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Jenseits der Selbstverständlichkeit

Die Unterzeichnung des Elysée-Vertrags am 22. Januar 1963 gilt als symbolischer Akt der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. In den Jahren zuvor war eine Reihe von Besuchen und Gegenbesuchen zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle vorausgegangen. Doch es waren keineswegs nur diese beiden, die den Weg für die Staatenfreundschaft bereiteten.

Von Ursula Welter | 21.01.2013
    "Wenn Sie bedenken, meine verehrten Damen und Herren, dass es sich doch hier um zwei Völker handelt, die Nachbarn sind, und die ewig Nachbarn bleiben werden, die eine gemeinsame Grenze haben, und zwei Völker, die in vieler Hinsicht eine ähnliche Geschichte erlebt haben, und, meine Damen und Herren, mitten in Europa, zwei Völker, die in den letzten 100 Jahren drei blutige Kriege gegeneinander geführt haben, meine Damen und Herren."

    Konrad Adenauer 1962. Der Bundeskanzler ist gerade von einer Reise durch Frankreich zurückgekehrt. Keiner gewöhnlichen Reise. Charles de Gaulle, der französische Staatspräsident, hatte die Einladung ausgesprochen, ohne dass die öffentliche Meinung dazu auf seiner oder Adenauers Seite gewesen wäre.

    Paris, Rouen, eine Reise von der Hauptstadt in die Provinz, auf den Spuren von Montesqieu, Bordeaux, das Weinland Frankreich, und schließlich, für viele überraschend, der Militärstützpunkt Mourmelon, im Departement Marne, Schauplatz blutiger Kämpfe im Ersten Weltkrieg.

    Seite an Seite nehmen de Gaulle und Adenauer eine gemischte Truppen-Parade ab, 600 deutsche und französische Panzer ziehen an den beiden Politikern vorbei, so etwas hatte es bis dahin nicht gegeben:

    Spektakulärer hätte die Symbolik der Aussöhnung nicht ausfallen können, merkt auch der französische Reporter an. Denn diese Aussöhnung ist keine Selbstverständlichkeit, nach drei Kriegen:

    Konrad Adenauer war 1958 keineswegs erfreut gewesen, als Charles de Gaulle auf die politische Bühne in Frankreich zurückkehrte. Die Bundesrepublik erlebt ihr Wirtschaftswunder, sieht sich aber auch sowjetischer Bedrohung gegenüber. Frankreich seinerseits ist durch den Algerienkrieg geschwächt und de Gaulle ist für Adenauer vor allem derjenige, der 1944 einen Pakt mit der Sowjetunion unterzeichnet und Deutschlands Demontage gefordert hatte, und der eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft nicht will. Adenauer glaubt viele Gründe zu kennen, die gegen de Gaulle sprechen. Frankreichs früherer Botschafter in Berlin, Bernard de Montferrand:

    "Sie wissen, als de Gaulle 1958 an die Macht kam, war Adenauer sehr beunruhigt. Er sagte sich, das ist ein Militär, er hat sich nach '45 sehr hart gegenüber Deutschland verhalten, er ist kein Freund europäischer Projekte, was wird geschehen?"

    Der 68 Jahre alte General auf der anderen Seite des Rheins, der Mann mit den markanten Gesichtszügen, ist seinerseits voller Respekt gegenüber dem 82 Jahre alten Adenauer.

    "Ab September 1958 hat de Gaulle Adenauer persönlich nach Colombey-les-deux-Eglises eingeladen. In sein Privathaus, das hatte es nie gegeben. Und sie haben mehrere Stunden im persönlichen Gespräch miteinander verbracht, es gab nur einen Dolmetscher. Sie haben sich als Persönlichkeiten gut verstanden, aber auch in der Beurteilung der politischen Lage."

    Den 14. und 15. September 1958 verbringt Adenauer im Privathaus der de Gaulles. Er wird später sagen, man habe ihn "wie ein Familienmitglied" empfangen. Dass Madame de Gaulle aus Protest gegen den Besuch aus Deutschland das Alltagsgeschirr auftischte, tut der historischen Stunde keinen Abbruch. 13 Jahre nach Kriegsende sitzen sich zwei Männer gegenüber, die einander verstehen, menschlich und inhaltlich. Der in der französischen Provinz fest verwurzelte de Gaulle und der Rosenzüchter aus dem Rheinland, beide mit Widerstands-Erfahrung.

    "Ich war glücklich, einen ganz anderen Menschen vorgefunden zu haben, als ich befürchtet hatte",

    schreibt Adenauer. Im November 1958 sehen sich die beiden wieder – in Bad Kreuznach. Inzwischen hat de Gaulle eine englisch-französisch-amerikanische Führung der NATO vorgeschlagen, ohne Deutschland zu erwähnen. Der Franzose stellt die frische Freundschaft damit sogleich auf eine ernste Probe. Aber, wenig später, steht de Gaulle fest an der Seite des Kanzlers: als es gegen die Sowjetunion und um deren Berlin-Ultimaten geht. Ein wichtiges Signal am Vorabend des Mauerbaus 1961. Und eine stabile Basis für den Staatsbesuch Adenauers in Frankreich, im Frühsommer 1962:

    "Herr Bundeskanzler, Sie sind in Frankreich sehr herzlich willkommen."

    Charles de Gaulle.

    "So schmieden sich zwischen Deutschland und Frankreich die Bande einer herzlichen Zusammenarbeit, so wird das Fundament geschaffen auf dem Europas Einheit, ein noch nie verwirklichter Wunschraum, nunmehr in das Reich des Möglichen rückt."

    Frankreichs Staatspräsident, der Begründer der V. Republik, misst der Reise des Kanzlers durch Frankreich eine hohe Bedeutung zu.

    In der Kathedrale von Reims feiern beide die Messe und besiegeln mit dieser im katholisch geprägten Frankreich großen Geste die Aussöhnung. De Gaulle hat Reims mit Bedacht gewählt: im Ersten Weltkrieg verwüstet, im Zweiten Ort der Kapitulation der Wehrmacht. Bevor Konrad Adenauer zurück nach Deutschland reist, hält er, beeindruckt von den Tagen in Frankreich, fest:

    "Die französisch-deutsche Solidarität ist ein unlösbares Element Europas geworden."

    Zurück in Bonn, geht es Adenauer nicht zuletzt um ein Ergebnis dieser Reise: den Schulterschluss mit Frankreich gegenüber der Sowjetunion. Es ist die Zeit des Kalten Krieges, die Mauer steht seit knapp einem Jahr:

    "Es wird daher unsere Aufgabe sein, und das hat der Herr de Gaulle sehr richtig ausgeführt bei seiner Rede in Reims, so breit dieses gute Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland zu fundamentieren, dass keine Regierung der späteren Zeit, weder eine deutsche noch eine französische, gegenüber seiner Bevölkerung auch nur auf den Gedanken kommen kann, irgendwie eine Beziehung freundschaftlicher Art mit Sowjetrussland herzustellen, die gegen das andere Land gerichtet ist."

    Im September kommt Charles de Gaulle zum Gegenbesuch nach Deutschland. Der französische Staatspräsident überrascht mit Reden in deutscher Sprache, die er frei hält. Bonn, 4. September 1962:

    "Wenn ich Sie alle so um mich herum versammelt sehe, wenn ich Ihre Kundgebungen höre, empfinde ich noch stärker als zuvor die Würdigung und das Vertrauen, das ich für Ihr großes Volk, jawohl, für das große deutsche Volk hege. Es lebe Bonn, es lebe Deutschland, es lebe die deutsch-französische Freundschaft."

    Konrad Adenauer steht in diesen Minuten halblinks hinter de Gaulle auf dem Balkon, der Kanzler nickt freudig, lächelt fast beschämt, angesichts der lobenden Worte des Gastes aus Frankreich.

    De Gaulle wird auf seiner Reise durch Deutschland bejubelt, auch das keine Selbstverständlichkeit. Die Berater hatten gewarnt, die Bevölkerung sehe die Reise skeptisch. Sie sollten sich täuschen, ob in Bonn, Hamburg oder Ludwigsburg: die Plätze und Straßen sind prall gefüllt. Ludwigsburg wird zu einem Höhepunkt der Visite werden. Sein Dolmetscher, Hermann Kusterer, erinnert sich:

    "Ja, der Tag in Ludwigsburg war die Krönung eines historischen Auftritts, der sich über sechs Tage erstreckt hatte. Und Ludwigsburg ragt dadurch hervor, dass de Gaulle dort eine unwahrscheinlich inhaltsreiche Rede gehalten hat – völlig frei, also ohne Souffleur, ohne Manuskript. Das alles nach sechs Tagen, in denen er insgesamt etwa zwölf Reden gehalten hat, zwölf große Reden gehalten hat, von denen sechs in deutscher Sprache waren."

    "Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt, Kinder eines großen Volkes, jawohl eines großen Volkes, das manchmal, im Laufe seiner Geschichte, große Fehler begangen hat, ein Volk, das aber auch der Welt geistige, wissenschaftliche, künstlerische, philosophische Wellen gespendet hat."

    Hermann Kusterer:

    "Sehr schön war dann nachher auch die Fahrt zum Flughafen mit Adenauer im Auto, wo die beiden ganz still beisammen saßen und eigentlich gar nicht mehr sprachen miteinander, weil sie waren beide erschöpft und glücklich und zufrieden, wie zwei Familienoberhäupter, die gerade die Enkel zusammen gegeben haben."

    Standen mit diesen beiden großen Staatsbesuchen Adenauer und de Gaulle im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung, so waren es doch nicht nur diese Beiden, die den Weg für den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag bereitet hatten. Robert Schuman, der wie kaum ein anderer europäische Geschichte verkörperte und zuletzt als französischer Außenminister wirkte, hatte schon 1950 von "konkreten Tatsachen", aus denen Europa entstehen werde, gesprochen - und davon, dass "nur die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich die Vereinigung der europäischen Nationen" möglich machen werde. Aus seiner historischen Erklärung ging die Montanunion hervor. 1962, als Adenauer der Einladung de Gaulles nach Frankreich folgt, kann Schuman allerdings nicht dabei sein.

    "Er ist leider, wie Sie wissen, recht krank, aber wir dürfen es ihm nie vergessen, dass er, gerade Robert Schuman, wohl einer der ersten gewesen ist, der vom Denken zum Handeln übergangen ist, um zwischen Deutschland und Frankreich normale Verhältnisse herzustellen."

    Robert Schuman stirbt am 4. September 1963. Da haben die beiden Staaten bereits ihren Freundschaftsvertrag unterzeichnet und damit weitere "konkrete Tatsachen" im Sinne des Europäers Schuman geschaffen.

    "Nach der Unterzeichnung durch die Außenminister erhebt sich Staatspräsident de Gaulle, in der "accolade", der traditionellen Umarmung, findet die Versöhnung beider Völker symbolischen Ausdruck."

    Am 22. Januar 1963 paraphieren Deutschland und Frankreich im Elysée-Palast in Paris ihren Freundschaftsvertrag. Damit soll "die Aussöhnung symbolisch besiegelt werden, die echte Freundschaft beider Völker und insbesondere der Jugend begründet und der Aufbau des "Vereinten Europas" befördert werden", wie es in der Gemeinsamen Erklärung zum Vertrag heißt.

    "Die Lösung hieß: Dialog. Lasst uns häufig miteinander reden und auf diese Weise können wir Antworten, Lösungen finden",

    sagt Diplomat de Montferrand. Der Vertrag mit dem klaren Ziel der Aussöhnung beider Völker sei weder eine Selbstverständlichkeit gewesen noch sei die Lage einfach gewesen. Und dennoch:

    "Es handelte sich nicht um ein Wunder, weil es der erklärte politische Wille sozusagen auf allen Ebenen war. Und es war auch kein goldenes Zeitalter, weil zu Zeiten de Gaulles und Schumans Frankreich und Deutschland kaum gleiche Auffassungen in wichtigen Politikfeldern hatten, sei es in Sicherheitsfragen, in Geldfragen, in Fragen der Wirtschaft, und dennoch wurde da etwas wirklich Historisches zustande gebracht."

    Der Freundschaftsvertrag ist vor allem eines: ein verbindlicher Plan:

    " ... die Staats- und Regierungschefs treten mindestens zweimal im Jahr zusammen, die Außenminister mindestens alle drei Monate, die leitenden Beamten monatlich. Regelmäßige Zusammenkünfte der zuständigen Behörden auf Gebieten der Verteidigung, der Erziehung und der Jugendfragen. Die Generalstabchefs beider Staaten treten wenigstens einmal alle zwei Monate zusammen."

    Mit dem Vertrag werden die politischen Institutionen beider Länder miteinander ins Gespräch gebracht, regelmäßige Treffen vereinbart. Und es wird vorgebaut für die Zukunft: Der Elysée-Vertrag widmet Erziehungs- und Jugendfragen ein eigenes Kapitel:

    " ... Sprachunterricht, um die Zahl der deutschen Schüler, die Französisch lernen, und die der französischen Schüler, die Deutsch lernen, zu erhöhen. Diplome. Die zuständigen Behörden sollen gebeten werden, beschleunigt Bestimmungen über die Gleichwertigkeit der Schulzeiten, die Prüfungen, der Hochschultitel und –Diplome zu erlassen."

    Ein zentraler Punkt des Vertrages: Deutschland und Frankreich vereinbaren die Gründung eines Jugendwerks.

    "Diese jetzt ganz natürliche Solidarität zwischen unseren beiden Völkern müssen wir selbstverständlich organisieren. Das ist Aufgabe der Regierungen. Vor allem müssen wir aber ihr einen lebenden Inhalt geben, und das ist insbesondere die Aufgabe der Jugend."

    Hatte de Gaulle schon in Ludwigsburg gesagt. Da bereits entstand die Idee für die Schaffung des OFAJ, des "Office franco-allemand pour la Jeunesse".

    "Ich glaube, dass das Deutsch-Französische Jugendwerk ein unglaubliches Vorbild für den Rest Europas ist. Jedes Jahr mehr als 200.000 junge Deutsche und Franzosen, die mehr als drei Tage im jeweils anderen Land verbringen. Daraus folgen Kenntnisse, vielleicht nicht sehr tiefgreifend, aber es fördert die Kenntnis des Nachbarlandes."

    "Staatspräsident de Gaulle hat seit dem Jahre '58 den Gedanken der Versöhnung und des Zusammengehens von Frankreich und Deutschland außerordentlich tatkräftig aufgegriffen."

    Aber es ist Konrad Adenauer, der die Weitsicht besitzt, auf einer völkerrechtlich verbindlichen Übereinkunft zu bestehen. Die Zeiten in Europa sind stürmisch, der französische Staatspräsident hat soeben die Briten vom Gemeinsamen Markt ausgeschlossen, und auch das enge Band, das er mit Deutschland knüpft, wird einer harten Probe ausgesetzt. Die "Atlantiker" im Deutschen Bundestag nehmen dem Elysée-Vertrag schon im Mai 1963, wenige Monate nach der feierlichen Unterzeichnung in Paris, die deutsch-französische Exklusivität. Sie setzen eine Präambel durch, um Deutschlands Verankerung im Westen und an der Seite der USA zu untermauern. De Gaulle tobt, belässt es aber offiziell bei dem Satz:

    "Na ja, wissen Sie, Verträge sind wie junge Mädchen und Rosen, sie blühen nur eine Zeit lang. Der Deutsch-Französische Vertrag wäre nicht der erste, der nicht angewendet wird."

    Da sollte de Gaulle irren. Auch, weil Konrad Adenauer, der Rosenzüchter, dem französischen Partner erklärt, die Rose sei eine ausgesprochen widerstandsfähige Pflanze und überstehe jeden Winter ... Im Laufe der Jahre wird der Elysée-Vertrag erweitert, angepasst, ein deutsch-französischer Finanz- und Wirtschaftsrat, ein Umweltrat, ein Verteidigungs- und Sicherheitsrat eingerichtet. Die Abfolge der Treffen wird dichter, der Austausch der Beamten zur Regel, die Parlamentsdelegationen pflegen regen Kontakt, die deutsch-französische Brigade entsteht ... . Kühle Phasen in den Beziehungen gibt es dennoch, winterliche Temperaturen. Wird der Vertrag überleben, gleich, wer in Paris oder Berlin regiert ?

    "Ja, ich denke, die deutsch-französischen Beziehungen sind unabhängig von den jeweiligen Personen an der Macht. Sicher, die persönlichen Beziehungen sind wichtig, das erleichtert Dinge, aber ich denke, es gibt in Deutschland wie in Frankreich eine strategische Entscheidung zugunsten konstruktiver Beziehungen, ja einer echten Freundschaft – was uns nicht hindert, jeden Morgen 25 Probleme und 25 unterschiedliche Auffassungen vorzufinden."

    Adenauer:

    "Wenn man im Grunde einig ist, meine Damen und Herren, und das sind doch die europäischen Völker, dann glaube ich, dass gewisse Schwierigkeiten, die mal da oder dort entstehen, mit etwas Geduld überwunden werden."

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