Burkhard Müller-Ullrich: Die meisten von uns erinnern sich wohl an eine Zeit ohne Internet und Handy, eine Zeit, als man Telefonzellen mit Münzfernsprechern aufsuchte und in Frankreich oder Italien seine Anrufe in Kneipen erledigte. Und erst recht entsinnen wir uns jener Zeiten, als der Zugang zum Internet noch etwas für ausgebuffte Technikfreaks war. Damals warb Boris Becker mit dem Jubelruf "Ich bin drin!" für eine Firma, die einem die Einwahl leicht zu machen versprach. Und schon das zeigt, wie schwer sie im Allgemeinen war: Man brauchte eine Telefonleitung, ein Modem, das AT-Befehlssätze beherrschte, Kenntnisse von Winsocks und DFÜ-Konfigurationen und sehr solide Nerven. Menschen, die berufsbedingt auch unterwegs das weltweite Computernetzwerk nutzen, Handelsvertreter etwa oder Journalisten, entwickelten sich zum Schrecken aller Hoteliers, weil sie jede Telefondose aufschraubten, um heimlich ihre verdammten Modemkabel anzuklemmen. Denn keiner der mitgeschleppten Adapter passte. Ja, es war eine heroische Zeit, als man sich unterwegs jeden Internetanschluss erkämpfen musste. Und wenn die Verbindung einmal stand, kostete der Spaß so viel, dass man sich bloß ein paar Minuten lang leisten konnte.
Das ist gerade mal 20 Jahre her. Darf man also immer noch von Neuland sprechen, wie es die Kanzlerin kürzlich tat, wofür sie vom Schwarmspießertum der Facebooker und Twitterer so lauthals verlacht wurde?
- Jochen Hörisch, Professor für Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim: Das Kostbarste, was wir modernen Menschen haben, ist unser Ich. Wird das Ich durch die laufende Bespitzelung gefährdet oder im Gegenteil erhöht, denn die Bespitzelung ist doch auch ein Beweis für Bedeutung?
Jochen Hörisch: Ein Kind, das auf die Welt kommt und das Infans heißt, weil es noch gar nicht sprechen kann, hat natürlich nur ein Interesse, dass es Aufmerksamkeit bekommt, dass es ausgeforscht wird, dass es beachtet wird, dass die Eltern registrieren, ob es jetzt was zu trinken braucht, ob es Aufmerksamkeit braucht. Oder es giert nach Aufmerksamkeit, und ich denke, nichts wäre falscher, als davon auszugehen, dass Menschen nur einen Wunsch haben, nicht beobachtet zu werden.
Müller-Ullrich: Jetzt ist es vielleicht auch eine Frage des Nationalcharakters, dass wir im Deutschen so ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Sache haben. Einerseits, man weiß es, sind die Deutschen ein Volk, das gerne spitzelt. Und es ist aber auch das Volk des Datenschutzes. Wie passt das zusammen?
Hörisch: Sicher! Wir alle würden uns natürlich gerne wünschen – und das ist ja auch absolut plausibel -, dass wir darüber entscheiden können, ob wir Beobachter sind oder Beobachtete sind. Viele Leute tragen gerne eine Sonnenbrille, damit man nicht sehen kann, wohin man gerade blickt. Das ist ja auch das Kennzeichen etwa von Diktatoren und Putschgenerälen, Markenzeichen in Südamerika. Das signalisiert, ich habe das Recht, dich zu beobachten, aber du darfst mich nicht beobachten. Dieses Spiel würden wir natürlich alle sehr gerne spielen.
Das Spannende ist ja, dass die Beobachtungen immer symmetrischer werden. Wir dürfen nicht ganz vergessen, wie peinlich es für Geheimdienste ist, dass sie auf einmal beobachtet werden. Also das Spiel wird symmetrisiert, jeder kann Journalist sein, jeder kann Analysen machen, jeder kann seine Beobachtungen ins Internet stellen. Und wir merken, dass wir letztlich doch ein bisschen sympathisieren mit dem alten Hierarchiemodell. Es ist ganz gut, wenn wir wissen, wer der letzte Beobachter ist: der liebe Gott. Aber noch die Theologen verwickeln sich in die knirschende Paradoxie, dass sie, die Theologen, die eigentlich Satanischen sind. Sie beobachten und wissen genau, was der letzte Beobachter, der liebe Gott, beobachtet.
Müller-Ullrich: Dass die Geheimdienste tatsächlich auch von uns mit beobachtet werden, das ist ja eine unglaubliche Erleichterung im Grunde für den Homo Politikus geworden. Warum kann man es unter diesen Bedingungen nicht einfach akzeptieren, dass die Beobachterei generell zunimmt?
Hörisch: Na ja, weil wir das Recht auf informationelle Selbstbestimmung haben wollen. Wir müssen es auf der faktischen Ebene akzeptieren; auf der normativen Ebene halten wir das für schlechterdings inakzeptabel. Ich übrigens auch! Ich will schon gucken, in welchen Situationen ich beobachtet werde. Angenommen, ich würde einen schrecklichen Fauxpas produzieren und einen Versprecher, der einfach peinlich wäre, dann wäre ich sehr dankbar, wenn Sie ihn rausschneiden würden und das nicht für die Allgemeinheit beobachtbar und registrierbar wäre. Wir merken aber, dass diese Selbstbestimmung einfach an Grenzen kommt – warum? - Weil die Beobachtungsakte, die Analyseakte so zahlreich sind, dass die gar nicht mehr steuerbar sind. Und ich glaube, die eigentümliche Erfahrung, die eben Geheimdienste jetzt machen, ist, dass sie zum Spielball werden können, Stichworte Assange oder Snowden, von ganz individuellen Personen, die ihrerseits sich diesem Spiel versuchen, zu entziehen. Was geschieht, dass wir als Journalisten, als Medienleute, als Zeitungsleser jetzt unsererseits alles tun, genau dieses Spiel wiederum zu beobachten. Also es gibt sozusagen die alte herrschaftliche Position nicht mehr.
Müller-Ullrich: Man könnte ja mal weiter fantasieren, dass tatsächlich durch technische Gegebenheiten dieser Prozess nicht mehr steuerbar ist. Worin besteht dann tatsächlich das Residuum des Ichs zuletzt noch? Welcher Zacken bricht uns aus der Krone, wenn wir diesen Kern von Privatheit preisgeben müssen?
Hörisch: Na ja, wir wissen spätestens seit Rimbaud, Verlaine, Baudelaire und solchen Leuten, dass das Ich ein anderer ist: "Je es tun autre", das Ich ist ein anderer, ist dieser Epochensatz. Und das zwischen dem alten Begriff des Subjekts als Untertan, das Subjektum, das Unterliegende, das Beobachtete – "Ist er mein Subjekt", fragt Friedrich der Große, und meint nichts anderes, als ob man preußischer Untertan ist – auf der einen Seite und dem Subjekt im kantischen Sinne, ich bin Herr meiner selbst, ich bin autonom, ich verfüge über mich, ich bin das souveräne Subjekt, ein knirschender Widerspruch besteht, obwohl es dasselbe Wort ist. Das wird sich einigermaßen deutlich jetzt, denke ich, unter neuen Medienbedingungen entfalten. Subjekte erfahren sich selbst ja auch bloß in einer, sie selbst beschäftigenden, interessierenden Art und Weise, wenn sie auch die Erfahrung machen, dass sie unterdrückt werden, dass sie Unterliegende sind, um es gebildet Griechisch zu sagen, dass sie ein Hypokeimenon sind. Und Hypokeimenon ist eigentlich nichts anderes als die Unterlage, auf der sich andere abarbeiten und einschreiben.
Müller-Ullrich: ..., sagt der nicht herausgeschnittene Medientheoretiker Jochen Hörisch zur Gänsehaut des Ichs unter dem Horizont seiner gesamtkunstwerkmäßigen Ausspähung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Das ist gerade mal 20 Jahre her. Darf man also immer noch von Neuland sprechen, wie es die Kanzlerin kürzlich tat, wofür sie vom Schwarmspießertum der Facebooker und Twitterer so lauthals verlacht wurde?
- Jochen Hörisch, Professor für Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim: Das Kostbarste, was wir modernen Menschen haben, ist unser Ich. Wird das Ich durch die laufende Bespitzelung gefährdet oder im Gegenteil erhöht, denn die Bespitzelung ist doch auch ein Beweis für Bedeutung?
Jochen Hörisch: Ein Kind, das auf die Welt kommt und das Infans heißt, weil es noch gar nicht sprechen kann, hat natürlich nur ein Interesse, dass es Aufmerksamkeit bekommt, dass es ausgeforscht wird, dass es beachtet wird, dass die Eltern registrieren, ob es jetzt was zu trinken braucht, ob es Aufmerksamkeit braucht. Oder es giert nach Aufmerksamkeit, und ich denke, nichts wäre falscher, als davon auszugehen, dass Menschen nur einen Wunsch haben, nicht beobachtet zu werden.
Müller-Ullrich: Jetzt ist es vielleicht auch eine Frage des Nationalcharakters, dass wir im Deutschen so ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Sache haben. Einerseits, man weiß es, sind die Deutschen ein Volk, das gerne spitzelt. Und es ist aber auch das Volk des Datenschutzes. Wie passt das zusammen?
Hörisch: Sicher! Wir alle würden uns natürlich gerne wünschen – und das ist ja auch absolut plausibel -, dass wir darüber entscheiden können, ob wir Beobachter sind oder Beobachtete sind. Viele Leute tragen gerne eine Sonnenbrille, damit man nicht sehen kann, wohin man gerade blickt. Das ist ja auch das Kennzeichen etwa von Diktatoren und Putschgenerälen, Markenzeichen in Südamerika. Das signalisiert, ich habe das Recht, dich zu beobachten, aber du darfst mich nicht beobachten. Dieses Spiel würden wir natürlich alle sehr gerne spielen.
Das Spannende ist ja, dass die Beobachtungen immer symmetrischer werden. Wir dürfen nicht ganz vergessen, wie peinlich es für Geheimdienste ist, dass sie auf einmal beobachtet werden. Also das Spiel wird symmetrisiert, jeder kann Journalist sein, jeder kann Analysen machen, jeder kann seine Beobachtungen ins Internet stellen. Und wir merken, dass wir letztlich doch ein bisschen sympathisieren mit dem alten Hierarchiemodell. Es ist ganz gut, wenn wir wissen, wer der letzte Beobachter ist: der liebe Gott. Aber noch die Theologen verwickeln sich in die knirschende Paradoxie, dass sie, die Theologen, die eigentlich Satanischen sind. Sie beobachten und wissen genau, was der letzte Beobachter, der liebe Gott, beobachtet.
Müller-Ullrich: Dass die Geheimdienste tatsächlich auch von uns mit beobachtet werden, das ist ja eine unglaubliche Erleichterung im Grunde für den Homo Politikus geworden. Warum kann man es unter diesen Bedingungen nicht einfach akzeptieren, dass die Beobachterei generell zunimmt?
Hörisch: Na ja, weil wir das Recht auf informationelle Selbstbestimmung haben wollen. Wir müssen es auf der faktischen Ebene akzeptieren; auf der normativen Ebene halten wir das für schlechterdings inakzeptabel. Ich übrigens auch! Ich will schon gucken, in welchen Situationen ich beobachtet werde. Angenommen, ich würde einen schrecklichen Fauxpas produzieren und einen Versprecher, der einfach peinlich wäre, dann wäre ich sehr dankbar, wenn Sie ihn rausschneiden würden und das nicht für die Allgemeinheit beobachtbar und registrierbar wäre. Wir merken aber, dass diese Selbstbestimmung einfach an Grenzen kommt – warum? - Weil die Beobachtungsakte, die Analyseakte so zahlreich sind, dass die gar nicht mehr steuerbar sind. Und ich glaube, die eigentümliche Erfahrung, die eben Geheimdienste jetzt machen, ist, dass sie zum Spielball werden können, Stichworte Assange oder Snowden, von ganz individuellen Personen, die ihrerseits sich diesem Spiel versuchen, zu entziehen. Was geschieht, dass wir als Journalisten, als Medienleute, als Zeitungsleser jetzt unsererseits alles tun, genau dieses Spiel wiederum zu beobachten. Also es gibt sozusagen die alte herrschaftliche Position nicht mehr.
Müller-Ullrich: Man könnte ja mal weiter fantasieren, dass tatsächlich durch technische Gegebenheiten dieser Prozess nicht mehr steuerbar ist. Worin besteht dann tatsächlich das Residuum des Ichs zuletzt noch? Welcher Zacken bricht uns aus der Krone, wenn wir diesen Kern von Privatheit preisgeben müssen?
Hörisch: Na ja, wir wissen spätestens seit Rimbaud, Verlaine, Baudelaire und solchen Leuten, dass das Ich ein anderer ist: "Je es tun autre", das Ich ist ein anderer, ist dieser Epochensatz. Und das zwischen dem alten Begriff des Subjekts als Untertan, das Subjektum, das Unterliegende, das Beobachtete – "Ist er mein Subjekt", fragt Friedrich der Große, und meint nichts anderes, als ob man preußischer Untertan ist – auf der einen Seite und dem Subjekt im kantischen Sinne, ich bin Herr meiner selbst, ich bin autonom, ich verfüge über mich, ich bin das souveräne Subjekt, ein knirschender Widerspruch besteht, obwohl es dasselbe Wort ist. Das wird sich einigermaßen deutlich jetzt, denke ich, unter neuen Medienbedingungen entfalten. Subjekte erfahren sich selbst ja auch bloß in einer, sie selbst beschäftigenden, interessierenden Art und Weise, wenn sie auch die Erfahrung machen, dass sie unterdrückt werden, dass sie Unterliegende sind, um es gebildet Griechisch zu sagen, dass sie ein Hypokeimenon sind. Und Hypokeimenon ist eigentlich nichts anderes als die Unterlage, auf der sich andere abarbeiten und einschreiben.
Müller-Ullrich: ..., sagt der nicht herausgeschnittene Medientheoretiker Jochen Hörisch zur Gänsehaut des Ichs unter dem Horizont seiner gesamtkunstwerkmäßigen Ausspähung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.