lang eingezahlt hat. Motokazu Nagayasu hätte damals bei seiner alten Firma weiterarbeiten können.

    "Aber ich habe alle Angebote abgelehnt, weil ich damals noch dachte, dass ich mich aus dem Arbeitsleben verabschieden möchte. So wie das die Deutschen vielleicht machen. Aber ich musste mir bald eingestehen, dass das mit den Hobbys nur eine Halbwahrheit war."

    Auch das ist durchaus typisch für Japan. In der Regel beendete man das normale Erwerbsleben mit 60 und erhielt dann als höhergestellter Mitarbeiter ein Angebot an anderer Stelle oder in einer der Tochterfirmen weiterzuarbeiten. Mit der Hilfe von MyStar 60 dauerte es nicht lange und Nakayasu hatte eine neue Aufgabe. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet er wieder – dreimal die Woche für weniger Geld, aber dafür ist er glücklich.