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Jeden Tag 20 der 3900 Seiten

Es ist keine Seltenheit mehr, dass von Schriftstellern geführte Internetblogs später als Buch herauskommen. Aktuelles Beispiel: Jochen Schmidts 600-Seiten-Werk "Schmidt liest Proust", dessen virtuelle Vorlage vor zwei Jahren im Netz veröffentlicht wurde. Autor Schmidt berichtete darin von seinen Erfahrungen beim Lesen von Marcel Prousts Romanwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit".

Von Ralph Gerstenberg | 15.01.2009
    Jochen Schmidt kennt nur drei Leute, die es geschafft haben, Marcel Prousts Jahrhundertwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von vorne bis hinten zu lesen. Und nun natürlich noch einen vierten: sich selbst. Vor zwei Jahren widmete er sich dem Proustschen Mammutwerk, las jeden Tag 20 der 3900 Seiten und hielt seine Leser im Internet täglich über seine Lektüre-Erfahrungen auf dem Laufenden. "Schmidt liest Proust" nannte er sein Blog, das er zur Motivation, zur Erinnerung und sicher auch mit einem gewissen Sendungsbewusstsein, das zum Schriftstellerberuf ja nun mal dazu gehört, über ein gutes halbes Jahr geführt hat.

    "Es ist einfach besser, wenn man es nicht alleine lesen muss, wenn man seine Gedanken mitteilen kann. Und das geht ja heutzutage mit dem Internet sehr leicht. Ursprünglich war das einfach nur als Notizblock für mich gedacht, aber da es ziemlich schnell bekannter wurde, musste ich dann auch mehr Arbeit reinstecken. Nach dem erstem Tag war mir klar, dass genug mitzuteilen ist, wenn man dann sofort merkt, da sind ja so viele tolle Stellen, die würde ich gerne mitteilen irgendwem. Sonst versinkt es ja einfach in den Büchern, wenn man es gelesen hat und nie wieder reinguckt und alles vergisst. Man merkt sich ja nichts."

    Drei bis vier Stunden kreiste Jochen Schmidt nun lesend und schreibend täglich um das epochale Werk. Seine Proustberichterstattung ergänzte er durch Erlebnisse und Ereignisse, die ihn am jeweiligen Lektüretag beschäftigt haben. Man erfährt, was Schmidt so treibt, worüber er nachdenkt und woran er sich in welcher Situation erinnert. Dabei erweist sich der Proust lesende Autor durchaus als Geistesverwandter des großen Schriftstellers, als sensibler, kluger und detailgenauer Beobachter, der seine Ängste und Neurosen mit großer Ernsthaftigkeit betrachtet und die eigenen Erfahrungen als Material, aus dem Literatur werden kann. Auch in den tagebuchartigen Aufzeichnungen nähert sich Schmidt dem genialen Franzosen an, den er oft Marcel nennt, wie einen alten Vertrauten. Nicht nur manche Sichtweise, sondern auch der Ton wirkt in diesen Passagen hin und wieder ein wenig überspannt, hypochondrisch - proustisch eben.

    Als ich im letzten Jahr mit denselben chronischen Halsschmerzen, die mich zur Zeit wieder plagen, und die von keinem sonstigen irgendwie aufschlussreichen Symptomen begleitet werden, zum Hals-Nasen-Ohrenarzt ging, hatte dieser hektische Mensch die Frechheit zu behaupten, mein Hals sei ganz in Ordnung, ich litte lediglich unter "Globus hystericus", müsse viel trinken und mich entspannen. Weil die Untersuchung so kurz war, blieb ihm noch die Zeit, mir zu erzählen, er sei in Westberlin nahe der Mauer aufgewachsen und habe im für alle Ortsfremden gesperrten, grenznahen Waldgebiet die besten Pilze gefunden. Ein Arzt, der mir sagt, dass ich gesund bin, ist das nicht ein Widerspruch? Wie ein Schauspieler, der behauptet, ich sei gar kein Zuschauer, sondern selbst Schauspieler, oder wie ein Feuerwehrmann, dessen Arbeit darin besteht, Hausbesitzer davon zu überzeugen, dass ihre Häuser in Wirklichkeit gar nicht brennen.
    Im Laufe der Proustlektüre befällt Schmidt eine schwere "Liebeskrankheit". Eine Frau, die er "die Pankowerin" nennt, erwidert nicht seine Gefühle. Schmidt gerät aus dem Gleichgewicht und bewegt sich in der "Quadratur der Krise", wie er galgenhumorig im Untertitel des Buches kalauert. Zwischenzeitlich muss er sogar die Schriftstellerkolleginnen Annett Gröschner und Kathrin Passig bitten, die Proustberichte für ihn fortzusetzen. Er hat das Gefühl, dass Proust ihn vergiftet.

    ""Bei Proust geht es ja fast durchgängig um Eifersucht. Und dann ist es ja interessant, wenn man es selber auch erlebt und parallel dazu Phänomene beobachtet oder Situationen entstehen mit Frauen, die man dann gleich als Beleg dafür, dass Proust Recht hat, anführen kann. Also ich sehe mich dann nicht als private Person. Das ist ja so, als würde ein Arzt seinen Impfstoff an sich selbst ausprobieren. Das muss eben sein, um andere nicht zu gefährden. Da ist ja der Autor zu verpflichtet."
    In den Abschnitten, in denen Jochen Schmidt die Romanhandlung zusammenfasst, erweist er sich als konsequent subjektiver und höchst unterhaltsamer Literaturinterpret, der Fragen stellt, eigene Erfahrungen mit den geschilderten vergleicht und eine Brücke von der Gegenwart in die erzählte Zeit des Romans schlägt. So führt er Rubriken wie "verlorene Praxis" oder "unklares Inventar" ein, durch die er auf das Verschwinden von Dingen und Gebräuchen hinweist, die durch das Buch dem Vergessen entrissen worden sind. Um den Moment des naiven Lesens abzubilden, verzichtete er darauf, Begriffe wie "Maskarill" oder "kaudinisches Joch" zu googeln.

    ""Nachgucken kann man ja dann immer noch. Ich hatte überlegt, ob ich dahinter noch ein Glossar mache und die ganzen Sachen aufkläre, aber das kann man dann ja selber machen, dafür gibt es ja Wikipedia. Erstmal ging es mir darum, mein Unwissen abzubilden. Und jeder hat natürlich ein eigenes Unwissen. Der Leser von dem Typ, den ich repräsentiere, hat im Jahr 2006 das und das nicht gewusst. Und das wird dann in fünfzig Jahren interessant sein, weil man sich dann nicht mehr vorstellen kann, was wissen die Leute heute noch von vor hundert Jahren. Und das finde ich eben interessant, dass man da schon den historischen Blick drauf hat."

    Als Leser spürt man Schmidts Wertschätzung der detaillierten Beschreibungen von Seelenzuständen, Erinnerungsmustern und Kommunikationsmechanismen in dem Opus Magnum. Auch die Konsequenz, mit der Proust das eigene Leben zum Thema von Literatur gemacht hat, beeindruckt den nachgeborenen Kollegen. Zudem beweist Jochen Schmidt, der einmal wöchentlich in der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten" auftritt, viel Sinn für den unerbittlichen Humor, mit dem Proust, der nicht gerade als Humorist in die Literaturgeschichte eingegangen ist, die Eitelkeiten und Dummheiten seiner Zeitgenossen sowie die eigenen unausrottbaren Lebenslügen der Lächerlichkeit preisgibt.

    Heute habe ich bei der "Chaussee der Enthusiasten" einen neuen Text gelesen, den ich Proust verdanke, auch wenn man das nicht gemerkt haben wird. Es ging um das Minimum an Entgegenkommen, das ausreicht, um zu denken, jemand sei in einen verliebt, wobei man sich selbst dieses Zeichen in der Regel nur einbildet. Mir ging das so im Alter von zwölf Jahren, aber als Proust-Leser wird einem ja irgendwann klar, dass man im Leben nur immer dieselbe Liebesgeschichte wiederholt. Ein kleiner Text voller Wehmut nach einer Zeit, in der man noch nicht wusste, dass man nie weniger Sorgen haben würde, der aber in der Übertreibung der Ungeschicklichkeit des Helden komisch wirkt. Wie alle Texte, die mir gelungen vorkommen, hat er sich von ganz allein geschrieben, er war schon da, ich musste ihn nur ausformulieren. Das war besonders angenehm, weil ich, durch das Beispiel Prousts ermutigt, mir wieder einmal das Recht genommen habe, eine Kleinigkeit aus dem eigenen Leben so herauszustellen, dass sie etwas Exemplarisches bekommt.
    Jochen Schmidt unterscheidet nicht literaturwissenschaftlich korrekt zwischen der Romangestalt "Marcel" und der historischen Persönlichkeit Proust. Und genau das ist ein Segen für dieses Buch, dass da nämlich kein Romanist, der Schmidt auch ist, zum x-ten Mal kreuzbrav und gescheit über literarische Phänomene im Werk Marcel Prousts parliert, sondern ein Schriftsteller sich in den Kosmos eines bedeutenden Vorgängers begibt, jemand, der über eine Sprache verfügt, um von dieser Begegnung ebenso unverstellt, analytisch und unterhaltsam zu berichten wie von der Welt, in der er lebt. So ist ein Buch entstanden, das nicht nur von dem Abenteuer handelt, sich auf ein Meisterwerk der Weltliteratur einzulassen, sondern auch davon, das eigene Leben wahrzunehmen - was nur selten geschieht, wie es bei Proust heißt.

    Jochen Schmidt: "Schmidt liest Proust - Quadratur der Krise", 608 Seiten, 19,90 Euro