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Jaron Lanier
Vordenker und Kritiker von Internetkonzernen

Er gilt als Vater der virtuellen Realität, doch inzwischen hat er sich einen Namen als Kritiker der großen Internetkonzerne gemacht: Jaron Lanier. Der US-Amerikaner ist Informatiker, Schriftsteller und Musiker. Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse wird er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten.

Von Wolfgang Stuflesser | 09.10.2014
    Der Programmierer, Künstler und Schriftsteller Jaron Lanier
    Der Programmierer, Künstler und Schriftsteller Jaron Lanier lebt im kalifornischem Berkeley. (Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Lena Lanier)
    Nein, so würde man sich wohl einen Internet-Theoretiker und Informatiker erst mal nicht vorstellen: Jaron Lanier spielt gerade eine syrische Laute, das Sammeln und Lernen neuer Instrumente ist seine Leidenschaft. Mehr als 2.000 hat er in seinem Haus, das kreative Durcheinander passt zu seinem ziemlich Hippie-mäßigen Äußeren. Die langen roten Haare baumeln in Rasta-Zöpfen um seinen Kopf. Er ist 54, wirkt aber gut 20 Jahre jünger, wenn er etwa eine Trommel aus Deutschland bearbeitet.
    Unerwartete Wendungen im Lebenslauf
    Und die Musik war es auch, die ihn umdenken und zum Kritiker der technischen Entwicklung werden ließ. Sein Lebenslauf hat ein ein paar unerwartete Wendungen genommen: Er stammt aus einer jüdischen Familie, die Mutter war eine Holocaust-Überlebende. Er selbst war schon früh technik-begeistert, arbeitete in den 80ern als Spieleprogrammierer für Atari, gilt als Vater des Begriffs der virtuellen Realität, und die Encyclopædia Britannica zählt ihn zu den 300 wichtigsten Erfindern aller Zeiten. Doch Anfang des neuen Jahrtausends kamen ihm Zweifel am Fortschrittsglauben des Silicon Valley:
    "Fast jede Woche wurde ich gefragt, ob ich bei einem Benefizkonzert mitmachen würde - zugunsten von ehemals berühmten Musikern, die sich nicht mehr über Wasser halten konnten, seit die Musikindustrie durch die Digitalisierung zusammengebrochen war. Und da dachte ich mir: Warum sollte es bei den Arbeitern in der Autofabrik anders sein, wenn die Roboter übernehmen. Da wurde mir klar: Die Idee der Digitalisierung klang vielleicht gut, aber sie funktionierte nicht."
    Lanier wohnt in der Universitätsstadt Berkeley, nicht weit vom Silicon Valley, wo Firmen wie Google oder Facebook sitzen. Sie seien nur deshalb so erfolgreich, sagt Lanier, weil wir alle sie ständig - und kostenlos - mit unseren Daten versorgen, indem wir ihre Dienste nutzen.
    "Die gesamte Wirtschaft organisiert sich gerade neu, indem die Leute durch Algorithmen, durch Computerprogramme, überwacht werden: Wir sammeln Unmengen an Daten über die Leute, formen daraus Profile und setzen ihnen dann Werbung vor, die eigentlich gar keine Werbung mehr ist, sondern eine Modifizierung des Verhaltens."
    Gegen die Datenkrake
    Will sagen: Diese Firmen kennen uns so gut, dass sie uns einen digitalen Schubs in eine bestimmte Richtung geben können. Amazons Kaufempfehlungen sind da erst der Anfang - und am Ende stehen die Miliardäre des Silicon Valley - und auf der anderen Seite jede Menge Jobs in der Mittelschicht, die verloren gehen: Buchhändler, Grundstücksmakler, Journalisten. Einfach weil ihre Dienste der digitalisierten Gesellschaft offenbar nichts mehr wert sind. Als Gegenmittel setzt Lanier auf: Kapitalismus. Und zwar, wie er sagt, zu einem solchen Extrem, das etwas ganz Anderes daraus werde.
    Dann müssten Google und Co. uns Geld dafür zahlen, dass sie unsere Daten nutzen. Minimalstbeträge wären das für jede Internetsuche, für jedes hochgeladene Foto und jedes Gefällt mir bei Facebook. Doch am Ende würden daraus Milliarden. Deshalb ist Lanier auch für das viel kritisierte deutsche Leistungsschutzrecht, wonach Google den Zeitungsverlagen Gebühren zahlen muss, wenn ganze Passagen aus deren Artikeln im Nachrichtenangebot Google News zitiert werden. Das Gesetz wurde nicht nur von Google heftig kritisiert, weil es den freien Informationsfluss im Netz behindere.
    "Die Zeitungsverleger haben Recht, und Google liegt falsch. Und das, was die Verleger wollen, nutzt langfristig auch Google, weil so eine reichere, stabilere Gesellschafft entsteht, in der Google florieren kann. Mit Googles Methode dagegen verarmt die Gesellschaft, und auf lange Sicht hungert das Google selbst aus."
    Solche Sätze werden die Branchenvertreter der Zeitungs- und Buchverlage am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche gern hören - doch Lanier ist immer für eine Überraschung gut - wer weiß, was er auch ihnen in seiner Dankesrede noch zu sagen hat.