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JazzFacts - Rezension
Wie man Zugang zum Jazz findet

Jazz war einst eine Popmusik, nach der die ganze Welt tanzte. Doch manchen fällt der Zugang zu dieser Musikrichtung schwer. Der amerikanische Musikhistoriker und Pianist Ted Gioa hat mit seinem Buch "How to listen to jazz" eine Anleitung geschaffen, um sich an Stile und Musiker des Jazz heranzutasten.

Von Michael Kuhlmann | 30.06.2016
    Louis Armstrong, Jazz-Trompeter und Sänger
    Wie nähert man sich einem Jazzstück - zum Beispiel von Louis Armstrong. (imago / United Archives International)
    Als diese Schellackplatte des Saxofonisten Charlie Parker sich 1948 unter dem Tonarm drehte, weckte sie bei etlichen Hörern nur Unverständnis – oder sogar Abscheu. Wie findet man Zugang zu solch einer Musik? Analytisch, mit einem schlauen Buch oder mit dem Notentext vor Augen? Gerade nicht, sagt Ted Gioia:
    "Ich möchte, dass du die Musik mitsingst! Versuche, zu verinnerlichen, wie Parker spielt – und wenn es nur ein paar Takte sind. Du wirst in die Essenz des Bebop-Klangs eintauchen. Du wirst die rhythmische Struktur der Phrasen fühlen. Du wirst die Chromatik und die Kadenzen verinnerlichen – selbst wenn du keine Ahnung von ihren Regeln hast. So bekommst Du einen tiefen Sinn dafür, was Parker für das Jazzvokabular getan hat."
    Der Saxofonist John Coltrane gibt 1965 ein Konzert in Paris.
    Der Saxofonist John Coltrane gibt ein Konzert in Paris (AFP)
    Das ist typisch für den Ansatz, den Ted Gioia in seinem neuen Buch proklamiert. "How to listen to jazz", das ist nebenher eine Kampfansage an die Auffassung, wonach jeder sich einem Kunstwerk – also auch einem Musikstück – subjektiv und auf seine persönliche Art nähere.
    "Das Kunstwerk verlangt immer von uns, dass wir uns ihm öffnen. Ein echtes Kunstwerk kann man daran erkennen, dass es sich unserer Subjektivität widersetzt."
    Von Louis Armstrong bis hin zu John Coltrane
    Auf den Jazz übertragen, heißt das:
    "Wir müssen uns jedem Künstler und Stil nach seinen eigenen Kriterien nähern. Ich möchte Neulinge dazu drängen, ihren Zugang zum Jazz über das Element des individuellen Ausdrucks zu suchen. Wenn ich die Kunst eines Charles Mingus oder Lester Young oder Bill Evans preise, dann zu einem guten Teil deshalb, weil mich ihre Musik in eine Beziehung zu ihnen gebracht hat. Ich habe sie nie persönlich getroffen. Aber ich fühle, dass ich sie kenne."
    Eine eigentümliche Mischung aus Offenheit und emotionalem Engagement. Auf dieser Basis hat Gioia eine knappe, mehrteilige Darstellung verfasst. Dazu gehört natürlich ein Blick auf die Stilentwicklung des Jazz, dazu gehört auch eine Anzahl kurzer Porträts von Jazz-Innovatoren: von Louis Armstrong und Coleman Hawkins bis hin zu Miles Davis und John Coltrane.
    Und er legte wortlos eine Pistole aufs Klavier
    Alles orientiert sich aber eng an der Frage, wie sich jemand, der noch keinen Ton von diesen Musikern gehört hat, an sie herantasten kann. Gioia geht dabei pragmatisch vor: Im Falle alter Stile wie des New Orleans Jazz rät er, die Musik als Produkt desselben Geistes zu begreifen, der zeitgenössische literarische Werke schuf wie die Bücher von James Joyce und Marcel Proust. Was aber tun im Falle des sperrigen Free Jazz?
    "Manchmal ist der emotionale Zugang der beste. Wie wenn du dich der Energie eines Hard-Rock-Konzertes öffnest. Analysieren kannst du immer noch hinterher. Statt auf einzelne Töne zu hören, solltest du dich im Klang versenken. Statt Takte zu zählen, und Strukturen zu erkunden – reite mit auf dem Flow der Musik. Versteh sie als eine Klanglandschaft, auf der du querfeldein gehen kannst, ohne dich noch an Straßen und Grenzen halten zu müssen."
    "Ich will dir helfen, dein Hörvermögen zu erweitern"
    In weiteren Kapiteln behandelt Gioia die Grundelemente des Jazz, und das sehr praxisnah: Er macht am Beispiel einzelner Musiker klar, wie wichtig es ist, dass ein Solist seine Phrasen mit persönlichem Ausdruck spielt. Oder er zeigt, dass Swing und rhythmische Energie nichts mit Metronomgenauigkeit zu tun haben. All dies in einer engagierten und höchst kurzweiligen Art. Angereichert durch Anekdoten wie die des Pianisten Jelly Roll Morton, der einen eigenwilligen Posaunisten im Aufnahmestudio zur Raison brachte, indem er wortlos eine große Pistole aufs Klavier legte. Ein Zeichen von Mortons künstlerischer Entschlossenheit, so Gioia. Aber:
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Sylvain Rifflet mit seiner Band "Mechanics" beim 10. Jazzdor Berlin 2016. (Mathieu Schoenahl)
    "Mein Ziel ist nicht, einen vergleichenden Führer zur Musik großer Jazzmusiker zu schreiben. Sondern ich will dir helfen, dein Hörvermögen zu erweitern. Und Hörstrategien zu entwickeln, die dich näher bringen an die musikalische Essenz eines jeden Künstlers. Es geht mir um Kennerschaft und Urteilsvermögen. Es ist, wie wenn du lernst, Weine zu kosten. Da kann ein bisschen Fachwissen helfen; aber man kann es auch ohne akademischen Grad in Weinkunde tun. Bei Pinot Noirs wie in der Musik kommt es darauf an, einen informierten Geschmack zu kultivieren. Damit kommt man tiefer hinein."
    Jazz ist keineswegs tot
    Und damit sei man auch für kommende Trends des Jazz gewappnet. Diese Musik ist aus Gioias Sicht heute multinationaler denn je – und vor allem: immer noch offen, um sich mit externen jungen Stilen zu verbinden. Der Jazz sei eben keineswegs tot, schreibt Gioia.
    "Wenn du Jazz nach musikalischen Kriterien beurteilst – und nicht als Kulturprodukt, das man nach Klick-Zahlen klassifiziert –, dann ist diese Musik in großartigem Zustand. Das handwerkliche Niveau ist so hoch wie nie. Die Skala der Klänge und Stile weiter denn je. Und die Musik ist so leicht zugänglich wie nie zuvor: Ich kann hochaufgelöste Konzertvideos vom anderen Ende der Welt in meinem Wohnzimmer verfolgen."
    Das Buch gibt auch Kennern Denkanstöße
    Ein Zustand, von dem man vor 20 Jahren nicht mal geträumt hätte. Wie man sich dieser Musikflut nähern kann, dazu gibt Ted Gioia anregende Tipps und Hinweise.
    Das Buch eignet sich für Neueinsteiger, aber es gibt auch Kennern Denkanstöße – und auch Musiker, die einen Blick hineinwerfen, könnten sich von Gioia und seinem Blick auf die Essenzen des Jazz erden lassen. Der Band ist zwar nicht ganz billig. Aber wenn man sich mit seinen Botschaften im Hinterkopf auf Entdeckungsreise begibt, ist er jeden Cent wert. Er öffnet einem die Ohren; und das lohnt sich. Denn, wie Gioia selbst schreibt:
    "In einer Kunstform, die sich so der Spontaneität und dem Risiko hingibt, könnte fast alles passieren."
    Ted Gioia, How to listen to jazz, Basic Books 2016, 255 Seiten, cirac 23 Euro.