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Jedes Kaff ist ein Kosmos

Der globale Wandel ist in den entlegendsten Weltgegenden angekommen. Der Journalist und Auslandskorrespondent der "Süddeutschen Zeitung" schildert die Globalisierung am Beispiel seines Heimatdorfes Alsweiler im Saarland.

Von Sandra Pfister |
    "So ein Dorf, in dem man aufgewachsen ist, das hat man sozusagen in der Erinnerung fest gespeichert, und da ist mir aufgefallen, es hat sich fundamental viel verändert, es ist geradezu revolutionär."

    Bis 2006 lebte noch die Hälfte der Menschheit in Dörfern. Doch es werden immer weniger. Immer mehr Bewohner zieht es in die Städte; auch in Deutschland, wo die Zahl der noch existierenden Dörfer aktuell mit rund 30.000 angegeben wird. Das in der Stadt gerne gepflegte Klischee vom Dorfbewohner gehört, so schreibt Brill, zu den Akten; inklusive vieler positiver Eigenheiten, die das Dorfleben – in der Wahrnehmung des Autors – lange Zeit ausgemacht haben.

    Brill erzählt das am Beispiel seines saarländischen Heimatdorfes Alsweiler. Als einschneidendste Veränderung hat er dort den Umgang mit der "Erstsprache" ausgemacht. Eigentlich seien Saarländer eingefleischte Dialektsprecher. Aber:

    "Ich habe gemerkt, die Leute reden auf dem Dorf immer mehr Hochdeutsch bei offiziellen Veranstaltungen. Untereinander natürlich nicht. Und der Dialekt verschwindet langsam, und damit verschwindet doch, finde ich, eine sehr reichhaltige Ausdrucksweise, ein Stück Kultur."

    Brill geht zunächst von seinem subjektiven Empfinden aus. Doch das, was er am Beispiel seiner saarländischen Heimatgemeinde ausmacht, belegt er auch mithilfe der Dorfforschung: Der zufolge gleichen sich nämlich - bei allen regionalen Verschiedenheiten - die Probleme der Dörfer weltweit.

    ""Ein neuartiges Nomadentum greift um sich, und es stellt sich die Frage, ob und wie das Dorf unter den Bedingungen der Globalisierung erhalten bleibt als ein Ort besonderer Lebensqualität."

    Lebensqualität, die in den vergangenen Jahren geschrumpft sei. Brill macht das an einem weitverbreiteten Phänomen fest: In seinem Dorf hat vor neun Jahren das letzte Lebensmittelgeschäft geschlossen. Die Menschen kaufen nun in benachbarten Großmärkten ein.

    "Kauend, essend, trinkend ist die Menschheit vereint durch die Produkte der Global Players".
    "Nur der Autoverkehr nimmt weiter zu. Regelrechte Wüstungserscheinungen machen sich breit. Es geht inzwischen schlicht an die 'Substanz des Dorfes'."


    Dorf gleich Naturnähe – auch diese Gleichung stimme nicht mehr, so Brill. Auch Dorfbewohner hätten häufig den Bezug zu den umgebenden Feldern und den natürlichen Vertriebswegen verloren. Er widmet diesem Umstand ein langes Kapitel.

    "Wer heutzutage im Herbst in Alsweiler über die Dorfflur spaziert, wird beobachten, dass viele Apfelbäume zur Zeit der Ernte schwer an ihren Früchten tragen, so lange, bis die Äpfel nacheinander zu Boden fallen. Dort bleiben die meisten liegen und faulen – niemand ist mehr an ihnen interessiert. Und gleichzeitig fahren die Dorfbewohner nach Tholey zu Norma oder nach St. Wendel zum Globus-Großmarkt und kaufen dort glänzende, hübsch anzuschauenden Äpfel aus Chile, aus Südafrika oder solche, die einen Aufkleber mit dem Aufdruck 'Braeburn' tragen."

    Doch wie kommt es, dass die Dorfbewohner derartig den Kontakt zu ihren Wurzeln verloren haben? Brill und mit ihm die Dorfforschung haben dafür eine plausible Erklärung parat. Es liege an einem stillen Minderwertigkeitskomplex der Dörfler, die den Neuerungen der Moderne nicht hinterherhinken wollten. Die Folge: Konturlose Dörfer, die an den Rändern in Neubaugebiete ausfransen; deren Dorfkerne veröden, weil die Häuser dort leer stehen oder die Dörfer der Länge nach von Bundesstraßen zerschnitten werden. Nichts, so schreibt Brill, habe das Leben auf dem Dorf in den vergangenen Jahrzehnten so verändert wie das Auto.

    "Wir leben im Transit. Gerade auf dem Land ist der Tag angefüllt mit Bewegungen von einem Ort zum anderen. Die einstige Beschaulichkeit ist endgültig dahin."

    Aber nicht nur die Angst der Dorfbewohner, für hinterwäldlerisch gehalten zu werden, hat die Angleichung zwischen Dorf und Stadt befördert. In Deutschland waren es auch die Gebiets- und Verwaltungsreformen, die bereits unter den Nazis begonnen wurden. Sie folgten dem Prinzip, dass es "zentrale Orte" geben solle, denen kleinere sich unterzuordnen hätten. In der alten Bundesrepublik wurden so rund 16.000 Dörfer eingemeindet.

    "Sie verloren damit ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Potenzial, das von Generationen erarbeitet worden war. Was soll dem Menschen denn Heimat sein in einer Welt, die immer stärker von immer ferneren Mächten gesteuert wird und deshalb immer weniger als human erscheint, wenn nicht sein vertrautes Dorf?"

    Dorfkultur war lange Jahre Vereinskultur – wie es der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger einmal formuliert hat, das heißt sie war hausgemacht. Die Verfügbarkeit von Informationen durch Fernsehen, Internet und so weiter, hat einerseits die Borniertheit vieler Dorfbewohner beendet. Die Kehrseite lautet aber: Nach dem Fernsehen entzieht jetzt auch das Internet der dörflichen Gemeinschaft soziales Potenzial. Das Vereinssterben bereitet Brill Sorgen. Vereine seien gelebte Demokratie, auch deswegen hätten die Nazis sie verboten oder gleichgeschaltet.

    "Da fehlt dann eine formierte Gesellschaft, da fehlt die berühmte civil society, die Bürgergesellschaft, man muss das nicht nur Verein nennen, man kann es auch NGO nennen heute oder man nennt es Bürgerinitiative, jedenfalls, das, was bei uns im 19. Jahrhundert entstanden ist, die freie Assoziation der Bürger, die sagen, wir nehmen unsere Sache die uns interessiert selber in die Hand und organisieren das und schauen mal, wie weit wir kommen."

    Folgt man Brill in seiner Darstellung des dörflichen Kosmos, schärft sich unweigerlich der Blick für die erhaltenswerten Seiten dörflichen Lebens. Einmal abgesehen davon, dass darin auch viel bildungsbürgerliche Nostalgie derer steckt, die ihre Dörfer schon vor vielen Jahrzehnten verlassen haben, stellt sich dennoch die Frage: Lässt sich das Rad der Geschichte zurückdrehen, lässt sich verhindern, dass das "deutsche Dorf" untergeht? Der Autor ist optimistisch: Es gebe Menschen, die daran arbeiten. Und er lässt sie zu Wort kommen: engagierte Sanierer, die für den Erhalt alter Häuser kämpfen, passionierte Ehrenämtler, die Vereine leiten und die Dorfbewohner miteinander vernetzen. Oder einen saarländischen Ministerialbeauftragten, der Kommunalpolitikern klar zu machen versucht, dass sie ihre Ortskerne nur wiederbeleben können, wenn sie nicht mehr so viele Neubauflächen ausweisen.

    Das, was der Autor dann konkret vorschlägt, wirkt angesichts der Modernisierungs- und Globalisierungsgeschwindigkeit aber wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Brill regt an, alte Häuser zu retten; Warenhäuser sollten ihr Grundsortiment um Lokalwaren erweitern, und um Jung und Alt wieder mehr zusammenzubringen, seien "Zeitspenden" (Ich mäh deinen Rasen, du liest meinem Opa vor) in Form von Tauschbörsen eine gute Idee. So richtig zündet das alles jedoch nicht.

    Das Hauptaugenmerk des Buches liegt auf der eindringlichen Problembeschreibung. Und die gerät oft recht kleinteilig. Brill hat unendlich viele Details und Anekdoten gesammelt, zahlreiche Gespräche mit Freunden und Bekannten im Dorf protokolliert und Reportagen vom Landleben eingewoben. Das macht seine Aussagen sehr plastisch, oft aber auch recht langatmig.

    Trotz aller Weitschweifigkeit kommt dieses Buch aber genau zur rechten Zeit, weil nicht nur die Zahl der Dorfbewohner weltweit schwindet, sondern, weil auch ihre Eigenheiten vermutlich unwiederbringlich verloren gehen. Jede kleinste Verschiebung im städtischen Gefüge findet zahlreiche kluge Protokollanten, für das Dorf ist das anders, und diese Lücke gefüllt zu haben, darin liegt Klaus Brills Verdienst.

    Sandra Pfister besprach das Buch von Klaus Brill: "Deutsche Eiche – Made in China. Die Gloablisierung am Beispiel eines deutschen Dorfes." Erschienen ist das Buch im Karl Blessing Verlag, München. Es hat ca. 320 Seiten und kostet 19,95 Euro