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Jenseits der Schlagzeilen

Zu Ostern treffen sich im Wendland die Atomkraftgegner aus der ganzen Republik. Doch jenseits der Diskussion und der Schlagzeilen um das Atommüll-Endlager hat das Wendland einiges zu bieten.

Von Susanne von Schenck |
    "Warum der Rundling rund ist, das weiß bis heute noch keiner, ich auch nicht."

    Herwart Schulz aus Schreyan, einst Landwirt, dann Busfahrer, heute im Ruhestand. Den wollenen Tweedhut hat er in die Stirn gezogen, und als er aus der Tür seines Hauses tritt, stürzen seine Hühner auf ihn zu.

    Selbst die größten Professoren, die auch aus Marburg an der Lahn kommen, und die hier, wenn der heimatkundliche Arbeitskreis ist – die Frage, warum der Rundling rund ist, das kann noch kein Mensch beantworten. Die Rundlingsdörfer: sie sind das Markenzeichen des Wendlands. Fachwerkhäuser mit je einem großen Scheunentor stehen kreisförmig um einen Dorfplatz. Eine einzige Straße führt in den Rundling hinein und wieder hinaus. Man ist beobachtet und geschützt gleichermaßen. Der große Platz in der Dorfmitte hat eine geradezu magische Ausstrahlung.

    "Es zählen nur die Menschen. Ein Dorf sind seine Menschen. Wenn der Rundling niedergemacht würde und alle Schreyaner in einen Plattenbau zögen, auf fünf oder sieben Stockwerken übereinander, wäre es irgendwie immer noch Schreyan. Man darf ihnen nur nicht den Platz in der Dorfmitte nehmen. Ein Hochhaus am Rande eines runden Platzes, das wäre immer noch irgendwie Schreyan. Denn es wären immer noch Schreyaner",

    schrieb der Schriftsteller Andreas Maier, der vor ein paar Jahren ein Stipendium im Künstlerhof Schreyan hatte. Das Haus von Herwart Schulz liegt gleich neben dem Künstlerhof, und seine Nachbarn, Schriftsteller und Musiker, wechseln alle paar Monate. In der Groot Däl, der großen Eingangshalle, in der einst die Fuhrwerke Getreide, Stroh oder Heu abluden, stehen jetzt zahlreiche Stühle für die nächste Veranstaltung, und an den Seiten, dort, wo früher das Vieh angebunden war, sind gemütliche Sitzecken zum Lesen eingerichtet.
    "Die Stipendiaten, das sind Künstler. Man kommt mit denen in Kontakt, wenn man dort hingeht, die suchen auch den Kontakt, aber was dort musiziert wird – es sind ja Musikalische da und Schriftsteller, da geht aus dem Dorf fast keiner hin. Das ist nicht verständlich. Ich will die Kunst nicht infrage stellen, aber das ist nicht unser Geschmack. Und ich geh auch nicht hin."

    Eigentlich könnte Herwart Schulz sich über frischen Wind von außen freuen. Denn was noch 1986 in der Uelzener "Allgemeinen Zeitung" über das Wendland zu lesen war, ist nicht gerade schmeichelhaft für Land und Leute.

    "Früher vernagelten die Zigeuner in Uelzen die Fenster ihrer Wohnwagen und rasten im gestreckten Galopp durch die Gegend von Lüchow und Dannenberg."

    Ins armselige und verschlafene Niemandsland im einstigen Zonenrandgebiet wollte keiner. Das Wendland war in der alten Bundesrepublik der dünnstbesiedelte Landstrich: gut 50 Einwohner pro Quadratmeter. Die eigentliche Bevölkerung des Wendlands sind Bauern. Und dann ab den 1970er-Jahren kamen sie: stadtmüde Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Schauspieler, Filmemacher. Sie kauften seinerzeit für wenig Geld alte Bauernhäuser, stillgelegte Bahnhöfe oder leer stehende Schulen und bauten sie um. Unter ihnen Kai Hermann - einst Journalist beim "Stern".

    "Ich glaub, ich bin im innersten meines Herzens kein Großstädter, obwohl ich in der Großstadt geboren bin, in Hamburg, ich bin irgendwo Provinzler. Ich hab mich nie so richtig mit dieser viel gelobten Anonymität in der Großstadt angefreundet. Also mich freut es, wenn ich von einer Reise zurückkomme, und nähere mich meinem Dorfe, dass Autofahrer, die mir entgegenkommen, mich grüßen. Ob ich sie dann so schnell identifiziere oder nicht, ich komm irgendwo nach Hause. Ich hab auch ne Stadtwohnung, aber ich weiß nicht mal, wer ein Stockwerk unter mir wohnt. Also mir ist das ein bisschen unheimlich."

    Dieser plötzliche Zustrom in eine vorwiegend land- und forstwirtschaftlich geprägte Gegend führte auch zu Spannungen zwischen der konservativen Landbevölkerung und den Neuankömmlingen. Verstärkt brachen sie auf, als im Februar 1977 Gorleben als Standort für einen geplanten atomaren "Entsorgungspark" mit Wiederaufbereitungsanlage ins Gespräch kam. Die Idylle bekam einen Riss.

    "Man dachte, man flieht in die Idylle und war dann wirklich mit den schlimmsten Konsequenzen dieses Fortschrittsglaubens konfrontiert durch die Atomindustrie. Insgesamt hat diese ganze Atomproblematik im Landkreis schon sehr negative Auswirkungen gehabt, nämlich auf das Zusammenleben zwischen Zugereisten und Einheimischen. Weil für viele Einheimische ging es einfach um Arbeitsplätze. Und das haben natürlich die, die hier Idylle suchten und ihr Auskommen hatten, nicht so richtig begriffen, dass da ganz unterschiedliche Interessen eine Rolle spielten, und da ist der Graben doch sehr tief geworden in den Dörfern zwischen Zugereisten und dem einheimischen arbeitslosen Maurer, der sich einfach gefreut hat, dass er einen Arbeitsplatz kriegt und keine Lust hatte, sich in irgendwelche Ängstediskussionen einzulassen."

    Zu den Einheimischen des Landkreises Lüchow-Dannenberg gehört auch Uli Schröder aus Lüchow, einer von den kreativen bunten Vögeln, von manchem etwas belächelt. Denn Uli Schröder hat Großes vor. Für den ehemaligen Sparkassenangestellten sind all die Rundlingsdörfer, Kartoffelhotels und zahlreichen Museen im Landkreis touristisch längst nicht ausreichend. Seine Heimatstadt habe mehr zu bieten. Die Kleinstadt im ehemaligen Zonenrandgebiet gelegen hat kein besonders gutes Image. Wegen der Castortransporte und weil der Landkreis der am höchsten Verschuldete in ganz Niedersachsen ist. Es wurde sogar schon einmal die eigene Auflösung diskutiert.

    Uli Schröder wohnt gleich hinter Lüchows verrammelten Bahnhof, in einer großen Jugendstilvilla – zwischen Rolling Stones Bildern, Plakaten und Gitarren, Trophäen, Klamotten mit Stones Aufdrucken und1500 Schallplatten.

    "Die Stones haben nicht so viele verschiedene Platten gemacht, es wurden über 400 Stücke veröffentlicht. Es gibt in jedem Land, wo eine Platte veröffentlicht wurde, natürlich ein anderes Druckdatum, und da versucht der Fan aus Israel, aus Deutschland, aus Ägypten oder wie auch immer, dann die Platte zu bekommen. Sie war ein bisschen anders im Cover,
    und so hat man die Platte entsprechend in seine Sammlung eingereiht. Diese 1500 Exponate, die sind schon allein damit dabei."

    Uli Schröder, um die sechzig, ist mit den Stones in die Jahre gekommen und einer ihrer ganz großen Fans: schwarz gekleidet, glattes, mittellanges graues Haar und eine große Brille auf der Nase.

    Außerdem hat Uli Schröder auch die weltweit größte Sammlung von Bildern Ron Woods. Denn der Gitarrist der Stones, nicht zuletzt bekannt durch seine Alkoholexzesse, malt. Uli Schröder war seinerzeit zu seinem fünfzigsten Geburtstag nach Irland eingeladen. "Sex, Drugs and Rock 'n Roll" hatte Wood seinem Fan als Basis der Zusammenarbeit vorgeschlagen. Der Lüchower war einverstanden, nur nicht mit den Drogen.

    "Ich habe nie was weggeworfen, und so wie mein Taschengeld in den 60er-Jahren reichte, habe ich einfach Konzerte besucht, habe Plakate versucht zu bekommen, die Tourprogramme, Hefte, Autogramme, Fotos, Bilder. Man hat seine Bravos gehabt und diese Dinge, die hab ich einfach archiviert und das wurden im Lauf der Jahre mehr und mehr, und in der Zwischenzeit sind das also Tausende von Objekten, die ich habe. Nun füllt sich mein Haus entsprechend auch damit, auch andere Räumlichkeiten, die wir anmieten mussten, sind damit bestückt, sodass wir die dann zeigen werden in unserem Museum."

    Ein Stones Museum? In Lüchow? In der Dr. Lindemannstraße in Lüchows Stadtzentrum soll es entstehen – in einem alten Supermarkt. Wo früher Gemüse, Konserven oder Fleisch verkauft wurden, will Uli Schröder seine umfangreiche Sammlung präsentieren: auf 600 Quadratmeter.

    An Ostern soll das Stones Museum eröffnet werden. Uli Schröder träumt davon, dazu die Band ins Wendland zu holen. Und die Lüchower?

    "Also, das find ich eine ganz tolle Idee. Wir haben ja zwölf Museen in Lüchow, und das finde ich mit Abstand das interessanteste und bunteste und verrückteste. Das wird ja wird ja wahrscheinlich auch das Erste in Deutschland und Europa sogar."
    Das Wendland – das ist natürlich auch die Natur. Die Elbe: wie sich selbst überlassen scheint sie ihrem eigenen Rhythmus zu folgen. Keine Eisenbahntrasse, keine Autobahn stören ihren Weg.

    "Dünnes Land, die Schwebe haltend und
    das tragende Wasser tragend, die Vögel
    sind ja nicht schwer.
    Der Deich führt in die Regenhalle

    Wenn Sonne scheint, reckt sich das Holz
    Stimmen schwirren Gefieder säuselt
    Wasser strahlt Luft an, Wolken so weiß
    die Welt schließt und zieht
    woanders hin

    Nichts zu sehen
    Das Elbholz braucht diese Momente
    Der Leere und Versunkenheit."

    Nicolas Borns Gedicht "Ein paar Notizen aus dem Elbholz" gehört zu den schönsten Texten, die über die Landschaft des Wendlandes geschrieben wurden. Der Autor, der 1979, im Alter von nur 41 Jahren starb, war einer der zentralen Schriftsteller dieser Gegend. Mit seinem Roman "Die Fälschung", von Volker Schlöndorff verfilmt, wurde er auch einem breiten Publikum bekannt. Vorbild für Gregor Laschen, die Hauptfigur in "Die Fälschung" war übrigens der Journalist Kai Hermann. Aber vor allem, so der Autor und Born Kenner Axel Kahrs aus Lüchow-Danneberg, war Nicolas Born Lyriker.

    "Nicolas Born hat sofort begriffen, was diese Elbe ihm bietet, welche Naturbelassenheit, er hat es als ein Idyll gefeiert, allerdings als ein Idyll mit Schrammen, das heißt, damals gab es noch die DDR-Grenze, er wusste um die politischen Auseinandersetzungen, er wusste um das geplante Kernkraftwerk, das 1974 hier in den Bebauungsplan aufgenommen ist, und ihm war klar, das ist eine Landschaft, die bedroht ist. Und diese bedrohte Landschaft wollte er retten. Er wollte zumindest mit seinen Kräften, seinen Fähigkeiten im Bereich der Literatur dazu beitragen, dass den Menschen bewusst wird, was sie hier haben und was sie aufs Spiel setzen oder möglicherweise zerstören."

    Die vielen Jahre des Widerstands gegen Gorleben haben ihre Spuren in den Biografien der Menschen hinterlassen: der Treck nach Hannover, das Hüttendorf 1004 und die "Republik Freies Wendland", die alljährlich wiederkehrenden Blockaden der Castortransporte.

    "Wir haben uns quer gestellt, und wir haben einiges verhindert. Wir haben zum Beispiel verhindert, dass dieses nukleare Entsorgungszentrum in seinem Umfang hier entsteht, wir haben die Wiederaufbereitungsanlage verhindert, die wir überregional in La Hague haben in Frankreich und in England, in Sellafield, das ist hier verhindert worden. Natürlich: Diese Verhinderung wird nie öffentlich so hingestellt, dass es der Widerstand war, aber wir sind schon Sand im Getriebe."

    Margrit Coellen hat das alles miterlebt, wie viele Wendländer. Sozialisiert in den 70er-Jahren ist sie geprägt von der Frauen-, Friedens- und AKW-Bewegung. Heute leitet die kleine, schmale Frau mit dem strubbeligen Haar das Gorleben-Archiv in Grabow, sichtet und archiviert Schriftstücke und Fotos. Für die nächste Generation sagt sie, als Ermutigung. Und sie betreut die Bibliothek mit ihren gut 600 Büchern rund um die friedliche Nutzung des Atoms.

    Kunst, Politik, ökologischer Landbau, Literatur, Kulturelle Landpartie und auch die Stones – alles, was die Entwicklung des Wendlandes in den letzten dreißig Jahren beeinflusst hat, hängt, direkt oder indirekt, mit den Atomanlagen in Gorleben zusammen. Wäre das abgeschiedene Eckchen im äußersten Nordosten Niedersachsens seinerzeit nicht als Atommüll-Endlager bestimmt worden, wäre dieser Landkreis wohl auch nicht das geworden, was er heute ist: eine quirlig-kuriose Mischung von kreativen Menschen in einer schönen, aber bedrohten Natur.