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Jede Zeile beschwört das Leben

Erika Burkarts letzter Lyrikband beschwört die Hoffnung, dass jedem Winter ein neues Frühjahr folgt - auch dem scheinbar letzten. Ihre Gedichte geben dieser Hoffnung eine poetische Stimme. Jeder ihrer leisen Verse ist ein Dialog mit dem Tod.

Von Michaela Schmitz | 07.09.2010
    Ein "Mittwinter-Kind" ist sie. Knochengrau sei die Erde gewesen, als sie auf die Welt kam. "Die Bise blies, und es schneite / in kargen, trockenen Flocken", schreibt Erika Burkart über den kalten Februartag ihrer Geburt im Jahr 1922.

    88 Winter später entstehen die letzten Gedichte ihres Lebens. Schnee fällt auch in diesen Abschiedsversen. Eisiger Wind weht über eine winterliche Seelenlandschaft, aus der alle Farben verschwunden sind. Um so stärker die Kontraste und Konturen ihrer schwarz-weißen Sprachbilder: poetische Schattenrisse in die Dämmerung hinein geschrieben. Man sieht klarer vor der ewigen Nacht des Todes. Das undurchdringliche Dunkel vor Augen, wird man hellsichtig für: "Das späte Erkennen der Zeichen". So heißt Erika Burkarts letzter Lyrikband.

    Zum Zeichen werden der Dichterin die unscheinbarsten Naturerscheinungen. In scheinbar abgestorbenen Ästen entdeckt sie schon den:

    Vor-Vorfrühling

    Am Nachmittag sammle ich Fallholz,
    mache an nackter Rinde
    Schwellungen aus,
    winzige Pusteln,
    Punkte der Hoffnung,
    fällt mich frontal
    Polarluft an.

    Umgehe nachts die vom Spätmond
    versponnenen Bäume,
    den Spiegel aus Eislicht, der den Teich versiegelt;
    suche fernoben
    im kalten Gestirn meine Toten,
    bevor ein finsterer Fisch
    sich einverleibt den Trabanten,
    eine Bö die Seelen
    zerstreut.


    Zwar gibt das unvermeidbare "Winterweh" fortwährend Anlass zu "Frage und Klage" – so ist der erste Zyklus des Gedichtbandes überschrieben.

    Dennoch finden sich auch immer wieder Zeichen von "Mittwinterfrühling". Aber in Gedichten mit Titeln wie "Der weiße Tod", "Nachtvogel", "Der Schatten" oder "Morgen-Zwielicht" dominiert die Klage über Einsamkeit, Kälte und die unhintergehbare Angst vor dem Sterben. Im Gedicht "Müdigkeit im März" vergleicht sich die lyrische Stimme mit dem Treuen Heinrich im Märchen: Mit eiskalten Füßen, tappenden Händen und maskenweißer Nasenspitze stehe sie, von unten rauf versteint, schon halb im Grab. Einmal in "Die kalte Nacht" wartet sie schaudernd, nicht bereit zu sterben, auf die "Lichtwerdung am Ende des Tunnels". Ein andermal bittet sie, scheinbar einverstanden mit dem eigenen Tod, im selbst geschriebenen "Postum", ihre Urne nicht allzu weit ab von den Lebenden im Garten zu versenken. In "Schafe im Schnee" erscheint ihr das menschliche Schicksal wieder heillos. Auf kalter, frostiger Weide hört sie ein Lamm blöken. Ihr ist, als klage das Lämmchen für uns alle. Hier wird ihr die Natur zum Sinnbild für den unvermeidbaren Tod. Trost findet sie momentlang im Kinderglauben – wie im folgenden Gedicht:

    Der Totenbaum

    Blatt-, wurzel- und fruchtlos
    modert er in der Erde; entsorgt,
    eine Kiste, die vorgibt,
    eine Larve zu schützen.

    Die Legende vom Wesen, das ausflog,
    wurde dem Kind erzählt,
    und es sah das Seelchen, ausgebreitet die Arme
    gleich einer Libelle steilen Flugs
    eingehn ins Zwielicht des Himmels, dessen Blindheit
    mir heute so bang macht.


    Aber mitten im Winter und seinem Todholz finden sich auch Spuren ewigen Lebens, "winkt Immergrünes mir zu im Eiswind", so eine andere Zeile. Davon sprechen Gedichte wie "Nebelmeer", "Vergessener Weg" oder "Die Schonung". Was vermag schließlich die Glut der "Kindheits-Sonne" endlos langer Tage im August vergessen zu machen? Wer kann die Bilder blendender Stoppelfelder, fliegenden Goldstaubs und weißer Wolkenboote auslöschen? Kaum einer kann die Schönheit des Blütenstaubs und der Silbergräser am Wegesrand übersehen. Wer die Schrift der Natur zu lesen versteht, dem werden ihre Buchstaben zu Zeichen. "Sarg, von rückwärts gelesen, heißt Gras", heißt es in einem Vers. Und unversehens verbindet sich der Tod mit dem Leben; und der Übergang von einem zum anderen bedeutet lediglich den Wechsel der Perspektive. Wer der Stimme der Natur richtig zuhört, raunt es durch alle Verse, der wird auch ihre Botschaft verstehen. Die "Botschaft der Flocke" heißt der zweite Zyklus des Lyrikbandes und das Schlussgedicht des Buchs:

    Die Botschaft der Flocke

    Pfingstmorgen.
    Über der Hecke
    Besonnten Flugs eine Flocke.

    Geist, der weht, wo er will,
    Blüte, die entführt,
    Same, der Fuß faßt.

    Tief greift die Wurzel,
    über die ich gehe,
    vor Augen die Flocke,
    ihr Schwinden im Licht.


    Mystische Naturerlebnisse wie diese fallen in den Gedichten oft mit Erinnerungen an die Kindheit zusammen: Beim ersten Schnee, dem Duft der Klaräpfel im Morgentaugras oder dem Anblick hüpfender Vögel, klein wie eine Kinderfaust, wird dem Kind die Natur zum Glücksversprechen. Diese magischen Momente werden in den Gedichten neu heraufbeschworen. Doch jetzt, kurz vor dem Sterben, nur noch "ein Herzvoll Leben", sind "Erwartung und Glück so fragil / wie ein Julifalter im Spätherbst", so eine Gedichtzeile. Dennoch: Der kleine Falter trägt das Ganze Gewicht der Hoffnung, dass jedem Winter ein neues Frühjahr folgt – auch dem scheinbar letzten.

    Erika Burkarts Gedichte geben dieser Hoffnung eine poetische Stimme. Jeder ihrer leisen Verse ist ein Dialog mit dem Tod; jede Zeile beschwört das Leben. Burkarts Gedichte hinterlassen eine mehr als nur flüchtige Spur im Schnee. Ihre hauchzarten poetischen Fußstapfen haben sich längst, spätestens mit ihrem letzten Lyrikband "Das späte Erkennen der Zeichen", in das Gedächtnis der Natur und ihrer Leser eingeschrieben.

    Erika Burkart: "Das späte Erkennen der Zeichen".
    Gedichte
    Weissbooks 2010.
    88 Seiten,
    17,80 EUR.