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Jean-Paul Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie

Ungewöhnlich ist es nicht, dass posthum bedeutende Werke eines Philosophen veröffentlicht werden. Doch wenn jetzt der Rowohlt-Verlag 25 Jahre nach Sartres Tod die deutsche Übersetzung von Sartres Entwürfen für eine Moralphilosophie vorstellt, die auf Französisch bereits 1983 von seiner Adoptiv-Tochter Arlette Alkaim-Sartre herausgegeben wurden, dann verwundert das gleich in doppelter Hinsicht:

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 19.06.2005
    Einerseits warum geschieht das erst so spät? Schließlich handelt es sich bei den Entwürfen für eine Moralphilosophie um das voluminöse Fragment eines ursprünglich geplanten zweiten Bandes von Sartres Hauptwerk Das Sein und das Nichts. In diesem Buch entwickelt Sartre seinen berühmten Existenzialismus, der dem einzelnen erklärt, er sei grundsätzlich frei – auch noch unter nazi-deutscher Besatzung, bzw. er könne sich in jeder Situation gegen Unterdrückung auflehnen. Sartre schreibt am Ende von Das Sein und das Nichts:

    "Kann insbesondere die Freiheit (. .) jeder Situation entgehen? (. .) Oder wird sie sich um so genauer und um so individueller situieren, je mehr sie (. .) ihre Verantwortlichkeit übernimmt? (. .) Diese Fragen (. .) können nur im Bereich der Moral beantwortet werden. Wir werden ihnen unser nächstes Buch widmen." "

    Andererseits könnte man sich genauso überrascht zeigen, dass die Entwürfe für eine Moralphilosophie überhaupt noch auf Deutsch publiziert werden. Denn um Sartre ist es ja nicht nur in den letzten 20 Jahren still geworden. In den fünfziger und sechziger Jahren wandte er sich zudem von seinem Existentialismus der Vierziger teilweise ab und dem Marxismus zunehmend zu. So stellt er in Marxismus und Existentialismus 1957 fest:

    "Der Marxismus ist längst noch nicht erschöpft, er ist noch ganz jung, er steckt fast noch in den Kinderschuhen: er hat kaum begonnen, sich zu entwickeln. Er bleibt also die Philosophie unserer Epoche (. .). Unser ganzes Denken kann sich nur auf diesem Nährboden bilden; es muß sich in diesem Rahmen halten oder im Leeren verlieren oder rückläufig werden." "

    Damit stellt sich um so nachhaltiger die Frage: Warum soll man nun über 1000 Seiten eines existentialistischen Fragments über Moralphilosophie übersetzen, noch dazu da Sartre nicht gerade als Ethiker in die Philosophiegeschichte eingegangen ist? Er hat zwar bereits in Das Sein und das Nichts jedem Menschen die volle Verantwortung für sein gesamtes Leben und sein Handeln bescheinigt und damit als einer der ersten der wohl wichtigsten ethischen Diskussion des 20. Jahrhunderts, der über Verantwortungsethik, den Weg gewiesen: Wenn man sich auf keine gemeinsamen obersten moralischen Normen mehr einigen kann, weil jeder einem anderen Weltbild folgt oder an einen anderen Gott glaubt, dann muss man beim Handeln vor allem die Folgen beachten. Sartre schreibt in Das Sein und das Nichts:

    "Ich bin in die Welt geworfen, (. .) in dem Sinn, dass ich mich plötzlich allein und ohne Hilfe finde, engagiert in eine Welt, für die ich die gesamte Verantwortung trage, ohne mich, was ich auch tue, dieser Verantwortung entziehen zu können, und sei es für einen Augenblick, denn selbst für mein Verlangen, die Verantwortlichkeiten zu fliehen, bin ich verantwortlich. "

    Doch weder die Moralphilosophen noch Sartre selbst erkannten seinen entscheidenden Beitrag zur Verantwortungsethik. Im Grunde fragte Sartre nach ethischen Normen, aber solchen, die sich der jeweiligen Situation anpassen und die dem einzelnen nicht bloß abstrakt unabhängig von seiner Situation sagen, was er zu tun oder zu lassen hätte. Das Programm seiner Entwürfe für eine Moralphilosophie heißt denn auch:

    "Es gibt keine abstrakte Moral. Es gibt nur eine Moral in Situation, also eine konkrete Moral. Denn die abstrakte Moral ist die des guten Gewissens. Sie setzt voraus, dass man in einer von Grund aus amoralischen Situation moralisch sein kann. (. .) Die Moral ist die Idee, (. .) dass man ‚sein Gewissen für sich haben’ kann. "

    Fraglos bleibt die konkrete Moral der Verantwortung verpflichtet, muss also auf die realen Wirkungen des Handelns achten und nicht nur Prinzipien hochhalten. Man kann beispielsweise nicht bloß das Prinzip des Lebensschutzes als oberste ethische Norm beschwören und sich guten Gewissens der aktiven Mitarbeit bei der Schwangerenkonfliktberatung verweigern. Wenn man im anderen Fall womöglich die eine oder andere Abtreibung hätte verhindern können, darf man seine Hände nicht in Unschuld zu waschen. Sartre schreibt:

    "’Ich habe mein Gewissen.’ Das heißt sich von der Aktion abwenden, um sich ins Subjektive zu flüchten. Worauf es ankommt, ist die Verwirklichung der Tat. "

    Sartre schreibt Das Sein und das Nichts unter nazi-deutscher Besatzung, eine Situation, in der es keine moralische Autorität mehr gab. Die Résistance entwickelte sich erst langsam und blieb bis zur Befreiung eine Untergrundarmee, der man sich anschließen konnte aber nicht musste. So entwirft Sartre die Philosophie der individuellen Entscheidung und Verantwortung. Als er 1948 an den Entwürfen für eine Moralphilosophie arbeitet, ist diese Erfahrung noch virulent. Die Welt befindet sich gerade im Umbruch, so dass es darauf ankommt, sie zu gestalten. Sartre will die von Immanuel Kant konzipierte Normenethik in die konkrete Lebenssituation rückführen. Damit muss er sich aber gegen diese Hauptströmung der Ethik wenden. Man kann sich nicht mehr ausschließlich an allgemeinen Prinzipien orientieren, die da z.B. lauten: Du sollst nicht ehebrechen!

    "Die Ethik ist die Theorie des Handelns. Aber das Handeln ist abstrakt, wenn es nicht Arbeit und Kampf ist. Beispiel: ein ertrinkendes Kind retten. (. .) Die konkreten Probleme: durfte Luther die Bauern während des Bauernkrieges im Stich lassen? "

    Eher am Rande folgt Sartre in seinen Entwürfen für eine Moralphilosophie der Spur der Verantwortungsethik als sich langsam festigendes Gegenmodell zur traditionellen Normenethik. Primär durchziehen zwei andere Themen die über 1000 Seiten, einmal die Frage nach der Geschichte, eine damals nahe liegende Problematik, als der Marxismus noch an den automatischen Fortschritt zum Kommunismus glaubte. Dem hält Sartre seine berühmte Devise aus Das Sein und das Nichts entgegen, dass nämlich die Existenz der Essenz vorausgeht. Der Mensch findet sich in die Welt geworfen, er existiert, ohne dass ihm ein Gott sein Wesen vorbestimmt hätte. Seine Essenz, den Sinn seines Lebens, muß er sich vielmehr selber schaffen. Genauso muss er tatkräftig die Geschichte gestalten:

    "Auch in der GESCHICHTE geht die Existenz der Essenz voraus. (. .) Die GESCHICHTE ist das, wozu man sie macht. "

    Zwischenzeitlich hat sich jedoch herumgesprochen, dass man Augenblicke erst viel später als historisch zu erkennen vermag. Welt und Geschichte lassen sich nicht lenken und folgen auch keinem Gesetz. Nicht umsonst interessiert sich heute kaum noch jemand für Geschichtsphilosophie. Deswegen also hätte man die Entwürfe für eine Moralphilosophie nicht unbedingt übersetzen müssen.

    Zum anderen aber setzt sich Sartre mit der Frage der Gewalt auseinander, just inwiefern diese noch in der Moral selbst siedelt – eine in der Tat hochaktuelle Thematik, mit der er die Studien über Macht von Michel Foucault oder Hannah Arendt antizipiert. Denn zunächst fordert ja eine unmoralische Situation die Moral heraus, eine Situation, die von Gewalt durchherrscht wird:

    "In Wahrheit vollzieht sich die Moral in einer Atmosphäre des Scheiterns. Sie muss scheitern, weil es immer zu spät oder zu früh für sie ist. "

    Sartre war ein Mann des Krieges. Als der zweite Weltkrieg endete, begann gleich der Indochinakrieg, der 1954 beinahe bruchlos in den Algerienkrieg überging, dem 1963 der Vietnamkrieg folgte. Wie sollte Sartre ein Gegner der Gewalt sein? Gibt es unter den konservativen Philosophen etwa Pazifisten? So akzeptiert Sartre die Gewalt auch in der Moral:

    "Die Moral heute muss revolutionär sozialistisch sein. "

    Für Sartre wird sich die Welt nicht ohne Gewalt ändern lassen. Doch er folgt keiner dogmatischen marxistischen Position, wie sie etwa Lenin propagierte:

    "Ein Revolutionär, sagte Lenin, hat keine Moral, weil sein Ziel konkret ist und seine Verpflichtungen sich durch den Zweck ankündigen, den er sich vornimmt. "

    Sartre ist sich im Klaren, dass am Grunde jeder Moral die Gewalt siedelt, dass es somit das schlechthin Gute nicht gibt. Das führt er in seinen Entwürfen für eine Moralphilosophie an zahllosen konkreten Beispielen vor. Er partizipiert mit diesem Verfahren am philosophischen Geist der Zeit, wenn im Laufe des 20. Jahrhunderts die große Theorie die Welt nicht mehr hinlänglich zu erfassen vermag und man sich statt dessen um die realen Geschehnisse kümmern muss.

    1948 steht er natürlich noch unter dem Alpdruck des Widerstandes gegen Nazi-Deutschland. Genau an dieser Stelle beginnt Sartres ethisches Nachdenken, bei dem Moral und Gewalt unabdingbar zusammengehören:

    "Was aber heißt, einem Menschen Gewalt antun? Zunächst einmal, ihn als Freiheit anerkennen. Da ich von ihm fordere, erkenne ich ihn als frei an. Gleichzeitig jedoch heißt es, ihn zum reinen Determinismus erklären. (. .) Wenn er spricht, während ich ihn foltere, erkennt er meine Überlegenheit an. Seine Freiheit hat der meinen nachgegeben. Doch da es die Folter ist, die ihn zum Sprechen bringt, hat er sich bis auf die Ebene des determinierten Dings erniedrigt. "

    Sartre bleibt sich der Gefahren einer unvermeidbaren Gewalt in der Moral indes bewusst. Anders als konservative Vordenker wie Leo Strauss geht es Sartre um eine Moral, die nicht einfach autoritär auf Gewalt zurückgreift, um sich durchzusetzen. Wenn sie dabei die eigene Gewalttätigkeit verschweigt, dann droht Moral sogar in den Antisemitismus abzugleiten, in die Ausgrenzung eines vermeintlich Bösen:

    "Manche Menschen "wollen eine harte Moral, das heißt eine, die sich mit Kriegen, Tod und Unterdrückung abfindet. Schließlich (. .) entscheiden sie sogar, man müsse dem Menschen ÜBEL antun, um ihm die Gelegenheit zu geben es zu überschreiten und das GUTE zu schaffen. "

    Die Entwürfe für eine Moralphilosophie gliedern sich in ein umfängliches erstes, ein offenbar unvollendetes zweites Heft sowie zwei kurze Anhänge über "Das Gute und die Subjektivität" und eine Studie über die Unterdrückung der Schwarzen in den USA. Intern strukturiert sind die beiden Hefte kaum. Lose Zwischentitel beziehen sich auf ethisch relevante Begriffe wie Bitte, Forderung, Appell, Zustimmung, Weigerung und an letztere anschließend Die Revolte. Diese Begriffe untersucht Sartre in ihrem Bezug zur Gewalt. Denn selbst wenn ich an einen anderen Menschen eine Bitte stelle, übt das Druck aus. Man denke an die Verführung:

    "Diese Frau, die mich zurückweist, ist eine Kleinbürgerin, verheiratet, Familienmutter. Sie unterliegt den Zwängen ihres Milieus; (. .). Sie fürchtet das Urteil ihrer Kinder. Sie befürchtet, ein Ehebruch könnte ihren Mann veranlassen, sich scheiden zu lassen, was sie um ihr Auskommen brächte, sie hat auch Furcht vor der öffentlichen Meinung. Und wenn sie schließlich auch physisch ein wenig erregt ist, findet sie die Kraft, dem (. .) Begehren des Unmittelbaren in Erwägung ihrer Entwürfe zu widerstehen, (. .). Ich selbst bin etwa ein Großindustrieller aus einem sozialen Milieu, das ich dem ihren als gleich oder überlegen betrachte, im Übrigen halte ich mich für frei von Skrupeln und Ängsten, die sie fesseln. In gewissem Sinn ist sie für mich Objekt, und ich halte ihre Weigerung für unbegründet. Sie widerspricht einer freien und vernünftigen Moral. "

    Doch auch solch eine vernünftige Moral stellt nicht nur eine Form der Nötigung dar, sondern birgt durchaus auch Gewalt. Man kann Kindern, so Sartre, nicht immer die Wahrheit sagen – und sei es nur darum, weil sie sie nicht verstehen: Bereits in solcher didaktischen Lüge steckt ein Moment von Gewalt, weil sie dem Kind die Freiheit raubt, wodurch sich die Moral der Erziehung indes zwangsläufig in Unmoralität kehrt: Erziehung bedient sich derart regelmäßig der Gewalt. Sartre vergleicht nun die Bitte sogar mit der Vergewaltigung:

    "Halten wir jedoch fest, dass die Bitte hier im selben Moment erscheint, in dem die Gewalt Platz finden könnte. Wir haben es im Grunde genommen mit zwei gleichwertigen Mitteln zu tun, um das zu erreichen, was eine Freiheit definitiv und ohne möglichen Ausweg verweigert. (. .) Durch Gewalt wollte man eine einwilligende Freiheit besitzen und hält lediglich einen gefesselten Körper, in welchem die Freiheit sich auf den Widerstand versteift. Bei der Bitte wollte man sich eine Freiheit aneignen und in ihr eine Verwirrung erregen, die sie fesseln würde, man wollte Herr sein. "

    Sartre sucht in vielfältigen Situationen nach einer konkreten Moral. Damit führt Sartre als einer der ersten jene philosophische Vorgehensweise in die Ethik ein, die sich dann nicht mehr bloß um die Begründung allgemeiner Normen bemüht, die vielmehr mit einzelnen Beispielen und konkreten Fällen operiert – eine Vorgehensweise, die sich langsam in der philosophischen Ethik verbreitet, wiewohl sie sich noch längst nicht bis heute durchgesetzt hat. Die Entwürfe für eine Moralphilosophie führen Sartre jedenfalls als methodisch avancierten Ethiker vor, der dadurch zu überraschenden Einsichten gelangt – man denke wieder an die Verführung:

    "Indem ich bitte, unterwerfe ich mich von vornherein ihrer Entscheidung. Damit willige ich übrigens in etwas ein, was ich zu Beginn zurückgewiesen hätte: dass sie durch schlicht und einfachen Beschluss meiner Bitte nachgibt. Hätte sie mir, als ich sie anfangs zu verführen versuchte, gesagt: 'Schön, ich werde Ihnen helfen. Sie lassen mich kalt, aber schlafen wir zusammen’, so hätte ich mit Entsetzen abgelehnt. Jetzt ist es genau das, was ich von ihr verlange, (. .). "

    Ein zentrales Thema des existentialistischen Sartres ist die Ambivalenz des gesamten menschlichen Lebens. Man steht immer vor Entscheidungen. Freiheit heißt für Sartre nicht, sich von einer vermeintlichen Bevormundung zu befreien. Freiheit heißt vielmehr einzusehen, dass man selber immer sein eigener Maßstab des Guten ist. Man ist auf sich selbst zurückgeworfen, man muss selbst entscheiden, aber man darf auch selbst entscheiden. In diesem Sinn ist der Existentialismus ein Hedonismus, wenn man darunter nicht schlichte Orientierung an der eigenen Lust, sondern eine individuelle Autonomie jenseits sozialer Zwänge versteht: eine individuelle Entscheidungskompetenz darüber, was man für richtig und gut hält. So nimmt die Verführungsgeschichte eine hedonistische Wendung:

    "In den Augen dieser unbedingten Freiheit habe ich mehr Wert als der Ehemann oder das Kind, die ihr ihre Forderungen auferlegen; sie selbst hat zu wählen zwischen diesem Leben, in welchem ihre Freiheit sich kategorischen Imperativen unterordnet, das heißt einem GUT, das sie entfremdet, und der Entscheidung, selbst das Maß des GUTEN zu werden. "

    Natürlich setzt sich Sartre nicht nur mit den Gewaltformen in den Alltagsbeziehungen der Menschen auseinander. Sein Augenmerk richtet sich auch auf die politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen. Der Sklave steht vor der Wahl, sich entweder dem Urteil seines Herren anzuschließen und seine Untertänigkeit akzeptieren, um auf der Seite der herrschenden Vorstellung vom Guten zu bleiben. Oder, wenn er sich dagegen auflehnt, wenn er die eigene subjektive Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln entdeckt, dann steht er nicht nur auf der Seite der Revolte, vielmehr verkörpert er das Böse, den Terroristen:

    "Da die Gewalt des Sklaven (. .) Entdeckung der Subjektivität ist, entdeckt der Sklave seine Subjektivität und muss sie im Element des BÖSEN auf sich nehmen. Er muss also wählen zwischen dem Selbstbewusstsein als absolutes BÖSES, d.h. als Freiheit, die das BÖSE wählt und sich in der Dimension des BÖSEN wählt, oder dem Erfassen seiner selbst als Objekt im Blick des HERRN, ein Ding oder Luzifer. "

    Durch das Böse konstituiert sich für Sartre erst die Gewalt. Aber was heißt Gewalt überhaupt? Sartre unterscheidet sie von der Kraft: Wenn ich eine Flasche Wein entkorke übe ich Kraft aus, wenn ich ihr den Flaschenhals abbreche dagegen Gewalt. Doch Gewalt ist für Sartre nicht bloß destruktiv und physisch. Gewalt entspringt nach Sartre vielmehr einem moralischen Zusammenhang. Gewalt ist Gewalt als das Böse, das mir von anderen angetan wird, sei es durch eine Lüge, sei es durch einen tätlichen Angriff, immer dann wenn meine Freiheit konkret beeinträchtigt wird. Aber dazu gibt es natürlich keinen übergreifenden, sondern immer nur einen individuellen Standpunkt, nicht das Böse an sich:

    "Die GEWALT ist ein absolut BÖSES vom Gesichtspunkt des Anderen aus (. .). Und nur unter diesem Gesichtspunkt konstituiert sie sich übrigens als Gewalt. "

    Dergleichen bleibt natürlich nicht ohne Konsequenz für das Verhältnis von Recht und Gewalt, in dem sich für Sartre immer die Herrschaft des Stärkeren formuliert und gerade keine Gerechtigkeit, die das Recht mittels Gewalt im Interesse aller durchsetzen würde. Die Oberschicht hat einfach mehr vom Recht als die Unterschicht – so Sartre:

    "Das Recht ist die Forderung des Stärkeren, als eine Person behandelt zu werden durch den, den er unterwirft. "

    Und kurz darauf heißt es:

    "Der Mensch, der das Recht aufstellt, gleicht dem (Clown oder Kind), der, nachdem er seinen Kameraden geschlagen hat, den Finger hebt und ‚das Spiel ist aus’ sagt, wenn dieser ihn seinerseits schlagen will.""

    Sartre reiht sich mit den Entwürfen für eine Moralphilosophie in die Perspektive einer individuellen Ethik ein, die von Kierkegaard über Nietzsche und Sartre zu Lévinas verläuft. Sie entwirft das Sittliche von Individuum aus, das der Gemeinschaft nicht mehr einfach untergeordnet wird. Es ist zu hoffen, dass diese deutsche Erstausgabe die Rezeption Sartres in der ethischen Debatte intensiviert, einerseits um Sartres Rolle endlich gerecht zu werden, aber auch um diese Debatte durch Sartres innovatives ethisches Denken zu bereichern.

    Jean-Paul Sartre:
    "Entwürfe für eine Moralphilosophie"
    (Rowohlt Verlag)