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Jeder Einwohner bedeutet bares Geld

Die Ergebnisse des Zensus treffen viele Kommunen empfindlich: Ihre Einwohnerzahlen wurden stark nach unten korrigiert und das bedeutet, sie erhalten weniger Geld. Eisenhüttenstadt hat deshalb Widerspruch gegen den Bescheid eingelegt. Die Bürgermeisterin will um jeden Einwohner kämpfen.

Von Axel Flemming |
    Die Lindenallee ist die zentrale Straße von Eisenhüttenstadt. Sie verbindet das Stahlwerk, das der Stadt den Namen gab, mit dem Rathaus.

    Das Treppenhaus wird geziert von einem riesigen Mosaik; stolz zeigte der Arbeiter- und Bauernstaat seine Macht und Pracht. In dem Bau aus den 50ern hat Dagmar Püschel, die Bürgermeisterin, ihren Dienstsitz. Wie viele Einwohner ihre Stadt hat, ist im Moment nicht klar. Denn das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg hat errechnet, dass zum Zensus-Stichtag am 9. Mai 2011 in der Kommune 28.219 Menschen lebten. Die Stadt selbst verbuchte über ihre Bürgerämter etwa 1600 Einwohner mehr. Eisenhüttenstadt legte Widerspruch gegen den Bescheid beim Amt in Potsdam ein, aus Angst vor finanziellen Einbußen. Sie will um jeden Einwohner, jede Einwohnerin kämpfen, sagt die Politikerin der Linken.

    "Jeder Einwohner mehr oder weniger bedeutet natürlich auch bares Geld für die Stadt Eisenhüttenstadt. Wir sind ja nicht in der Lage, dass wir unsere Aufgaben von der Gewerbesteuer erledigen können; unsere pflichtigen und freiwilligen, sondern wir sind auf die Schlüsselzuweisungen vom Land angewiesen. Und da zählt natürlich jeder Einwohner."

    Die Berechnung für die Zuweisungen vom Land ist kompliziert, schon jetzt erhält die Kommune 638.700 Euro weniger vom Land als im Jahr zuvor. Die Prognosen sehen allerdings einen weiteren Bevölkerungsrückgang: Für 2030 werden weniger als 20.000 Bürgerinnen und Bürger erwartet:

    "Das ist ein Prozess, den die Stadt Eisenhüttenstadt seit Beginn der 90er-Jahre versuchen muss zu gestalten. Es ist ja immer so in der Geschichte der Menschheit, dass Städte manchmal wachsen und manchmal werden sie auch kleiner von der Bevölkerung her, das richtet sich natürlich immer nach den Arbeitsmöglichkeiten, die es gibt."

    Die Geschichte der Stadt ist eng mit der Geschichte der DDR verknüpft. Der III. Parteitag der SED im Juli 1950 hatte beschlossen, an der Oder das Eisenhüttenkombinat Ost (kurz EKO) zu bauen, und dazu gleich eine Wohnstadt. Eisenhüttenstadt gilt somit als die erste "sozialistische Stadt" der DDR und ist als reine Planstadt entstanden.

    Wieder auf der Lindenallee; sie wird von vierstöckigen Häuserzeilen gesäumt, davor eine Ladenstraße, unterbrochen von Achtgeschossern, solitäre Hochhäuser, gemauert, kein Plattenbau.

    "Ich bin noch in Stalinstadt hier gewesen…"

    … sagt eine ältere Frau. Eisenhüttenstadt ist nicht gerade überfüllt. Das mag an den Sommerferien liegen, aber auch der generelle Trend zeigt nach unten. Lebten bis zum Ende der DDR noch 50.000 Menschen hier, sind es jetzt unter 30.000. Und auch diese Erkenntnis brachte der Zensus: Schon jetzt ist die Mehrheit über 50 Jahre alt, Tendenz steigend.

    "Und deswegen muss unbedingt Jugend her. Man hat ja alles plattgemacht. Diese ganzen großen Betriebe: Möbelwerk. Und das ist ja alles abgewickelt worden für jar nüscht. Und dadurch sind die ganzen Arbeitsplätze weg."

    Die Leute kamen in den 50er-Jahren der Arbeit wegen, und nach der friedlichen Revolution gingen ihre Kinder bzw. Enkel aus denselben Gründen:

    "Meine Kinder sind auch alle weg, nicht, weil sie hier keine Arbeit gekriegt haben."

    Lindenallee Richtung Oder, kurz vor dem Fluss das Stahlwerk; noch heute der größte Arbeitgeber der Stadt, allerdings nicht mehr mit 12.000 Arbeitsplätzen wie zu DDR-Zeiten, sondern nur noch mit etwa 2500, dazu noch etwa 2000 bei Zulieferern und unmittelbaren Dienstleistern. Herbert Nikolaus, Kommunikationsmanager des Betreibers Arcelor Mittal:

    "Wir können heute mehr produzieren als zum Beispiel 1990 mit weniger Mitarbeitern. Was natürlich auch eine Rolle gespielt hat, ist, dass man sich im Zuge der Marktwirtschaft auf die Mitarbeiterzahl und Personalzahl konzentriert hat, die für die Produktion wichtig sind. Und viele Dinge, die in einem sozialistischen Kombinat mehr das Futter nebenher war, was man eventuell damals gebraucht hat, heute auf keinen Fall mehr braucht; das ist natürlich weggefallen."

    Nicht nur die Stadt braucht Bewohner, auch der Betrieb Arbeitskräfte; denn der demografische Wandel macht nicht an den Werkstoren halt. Schon seit Jahren bildet Arcelor 50 Jugendliche im Jahr aus, aber Bedarf besteht weiter:

    "Stahl hat eine Zukunft. In dem Sinne sind wir auch einer der größten Ausbildungsbetriebe hier in der Region. Sodass wir sagen können, wir brauchen immer wieder junge Leute, die hier am Standort bleiben."

    Liegt die Zukunft von Eisenhüttenstadt also in der Vergangenheit? Von überregionaler Ausstrahlung ist das Dokumentationszentrum "Alltagskultur der DDR." Das nun auch die finanziellen Engpässe zu spüren bekommt. Das Dokumentationszentrum gehört hierher, sagt Bürgermeisterin Dagmar Püschel, bloß Geld dafür hat sie nicht übrig:


    "Wir sind Träger, wir haben die Einrichtung für zwei Jahre erst einmal übernommen vom entsprechenden Verein, finanziert wird sie über Zuschüsse vom Land und vom Kreis. Und wir stellen das Objekt mietfrei zur Verfügung. Und haben jetzt nur noch anderthalb Jahre Zeit, um entsprechend zu gucken, wie kann man das mit der Trägerschaft gestalten. Und alle drei Partner sind der Auffassung, jawohl, das Museum soll hier bleiben, wir kriegen das auch gestemmt, also schon jetzt ist es so, dass die Stadt Eisenhüttenstadt es nicht finanziert."

    Eisenhüttenstadt ist nicht die einzige Kommune in Brandenburg, die Widerspruch gegen den Zensus eingelegt hat. Auch Schwedt, Oranienburg und Fürstenwalde sind nicht einverstanden. Das Statistikamt lehnte eine Stellungnahme mit Verweis auf laufende Verfahren ab.