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Jean Améry: Werke, Bd. 2: Jenseits von Schuld und Sühne; Unmeisterliche Wanderjahre; Örtlichkeiten. Hg. von Gerhard Scheit.

Alles könnte leichter ertragen werden, wenn meine Verbundenheit mit den anderen Juden sich nicht erschöpfte in revoltierender Solidarität, wenn der Zwang sich nicht ständig stieße an der Unmöglichkeit. Ich weiß es nur allzu gut. Ich saß neben einem jüdischen Freund bei der Aufführung von Arnold Schönbergs 'Ein Überlebender aus Warschau`: Als, von Posaunenklängen begleitet, der Chor anstimmte 'Sch’ma Israel’, wurde mein Begleiter kalkbleich, und Schweißperlen traten auf seine Stirn. Mein Herz pochte nicht schneller, aber ich fühlte mich bedürftiger als der Kamerad, den das unter Posaunenstößen gesungene Judengebet erschüttert hatte. Jude sein, dachte ich mir nachher, ich kann es nicht in Ergriffenheit, nur in Angst und Zorn, wenn Angst sich, um Würde zu erlangen, in Zorn verwandelt. 'Höre Israel’ geht mich nichts an. Nur ein 'Höre Welt’ möchte zornig aus mir dringen: So will es die sechsstellige Nummer auf meinem Unterarm. So fordert es das Katastrophengefühl, Dominante meiner Existenz.

Hans Martin Lohmannn | 17.03.2003
    Alles könnte leichter ertragen werden, wenn meine Verbundenheit mit den anderen Juden sich nicht erschöpfte in revoltierender Solidarität, wenn der Zwang sich nicht ständig stieße an der Unmöglichkeit. Ich weiß es nur allzu gut. Ich saß neben einem jüdischen Freund bei der Aufführung von Arnold Schönbergs 'Ein Überlebender aus Warschau`: Als, von Posaunenklängen begleitet, der Chor anstimmte 'Sch’ma Israel’, wurde mein Begleiter kalkbleich, und Schweißperlen traten auf seine Stirn. Mein Herz pochte nicht schneller, aber ich fühlte mich bedürftiger als der Kamerad, den das unter Posaunenstößen gesungene Judengebet erschüttert hatte. Jude sein, dachte ich mir nachher, ich kann es nicht in Ergriffenheit, nur in Angst und Zorn, wenn Angst sich, um Würde zu erlangen, in Zorn verwandelt. 'Höre Israel’ geht mich nichts an. Nur ein 'Höre Welt’ möchte zornig aus mir dringen: So will es die sechsstellige Nummer auf meinem Unterarm. So fordert es das Katastrophengefühl, Dominante meiner Existenz.

    Jean Améry im letzten Kapitel 'Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein’ in seinem 1966 erschienen Buch 'Jenseits von Schuld und Sühne’. Dieses Buch, zwanzig Jahre nach seiner Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz geschrieben, nannte Améry im Vorwort eine durch Meditation gebrochene, persönliche Konfession, eine Wesensbeschreibung der Opferexistenz. Diese Reflexionen eines Intellektuellen über die totale Entwürdigung durch die Tortur, eine Erfahrung, in der der Geist an seine Grenzen stößt, zählte, wie die Bücher Primo Levis zu jenen Zeugnissen, die eine Annäherung an das Grauen der Massenvernichtung überhaupt erst möglich zu machen schienen und so tiefe Spuren im Bewusstsein hinterließen. Als Intellektueller, der sich herrschenden Moden verweigerte, der das Katastrophengefühl als Dominanz seiner Existenz nie verleugnete und dennoch keine Zuflucht suchte, saß Améry Zeit seines Lebens zwischen den Stühlen. Umso verdienstvoller ist es, dass der Verlag Klett Cotta sich entschlossen hat, eine Werkausgabe zu publizieren. Deren 2. Band enthält jetzt neben Amérys 'Bewältigungsversuche eines Überwältigten’, wie er 'Jenseits von Schuld und Sühne ' im Untertitel nannte auch seine 'Unmeisterlichen Wanderjahre’. Hans-Martin Lohmann über den Autor Jean Améry und sein Werk:

    Erinnert sich noch jemand des Mannes mit der ewigen Zigarette? Auf nicht wenigen der überlieferten Fotos, die es von Jean Améry gibt, sieht man ihn, zergrübelten und zerfurchten Gesichts, mit jenem unvermeidlichen Requisit zwischen Zeige- und Mittelfinger, das, so möchte man fast sagen, gewissermaßen organisch zu seiner physischen Erscheinung gehörte: Ohne Zigarette hat man ein schlechterdings unvollständiges Bild dieses Autors. Und man ahnt, dass bei ihm die Zigarette womöglich mehr bedeutete als nur eine schlichte oder schlechte Angewohnheit. In seinem Essay über Ressentiments schildert Améry, wie ihm in der Zigarette das buchstäblich Rettende und Menschliche begegnete – der Mithäftling in Auschwitz teilt mit ihm seine letzte, und ein Wehrmachtssoldat wirft ihm in der Festung Breendonk nach der Folterung eine brennende Zigarette durchs Gitter in die Zelle. Es waren die (wenigen) guten Kameraden – ach, Uhland! –, welche die Finsternis, in die man Améry gestoßen hatte, mit einer einzigen armseligen Zigarette erhellten. Vielleicht hat er deshalb bis zum Ende an ihr festgehalten.

    Jean Améry ist jetzt fast 25 Jahre tot (er starb im Herbst 1978), und es scheint, als sei die Zeit mit jener Unerbittlichkeit über ihn hinweggegangen, die sie nur für solche bereithält, die schon zu ihrer Zeit nicht im Einvernehmen mit ihr standen. Dabei gehörte er, der gebürtige österreichische Jude Johannes Mayer, der sich später aus Neigung und Liebe zur französischen Kultur frankophon umbenannte, zu einem Typus des Intellektuellen, der im Nachkriegsdeutschland eigentlich um so mehr gebraucht wurde, je weniger es ihn gab. Aber man brauchte ihn nicht, jedenfalls nicht so, wie er es sich selbst gewünscht und erhofft hätte und wie wir, rückblickend, es uns hätten wünschen und erhoffen müssen. Améry hatte zu seiner Zeit das Pech, dass er keiner jener mehr oder minder einflussreichen und das öffentliche Meinungsklima bestimmenden intellektuellen Gruppen oder Denkrichtungen angehörte, die in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren tonangebend waren. Weder hielt er es mit der heideggernden Betulichkeit auf den philosophischen Lehrstühlen, die ihr geistiges Arrangement mit dem Nationalsozialismus ohne größere Schwierigkeit in das mit der Adenauer-Republik hinüberrettete; noch war Améry später bereit, sich einem Denken anzupassen, das im Zeichen von Marx und Freud an den Universitäten vorherrschte und auch die öffentliche Meinung beeinflußte. Es mag mit dieser spezifischen "Ortlosigkeit" Amérys innerhalb des herrschenden zeitgenössischen Diskurses zu tun haben, dass selbst ein Intellektueller vom Format Theodor W. Adornos es nicht über sich brachte, in einem mit "Meditationen zur Metaphysik" überschriebenen berühmten Abschnitt aus der Negativen Dialektik, der die Folter thematisiert, den Autor zu erwähnen, der die Folter am eigenen Leibe erlitten hatte und dessen Text über "Die Tortur" Adorno nachweislich kannte – eben Améry. Dessen geistiges und politisches Koordinatensystem war zu sehr an Frankreich und einer französischen clarté orientiert, aber auch zu eigentümlich geprägt vom Rationalismus des Wiener Kreises der frühen dreißiger Jahre, als dass der Weltgeist zu Frankfurt daran hätte Gefallen finden können.

    Man muss es also vorbehaltlos begrüßen, dass sich der Stuttgarter Klett-Cotta Verlag entschlossen hat, das bisher nur verstreut vorliegende Werk Amérys nunmehr in geschlossener Form vor die Öffentlichkeit zu bringen, auf dass diese sich ein Urteil bilde. Die neue, auf neun Bände konzipierte große Ausgabe wird von der Brüsseler Literaturwissenschaftlerin Irene Heidelberger-Leonard verantwortet und präsentiert alle wichtigen Einzelwerke und Schriften Amérys, darunter das bisher unpublizierte frühe Romanfragment Die Schiffbrüchigen.

    Den Auftakt der Werkausgabe bildet eine Reihe von autobiographischen Schriften, die der Autor selber als eng zusammengehörig betrachtete: Jenseits von Schuld und Sühne aus dem Jahr 1966, Unmeisterliche Wanderjahre von 1971 sowie Örtlichkeiten, 1980 posthum erschienen. Jeweils umfangreiche Anhänge zu den drei großen Essays enthalten unveröffentlichte Texte, Entwürfe und Briefe, die den Entstehungshintergrund und den Denkzusammenhang erhellen, denen sich die schließlich publizierten Schriften verdanken. Man wird diese drei bedeutenden Arbeiten Amérys, in denen er sich in radikaler Ungeschütztheit preisgibt, freilich erst und nur dann vollständig bewerten und einordnen können, wenn man sie zusammen mit den Essays Über das Altern und Hand an sich legen liest. Gemeinsam bilden die fünf Stücke "so etwas wie einen essayistisch-autobiographischen Roman", wie Améry selber anmerkte. Die beiden letzteren Schriften sind einem weiteren Band der Werkausgabe vorbehalten.

    Mit der Arbeit Jenseits von Schuld und Sühne wurde Améry in der Bundesrepublik erstmals bekannt, ja berühmt. Zur Erinnerung: Kurz zuvor hatte Hannah Arendt ihren Bericht über den Jerusalemer Eichmann-Prozess, über die "Banalität des Bösen" publiziert – ein Befund, dem Améry übrigens vehement widersprach –, war soeben der Frankfurter Auschwitz-Prozess über die Bühne gegangen, erlebte Peter Weiss’ Stück Die Ermittlung seine Uraufführung. In diesem historischen Kontext, der erstmals in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte die Physiognomie der Nazitäter ausleuchtete, wagte es ein Autor, in der Ichform das Schicksal der Opfer zu thematisieren – lange bevor es in Deutschland und anderswo Mode und Anmaßung wurde, sich zum Opfer zu erklären. Über sein literarisches Verfahren, nämlich in der ersten Person Singular zu sprechen, hat Jean Améry im Vorwort zu seinem Buch Rechenschaft abgelegt:

    Hatte ich noch in den ersten Zeilen des Auschwitz-Aufsatzes geglaubt, ich könne behutsam und distanziert bleiben und dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten, musste ich nun erfahren, dass es einfach unmöglich war. Wo das 'Ich’ durchaus hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzig brauchbare Ansatzpunkt...Bekennend und meditierend gelangte ich zu einer Untersuchung oder, wenn man will, zu einer Wesensbeschreibung der Opfer-Existenz.

    Paradoxerweise verdichtet sich der radikale Subjektivismus, dem Améry sich literarisch anvertraut, zu einem Zeugnis von bestürzender, brutaler Objektivität. Seine "Wesensbeschreibung der Opfer-Existenz", die ihm im belgischen Breendonk, in Auschwitz und Bergen-Belsen leiblich und geistig aufgezwungen wurde, gewinnt er nicht durch die Aufzählung und Summierung der "objektiven" Umstände und Bedingungen, denen das Opfer unterworfen war, vielmehr vermittels gnadenloser Selbstbeobachtung und differenziertester Selbstwahrnehmung: Was geschieht mit mir – mit mir allein –, wenn im Verhör der erste Schlag des Folterers auf mich nieder- saust? Wie viel Kraft bleibt mir, diesen und noch den nächsten Schlag zu überstehen? Gibt es einen Mit-Menschen – denn der Folterer ist kein Mit-Mensch mehr–, der meine Schreie hört? Wird mein inneres Universum diesen äußeren Angriff überstehen? Wie kein anderer Autor hat Améry Zeugnis von der Leibeingeschlossenheit des Opfers abge-legt: "Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs", heißt es, einen berühmten Satz Wittgensteins variierend, im Essay über die Tortur. Da ist nichts von heroischem Ertragen des Unerträglichen und von geistigem Widerstand gegen den Überwältiger – es gibt nur ein vollständiges Überwältigtsein durch die Qual des Fleisches.

    Der Schmerz war, der er war.

    Punkt. Aus. Und wie kein anderer Autor hat Améry Zeugnis von der nomadischen Einsamkeit dessen abgelegt, der den Schlag empfängt. Denn mit diesem Schlag geht unwiderruflich verloren, "was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen" – das Vertrauen nicht nur in die geltenden Gesetze der Kausalität und in die Gültigkeit des Induktionsschlusses, sondern, viel dramatischer und folgenreicher, in die Gewissheit,

    ... dass der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, dass er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert .

    Man geht, in Kenntnis auch anderer autobiographischer Äußerungen, etwa über den Selbstmord, wohl kaum fehl in der Annahme, dass dieser Autor das Vertrauen in die Welt nie wieder erlangt hat.

    Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.

    Es war Jean Améry, der gegen die nicht selten vorkommende Ansicht opponierte, der geistige Mensch, der Intellektuelle (der zu sein er sich stolz bekannte) sei gegen jene Zumutungen, die dem Opfer auferlegt werden, besser als andere gewappnet. Auschwitz: Das war in der Tat "an den Grenzen des Geistes". Zu Amérys beeindruckendsten Seiten gehört ohne Zweifel sein großartiger und militanter Antiidealismus, der auch vor der eigenen Person nicht halt machte. Améry hat weder sich selbst noch andere mit Samthandschuhen angefasst. Nach Versöhnung war ihm um so weniger zumute, als er sehen musste, wie alle Welt sich bemühte, die Vergangenheit zu "bewältigen" und zur wohldosierten Tagesordnung überzugehen – einschließlich, wie Améry bissig anmerkt, jener

    von Vergebens- und Versöhnungspathos vibrierenden Juden.

    wie Martin Buber und Victor Gollancz, die im deutsch-jüdischen Dialog der sechziger Jahre eine maßgebliche Rolle spielten. Selbst die umstrittene These von einer deutschen Kollektivschuld hielt Améry für eine "brauchbare Hypothese" insofern, als die Summe aus individueller "Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld" die Gesamtschuld der Deutschen ausmache. Dieser Gedanke erinnert an Raul Hilbergs Kollektiv von 'Tätern und Zuschauern’. Améry beharrte auf dem Recht seines "Ressentiments", gehörte bewusst zu denen, "die da nachtrugen". Wer die geistige und politische Physiognomie Amérys ganz erfassen will, lese nicht zuletzt seine Unmeisterlichen Wanderjahre, in denen das Davor und das Danach der Tortur und des Vernichtungslagers niedergelegt sind. Der Essay thematisiert die biographischen wie die philosophischen und literarischen Voraussetzungen, die es Améry überhaupt erst ermöglichten, über die Erfahrung des Überwältigtseins schreiben zu können. Die im Anhang dazu abgedruckten Texte über Martin Heidegger ("jener ungute Magus aus dem Alemannenland"), über Sartre und Ernst Jünger, intellektuelle Selbstverständigungen aus den fünfziger Jahren, wirken auch heute noch, oder heute gerade wieder, frisch und eindrücklich. Muss man betonen, welch eminent belesener und gebildeter Kopf Améry war?

    Alles in allem: Jean Améry war ein österreichisch-deutsch-belgisch-französisch-jüdischer Solitär, ein Heimatloser, der, wie es in den Örtlichkeiten, dem dritten der in diesem Band versammelten autobiographischen Essays, lapidar heißt, sich ein Leben lang darauf hat trainieren können, "nirgendwo dazuzugehören". An ihm können wir nichts, gar nichts wiedergutmachen. Er bleibt unversöhnt und unversöhnlich: Als er Hand an sich legte, da hatte sich auch die letzte Spur des Objektal-Rettenden verloren.

    Hans Martin Lohmann besprach: Jean Améry, Werke, Band 2 herausgegeben von Gerhard Scheit, erschienen im Verlag Klett Cotta. Der Band hat 853 Seiten und kostet 40 €.