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Jean-Dominique Ingres, der Meister der Linie

Eigentlich wollte Jean-Auguste-Dominique Ingres als Historienmaler in die Kunstgeschichte eingehen. Heute jedoch wird dieser Bannerträger des französischen Klassizismus besonders als Porträtist und Zeichner verehrt. In New York zeigt die Morgan Library 17 ausgewählte Werke in einer intimen Ausstellung.

Von Sacha Verna | 18.09.2011
    Eigentlich wollte Jean-Auguste-Dominique Ingres als Historienmaler in die Kunstgeschichte eingehen. Doch wird dieser Bannerträger des französischen Klassizismus heute besonders als Porträtist und Zeichner verehrt. Bilder wie das der Prinzessin von Broglie in ihrem himmelblau strahlenden Damastkleid oder das der zart mondgesichtigen Mademoiselle Rivière in weisser Empire-Robe sind weltberühmt.

    "Ingres schrieb eine Menge Briefe, von denen viele noch erhalten sind. Deshalb haben wir zahlreiche deftige Zitate, in denen er sagt: Ach, die Porträts hängen mir zum Hals heraus, ich will mich endlich wieder mit meinen wichtigen Werken beschäftigen. In gewissen Momenten quälte er sich also damit."

    …sagt Esther Bell, die die Ausstellung mit Zeichnungen Ingres’ aus dem Bestand der Pierpoint Morgan Library kuratiert hat. Es war nicht die Arbeit an Porträts und das Zeichnen an sich, das Ingres missfiel. Im Gegenteil. Gerade der Zeichnung maß Ingres höchste Bedeutung bei. So schrieb er einmal, die Zeichnung sei keine blosse Wiedergabe der Umrisse, nicht nur eine Linie. Die Zeichnung sei vielmehr der Ausdruck, die innere Form, die Komposition, das Modell. Seiner Ansicht nach machte sie sieben Achtel eines Bildes aus.

    Nein, es war nicht die Arbeit an sich, die Ingres nicht mochte, sondern die Umstände, die ihn dazu zwangen: Ingres kam 1806 als Gewinner des prestigeträchtigen Prix de Rome der Französischen Akademie in die Villa Medici und beschloss nach Ablauf seiner Stipendiatenzeit zu bleiben. Allerdings mangelte es ihm an Geld, zumal nach dem Fall der Napoleonischen Regierung Aufträge aus der Heimat ausblieben. So sah sich Ingres genötigt, Porträts von Touristen, Bekannten und Honoratioren zu zeichnen. Die von Lord und Lady Glenbervie etwa – ihn mit den fleischigen Wangen und sie mit einem Hut, dessen Schlaufen und Blumen Ingres ebenso minutiös darstellt wie das Gesicht, das wie immer bei Ingres fast dreidimensional erscheint in seiner feinen Strichgebung.

    Man könne die Persönlichkeit dieser seit langem verstorbenen Menschen spüren, sagt Esther Bell:

    "Ich schaue mir gerne bizarre Bilder an wie die Studie zu "Oedipus und die Sphinx”, die kalt, still und nachdenklich ist und daneben eines dieser naturalistischen, fast fotografischen Porträts. Ingres hatte eine immense Bandbreite von Fähigkeiten."

    Die meisten der gezeigten Zeichnungen stammen aus den Jahren zwischen 1806 und 1824, Ingres’ erstem Aufenthalt in Italien. Von 1835 bis 1841 amtierte er selber als Direktor der Französischen Akademie in Rom. In dieser Zeit entstand "Die Odaliske und der Sklave”, eine jener orientalischen Phantasien, für deren Gemäldeversionen Ingres ja ebenfalls bekannt geworden ist.

    Als Ingres 1867 im Alter von 86 Jahren starb, hinterließ er über 4000 Zeichnungen. Davon sind zahlreiche Studien für Bilder. Nicht minder zahlreich sind jedoch die Zeichnungen, die für sich stehen. Siebzehn Werke präsentiert diese intime Ausstellung. Höhepunkte der Zeichenkunst allesamt.

    "Ingres at the Morgan”. Pierpoint Morgan Library, New York. Bis 27. November.