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Jeden Tag auf Tour

Pendeln zur Arbeit macht insbesondere im dunklen Winter wenig Spaß. Trotzdem sind gerade gut ausgebildete Fachkräfte und vor allem Akademiker bereit, täglich weite Strecken für den begehrten Job zurück zu legen. Zugunsten der Karriere verzichten sie auf einen großen Teil ihrer Freizeit.

Von Svenja Üing |
    Morgens um kurz vor sieben am Essener Hauptbahnhof. Karla Seifert trifft letzte Reisevorbereitungen:

    "Hallo, guten Morgen, einen Kaffee zum Mitnehmen, bitte. Nein, normal. Das reicht. Danke."

    "2,20 Euro macht das bitte."

    Noch schnell einen Kaffee im Pappbecher für die Fahrt und dann los zu Gleis 2. Seit mittlerweile einem Jahr nimmt Karla Seifert jeden Morgen den Zug von Essen nach Köln.

    "Achtung an Gleis 2! Einfahrt hat Nordrhein-Westfahlen-Express von Köln nach Aachen. Der nächste Halt ist Mühlheim."

    Die 31-jährige promovierte Biologin arbeitet in der medizinischen Forschung der Kölner Uniklinik. Wenn sie sich dort gegen neun Uhr morgens den Kittel überzieht, hat sie schon gut zwei Stunden Anfahrt hinter sich. Auf den Monat gerechnet sitzt sie etwa 80 Stunden für den Job im Zug - wenn alles glatt läuft. Eine bewusste Entscheidung: Ihr Mann arbeitet in Essen - und von der Wochenendbeziehung hatten beiden genug. Allerdings: Die gemeinsame Zeit ist auch jetzt begrenzt:

    "Ich komme so um acht nach Hause, ich muss um sechs Uhr aufstehen. Dann muss ich mich natürlich darauf vorbereiten, dass ich am nächsten Morgen alles parat habe, da bleibt nicht mehr viel Zeit. Vielleicht so eine, anderthalb Stunden."

    Karla Seifert ist keine Ausnahme. Der Anteil der Pendler unter den Arbeitnehmern hat in den letzten Jahren zugenommen und wird in den kommenden Jahren auch weiter steigen, schätzen Experten. Knapp ein Million Berufspendler sind schon heute pro Strecke mehr als eine Stunde unterwegs. Die Gründe: Vor allem höher Qualifizierte müssen mobil sein und die traditionellen Familienstrukturen brechen auf, sagt Tilman Bracher, Koordinator für Umwelt und Verkehr am Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin:

    "Moderne Familien haben mehrere Arbeitsplätze. Und wenn man zwei Arbeitsplätze hat, dann muss man sich entscheiden: Wohnt man an dem einem Ort oder am anderen oder in der Mitte. Und so kommt es eben, dass gerade bei den jungen Leuten, jungen Familien oft noch kein optimaler Wohnstandort gefunden wurde. Und die alten haben ihn dann mal gefunden und sind nach draußen gezogen und sind dann Ein- und Auspendler."

    Je höher das Einkommen, desto eher wird dafür der Pkw genutzt. Außerdem wächst mit dem Einkommen statistisch auch die Bereitschaft, längere Strecken in Kauf zu nehmen.

    Dabei verzichten Pendler nicht nur auf aktiv gestaltete Freizeit, sondern machen auch bei der Gesundheit Abstriche. Karla Seifert zum Beispiel ist häufig erkältet. Viele andere haben Rücken- oder Kopfschmerzen, sagt Kourosh Zarghooni, Orthopädie am Uniklinikum Köln. Oder sie klagen darüber:

    "Dass natürlich auch eine typische psychische Belastung da ist, die sich äußert in typischen Beschwerden wie Müdigkeit, Magen- und Darmbeschwerden, Ängste, Kopfschmerzen, Herzklopfen, also die ganz typischen Dinge, die natürlich auch zu Nacken- und Rückenbeschwerden führen können."

    Auch leiden Berufspendler häufiger als andere Arbeitnehmer unter Bluthochdruck, Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Und bei akuten Erkrankungen oder langfristig angelegten Behandlungen wird der Arztbesuch zur organisatorischen Meisterleistung. Kourosh Zarghooni rät seinen Patienten deshalb, vorzubeugen und beim Pendeln eine möglichst entspannte Atmosphäre zu schaffen: zu dösen, leise Musik zu hören oder autogenes Training zu machen. Karla Seifert hat ihr eigenes Entspannungsprogramm:

    "Lesen, ganz viel Lesen, teilweise schlafen. Ich kann Gott sei Dank ganz gut mal so 15 Minuten, 20 Minuten schlafen und fühle mich dann fitter als vorher und ich arbeite ein bisschen. Und ansonsten einen fetten Roman lesen, da kann man auch mal Romane von 800 Seiten locker wegschaffen."

    Doch auch das ist manchmal ein geringer Trost, zum Beispiel, wenn die Bahn Verspätung hat. In solchen Momenten wächst der Frust:

    "Je länger die Woche schon gelaufen ist, umso stärker wird's. Donnerstag und Freitag: ganz schlimm. Da freut man sich unheimlich aufs Wochenende. Man lebt so aufs Wochenende hin."

    Tilman Bracher vom Institut für Urbanistik prognostiziert, dass der Trend zum Pendeln - zum Beispiel wegen der hohen Benzinpreise - langfristig abnehmen wird. Zumindest was das Pendeln vom Land in die Stadt oder von der Vorstadt in die Innenstädte angeht. Dass sich ihre eigene Situation dadurch in den kommenden Jahren ändern wird, glaubt Karla Seifert nicht. Sie wird wohl auch in Zukunft versuchen, sich die Fahrt- und Wartezeiten zu versüßen:

    "Wenn ich weiß, dass ich eine ganze Stunde warten muss, dann gehe ich in den Deutzer Bahnhof, das ist eine ganz nette Kneipe da, und dann kann ich die Zeit ganz gut mit einem Kölsch und einer Suppe rumkriegen und hoffen, dass ich mich nicht zu sehr ärgere, das als meine Freizeit anzusehen und mal klappt das mehr, mal weniger."