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Jens Becker: Heinrich Brandler. Eine politische Biographie

Der Name Heinrich Brandler dürfte heute kaum noch geläufig sein. Brandler, 1881 geboren, ein Generationsgenosse von Konrad Adenauer und Josef Stalin, trat in den frühen 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Führer der noch jungen Kommunistischen Partei Deutschlands hervor. Doch er wurde schnell von den eigenen Leuten ausgebootet, waren doch seine politischen Positionen zu wenig konform mit dem, was man in Moskau über die Rolle der KP in Deutschland dachte. Brandler wurde abgesetzt und später aus der Partei ausgeschlossen. 1933 ging er, wie so viele andere, ins Exil. Seine Bindung an die Partei war trotz aller Kritik an deren Fehlern tief, nach dem Krieg versuchte er in Westdeutschland noch einmal vergeblich Politik zu machen. 1967 starb Brandler in Hamburg. Jens Becker hat sich in seiner Dissertation mit der politischen Biographie dieses Mannes auseinandergesetzt. Sie ist nun als Buch erschienen.

Hans Martin Lohmann | 18.02.2002
    34 Jahre nach Brandlers Tod hat der Frankfurter Sozialwissenschaftler Jens Becker nun die erste umfassende und gründlich recherchierte Biographie des einstigen kommunistischen Parteiführers vorgelegt - ein Buch, welches Anlass gibt, über das katastrophale Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung zwischen dem Ende des Kaiserreiches und der nationalsozialistischen Diktatur im historischen Abstand wieder nachzudenken. Denn der Schwerpunkt von Beckers biographisch-politischer Rekonstruktion der Brandlerschen Vita liegt eindeutig auf den knapp 15 Jahren der Weimarer Republik, während Brandlers frühe Jahre sowie die Zeit seines Exils und seiner Rückkehr nach Deutschland lediglich den Vor- bzw. den Abspann zu jenen entscheidenden Jahren bilden. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich vermerkt, dass Beckers Buch, eine sozialwissenschaftliche Dissertation, durchaus lesbar ist, was man ja von den wenigsten im akademischen Kontext verfassten Arbeiten sagen kann.

    Becker hat keine jener üblichen Biographien geschrieben, wie sie heute en masse produziert und einem dankbaren Publikum angedient werden, das sich an der Größe "großer Männer" oder an den banalen Abgründen privater Leidenschaften und Verirrungen ergötzt. Über das Privatleben Heinrich Brandlers, über seine Ehe, seine Freundschaften, seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen, erfährt der Leser so gut wie nichts. Solche Abstinenz hat ihren systematischen Grund. Brandler war, wie Becker notiert, ein "Politiker aus Leidenschaft", der außer der Politik nichts anderes gelten ließ. Im Rückblick auf sein Leben schreibt der alte Brandler:

    Was ich weiß und gelernt habe, verdanke ich meiner Tätigkeit in der Arbeiterbewegung. ... Ich ‚trat nicht ein', sondern sie erfasste mich und gab meinem Leben einen Inhalt. Gefühlsmäßig gepackt und zum Einsatz und Handeln gezwungen in jeder Phase, gab es und gibt es für mich nichts anderes, als aus Fehlern und Niederlagen zu lernen und besser zu machen. Außerhalb des Kampfes meiner Klasse hat das Leben für mich keinen Sinn.

    In der Tat liest sich Brandlers Biographie wie die eines von der Politik Besessenen, der im Ernstfall bis auf den Grund der völligen persönlichen Selbstverleugnung ging, wenn es galt, für "die Sache" - die kommunistische Sache - zu kämpfen. Aus kleinsten ärmlichen Verhältnissen stammend, fand Heinrich Brandler früh zur wilhelminischen Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung, wo er sich alsbald als begabter politischer Autodidakt hervortat und bewegte Wanderjahre als sozialistischer Arbeiter und Aktivist hinter sich brachte. Während des Ersten Weltkriegs zählte er zur Minderheit jener sozialdemokratischen Linken, die den Mehrheitskurs der SPD, den "Burgfrieden" mit dem kaiserlich-konservativen Deutschland, immer weniger akzeptierte und deshalb die organisatorische Selbständigkeit der heimatlos gewordenen SPD-Linken um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin und Leo Jogiches anstrebte. Brandler gehörte sowohl zu den Betreibern der Gründung des Spartakusbundes 1916 als auch der Kommunistischen Partei Deutschlands um die Jahreswende 1918/19. Nach der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht und nachdem Paul Levi als Führer der jungen Partei gescheitert war, avancierte Brandler 1921 zum Vorsitzenden der KPD.

    Mit den Jahren von Brandlers Parteivorsitz, den er Anfang 1924 wieder verlor, beschäftigt sich Beckers Untersuchung am intensivsten. Denn schon in dieser Frühphase der KPD schälte sich heraus, welche Hypotheken die Partei fast von Anfang an mit sich schleppte und was sie schließlich unfähig machte, den Aufstieg der NSDAP bis zu ihrem Sieg politisch wirkungsvoll zu bekämpfen. Anhand zahlreicher Quellen und Dokumente belegt Beckers Buch eindrucksvoll die in der Forschung kaum noch umstrittene These, welches Maß an Mittäterschaft und politischer Verantwortung der KPD im Hinblick auf den Untergang der Weimarer Republik zugeschrieben werden muss.

    Die größte Hypothek der KPD bestand wohl darin, dass der siegreiche russische Bolschewismus um Lenin, Stalin, Trotzki und Sinowjew Anfang der zwanziger Jahre mit Macht darauf drängte, in Deutschland eine proletarische, von der KPD geführte Revolution ins Werk zu setzen, um die innen- wie außenpolitisch bedrohte russische Revolution abzusichern. Solcher Erwartungsdruck führte bei den Leitungskadern der KPD bisweilen zu abenteuerlichen Einschätzungen der "revolutionären Situation" und zu Aktionen, die im Desaster endeten. Als belastend kam hinzu, dass durch den wachsenden Einfluss der in Moskau ansässigen Kommunistischen Internationale und der Partei Lenins jene Methoden in der KPD um sich griffen, die unter Stalins Alleinherrschaft zur Alltagspraxis wurden: Abschaffung der innerparteilichen Demokratie, Oligarchisierung der Macht, Denunziation, Intrige und Misstrauen. Schließlich fand die Führung der KPD nie zu einem politisch realistischen Konzept, das es erlaubt hätte, ihr Verhältnis zur SPD und deren Massenbasis zu klären.

    Mal propagierte man die proletarische Einheitsfront, mal das Gegenteil, nämlich den unnachsichtigen Kampf gegen den angeblichen "Sozialfaschismus" der SPD. So wirkte die KPD, die sich zunehmend den Moskauer Direktiven unterwarf, wenn auch unfreiwillig daran mit, dass die deutsche Arbeiterbewegung zutiefst gespalten blieb und nicht in der Lage war, der aufziehenden faschistischen Bewegung Paroli zu bieten.

    In diesem verminten Politikfeld war es für einen Mann wie Brandler, der zwar über genügend Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit verfügte, fast unmöglich, eine Politik der KPD durchzusetzen, die den gegebenen politischen und sozialen Kräfteverhältnissen Rechnung trug, und der Partei eine stabile Massenbasis zu sichern. Als Brandler im Herbst 1923 den mit seiner Zustimmung in Moskau geplanten "deutschen Oktober", also den bewaffneten Arbeiteraufstand, in letzter Minute abblies, weil er vom blutigen Scheitern des Plans überzeugt war, wurde er von seinen Konkurrenten um die Parteiführung alsbald entmachtet. Seitdem haftete Brandler das Stigma eines "Verräters der Revolution" und des "Rechtsabweichlers" an - ein Stigma, mit dem er sich für den Rest seines Lebens herumquälte.

    Das Dilemma, ja die Tragik Heinrich Brandlers liegt darin, dass er, der überzeugte Kommunist, eine Parteidisziplin übte, die es ihm in vielen Situationen verbot, die eigene - bessere - Einsicht gegen die Partei in Stellung zu bringen; insofern war er wie viele seiner Mitstreiter ein gehorsamer Parteisoldat. Andererseits war Brandler, geprägt vom demokratischen Geist der Vorkriegssozialdemokratie, auf Dauer unfähig, politische Beschlüsse der obersten kommunistischen Gremien mitzutragen, die erkennbar unsinnig oder sogar wahnsinnig waren. Dass er Ende 1928 aus der KPD ausgeschlossen wurde, war daher nicht ohne Konsequenz.

    Wie viele andere seiner Generation teilte Brandler die Illusionen über den kommunistischen Aufbau in der Sowjetunion und über den Charakter des Regimes. An der Notwendigkeit der Existenz der Sowjetunion und der prinzipiellen Richtigkeit ihres Weges zweifelte er auch später nicht. Bei aller grundsätzlichen Treue zu seinen kommunistischen Idealen, die ihm eine reuevolle Rückkehr zur Sozialdemokratie verbaute, war er freilich intelligent und integer genug, Irrtümer und Fehler zu erkennen und in seinem politischen Handeln sich von dieser Erkenntnis leiten zu lassen. Zum bedingungslosen Kotau vor dem Götzen "Partei" taugte er nicht. Jens Beckers Resümee:

    Dieser sperrige und widerspruchsvolle politische Mensch passte in keine Schublade.

    Zu den Verdiensten dieser Biographie zählt nicht zuletzt, dass sie das Sperrige und Widersprüchliche am Homo politicus Heinrich Brandler nicht wegrationalisiert.