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Jenseits der Fräuleinwunder

Es mag vielleicht überraschen, aber im literarischen Dornröschenschlaf lag Schöneweide nie. Der alte Arbeiterbezirk im Osten Berlins, von den dort Lebenden auch Schweineöde genannt, spielt bereits in Klaus Schlesinger Erzählung Alte Filme eine Rolle und wird zentral in Volker Brauns Geschichte von den Vier Werkzeugmachern , die eben in jenem Stadtteil spielt, in dem sich nach 1989 nur noch die Füchse "Gute Nacht" sagen, weil in den dort ansässigen Berliner Großbetrieben die Lichter ausgegangen waren.

Von Michael Opitz | 28.06.2004
    Erneut kommt der etwas heruntergekommene und beinahe vergessene Berliner Stadtbezirk in Ottes Schelmenroman Schweineöde zu literarischen Schauplatzehren, und zwar ausgerechnet durch einen Autor, der aus Bonn Bad Godesberg stammt.

    Ich glaube, dass ich beide Perspektiven ganz gut kenne, weil ich nämlich in Schöneweide gewohnt habe, relativ lange in den neunziger Jahren. Was wichtig ist, dass auf der einen Seite ein Kosmos steht West, auf der anderen Seite ein Kosmos steht Ost. Mir ist aufgefallen, in all den Diskussionen, die in den neunziger Jahren stattgefunden haben, dass es immer so etwas gibt wie eine Diskurshoheit des Ostens über den Osten, des Westens über den Westen. Und aus diesem Grund hab ich […] eine Art Versuchsanordnung aufgebaut, wo diese beiden Extrempole, das Vornehme, das vermeintlich Vornehme Bonn Bad Godesberg gegen das etwas heruntergekommene Berlin-Oberschöneweide aufeinander prallt. Und hätte ich das jetzt nur nach Westen gelegt, nur nach Bonn Bad Godesberg, dann hätte ich genau das gemacht, was alle anderen auch gemacht haben: die haben Erinnerungsbücher geschrieben. Ich möchte kein Erinnerungsbuch schreiben. Ich habe persönliche Erfahrungen gesammelt, natürlich durch die Jugend in Bonn Bad Godesberg, ich habe sehr viel Erfahrungen gesammelt in Berlin Schöneweide, und diesen Erfahrungsschatz nehme ich jetzt mal, um etwas zu erzählen, was überhaupt nichts mit meiner Lebensgeschichte zu tun hat.

    Ich glaube, gerade das war ja das spannende, diese Extrempole zusammenzufügen oder überhaupt nicht zusammenzufügen, um nämlich herauszufinden, wie diese Kollektividentitäten, die Klischees überhaupt entstanden sind. Wenn ich jetzt also nur über den Westen geschrieben hätte, dann wäre genau das herausgekommen, was ich in diesem Buch kritisiere: dass ein Abgleich stattfindet von dem was wir schon kennen, gelesen – sei es in der Generation Golf auf der einen Seite, gelesen sei es auf der anderen Seite in den Zonenkindern. Das spannende fand ich, dass ich als einer der wenigen diese beiden Erfahrungsschätze tatsächlich zusammenbringen konnte. Und was dann entsteht ist eine gewisse hochexplosive Mischung.


    Schick war es übrigens nie in Schöneweide: Weder zu Ostzeiten, als der Bezirk alles andere als Großstadtflair atmete, noch jetzt, wo in der Gegend um den Rathenau Platz eher Tristesse pur herrscht. Kein Wunder, dass die Szeneevents der neunziger Jahre woanders stattfinden, freiwillig macht man sich nicht nach Schöneweide auf, wenn man kann, fährt man durch. Ausgerechnet in diesem von Trostlosigkeit durchsetzten Winkel verortet Carsten Otte seine zentrale Figur Kuballa, einen Mittzwanziger, der wie der Autor ebenfalls aus Bonn Bad Godesberg stammt und es zum Millionär gebracht hat. Magisch fühlt sich Kuballa von dem spröden Charme Schöneweides angezogen und erliegt ihm sofort, als er, von einer Asienreise zurückgekehrt, auf einen Wohnungsmakler trifft, der früher für die Staatssicherheit gearbeitet hat.

    Ausgestattet hat Otte seine zentrale Figur mit einer dicken Hornbrille, die wiederum Freunden von Hape Kerkeling nicht unbekannt sein dürfte, denn sie spielt in dem Sketch "Marcels Literaturforum", eine entscheidende Rolle: In dem dort besprochenen Roman wird die Hornbrille ausdauernd gereinigt, aber der Aufwand bleibt ergebnislos, denn auch intensives Putzen verhilft dem Brillenträger nicht zu mehr Durchsicht.

    Ich bin mit Hape Kerkeling aufgewachsen und man braucht sich nicht nur Hape Kerkeling anzuschauen. Jemand, der so eine dicke Brille hat […] und keine Naturschönheit ist und versucht wirklich alles zu sehen und es eben dann doch nicht sieht. Und das ist der Hinweis darauf: Leser pass auf! Hier ist eine Figur, die vielleicht gar keine ist. Die eben nicht so authentisch ist, wie sie dann eben entwickelt wird. […] Vorsicht, Kuballa ist zwar die Figur mit der wir durch diesen Roman gehen, aber es ist im wahrsten Sinne keine authentische Figur.

    Eine literarische Figur kann nun wirklich allen möglichen Berufen und den seltsamsten Neigungen nachgehen, sie darf auch mit allen nur denkbaren Verhältnissen konfrontiert werden – da sind der dichterischen Phantasie keine Grenzen gesetzt. Und handelt es sich noch dazu um eine Satire, muß sich der Autor zu allerletzt darum kümmern, wie es um den Realitätsgehalt seiner Geschichte bestellt ist.
    Im vergangenen Jahrzehnt hat die deutschsprachige Gegenwartsliteratur einige komische Helden von Format hervorgebracht, erinnert sei an den aus Thomas Brussigs Roman Helden wie wir. Klaus Uhltzscht gelingt es, die Geschichte zu wenden, weil der Mann Erstaunliches vorzuzeigen hat und er mit dem, was es da zu besehen gibt, Wirkung erzielt. Authentisch muss eine solche Figur nicht sein, es reicht, wenn sie überzeugend ist.

    Ahnungslos wie Klaus Uhltzscht ist auch Carsten Ottes Held, der allerdings unmotiviert in seinem Wollen bleibt. Weil die Nachwendezeit im Osten verspricht, abenteuerlicher zu werden, als alle möglichen Fernreisen, entschließt sich sein Held Kuballa, im Osten den ultimativen Erlebniskick zu suchen. Unwissend wie ein Tourist irrt er durch Schöneweide und gerät ins Stolpern, wenn er dort mit DDR- Geschichte konfrontiert wird. Das komische Moment der Figur ist seine Unwissenheit, doch die ist schnell durchschaut. Was Kuballa tut, irritiert, aber es ist nicht in jedem Fall komisch. Schon gar nicht, wenn er zunächst besessen ist, die Arbeit der Stasi fortzusetzen, um sich wenig später in der Opferrolle zu gefallen.

    Wenn man "Schweineöde" als psychologischen Roman läse, dann würde das überhaupt nicht funktionieren. Es ist kein psychologischer Roman, ganz richtig, die Figur ist keine authentische Figur, und sie handelt auch als solche nicht. Kein Mensch würde erst die Täterrolle durchspielen und dann die Opferrolle durchspielen. Das ist ja gerade der Witz an dieser Versuchanordnung, dass ich immer stärker merke gegen Ende - diese Figur, die keine ist, hält mir den Spiegel vor und sagt: Es gibt verschiedene Identitätsmuster, dass des Opfers, dass des Täters und wir finden diese Identitätsmuster auch in dem Roman widergespiegelt in den verschiedensten Figuren und motiviert ist es gerade eben nicht, das ist der Witz dabei.

    Motiviert sind die ganzen anderen Figuren, die haben eine Lebensgeschichte, der schwule Held, der eigentliche Held des Romans, lacht den Kuballa sogar aus und dann bricht diese ganz Konstruktion zusammen. Das heißt, wenn sie zu dem Punkt gekommen sind und sagen, verdammt noch mal, ich kann gar nicht nachvollziehen, warum der so handelt, dann sind sie am Knackpunkt des Romans, dann haben sie nämlich erkannt, Kuballa ist keine existierende Figur, sondern nur die Projektionsfläche des Erzählers.

    Und was ich will ist, dass man eben hinschaut, dass man nicht den Klischees folgt. Kuballa selbst wird als typisch konsumistischer Wessi vorgestellt und am Anfang glaubt man das ja auch. Ja, ja, so ist der Wessi, ja, ja, ist ein Sohn von Millionären, kommt aus reichem Elternhaus. Wir glauben das am Anfang und vertrauen oder fallen auf unsere eigenen Klischees rein. Und am Ende stellen wir fest: Nee, so eine Figur gibt es nun wirklich nicht, nämlich so würde nie jemand handeln. Das heißt, uns bleibt nichts anderes übrig, als uns mit den Ostfiguren, die im Roman vorgestellt werden, ernsthafter auseinanderzusetzen und rückblickend zu fragen: Na wie ist denn der Westen wirklich?


    Als Knackpunkt des Romans ist die Einsicht, dass es sich bei der zentralen Figur um keine existierende handelt, zu wenig. Und auch die sich daraus stellende Frage: Wie ist der Westen wirklich? reicht nicht ganz, um ein Schelmenstück zu inszenieren.

    Das literarische Vorhaben, das Carsten Otte in Schweineöde umzusetzen gedachte, klingt in seinen Beschreibungen häufig überzeugender, als die im Buch festgehaltene Geschichte. Dass er an den gegenwärtigen sozialen Schieflagen deutliches Interesse zeigt und sich den eklatanten, besonders im Osten zeigenden Problemen stellt, wobei es sich nicht um Folgeerscheinungen verblühter Landschaften handelt, gehört zu dem, was an diesem Debüt äußerst lobenswert ist.

    Dieses Buch wird verschiedene Leser haben. Der Westleser, der sich nie wirkliche mit dem Osten auseinandergesetzt hat wird das anders lesen, der wird viel mehr diese Abenteuerbrille des Kuballa aufsetzen und sich am Ende darüber ärgern. Ich glaube überhaupt werden sich viel mehr Wessis über dieses Buch ärgern. Und der Ossi wird sich dann darüber wundern, dass seine Vergangenheit, von der er auch annimmt, dass sie eben so fest gefügt ist. Aber sie müssen doch genauer lesen. Ich klappe in diesem Buch immer um. Ich fahre auf dem Klischee ab, ich nutze das, um es dann wieder kaputt zu machen.
    Jenseits der Medienkritik, jenseits der Ideologiekritik, die dieses Buch enthält, kann man diesen Roman auch einfach als Liebesroman lesen, als Kriminalgeschichte. Und es hat natürlich auch ganz viele unterhaltsame Elemente. Wichtig finde ich, wenn junge Literatur diese verschiedenen Ebenen zusammenbringt. Ich habe immer kritisiert, dass zu eindimensional geschrieben worden ist. Hier hat jeder Leser etwas.

    Carsten Otte
    Schweineöde
    Eichborn, 261 S. , EUR 19,90