Donnerstag, 25. April 2024

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Jenseits der Tiefe

Von dem französischen Dichter Raymond Roussel ist überliefert, dass er die Vorhänge seines (legendären) Wohnmobils während einer China-Reise zugezogen hatte, damit ihn keinerlei Fremdeindrücke in seiner Vorstellungswelt irritierten. Die geradezu Furcht einflößende Macht, die hier dem Imaginären zugesprochen wird, ist auch Dreh- und Angelpunkt im Werk eines anderen großen Reisenden, eines Reisenden in realen und imaginären Landschaften und Topographien: Victor Segalen. 1902 war der Vierundzwanzigjährige als Marinearzt nach Tahiti aufgebrochen - auf abenteuerliche Weise wird er hier und auf den Marquesas-Inseln den Spuren Gauguins sowie später denen Rimbauds in Äthiopien folgen -; von 1909 bis 1914 arbeitet er in China als Arzt, als Archäologe und ethnologischer Schriftsteller. Hier entsteht neben dem Roman Der Himmelssohn eine Art Trilogie: Stelen, Aufbruch in das Land der Wirklichkeit und Malereien.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 14.06.2004
    Im ersten Band hat Segalen nach dem Vorbild der chinesischen Stein-Stelen - Denkmale, die der Schrift gewidmet sind und in ihr aufgehen - Gedichte geformt, die man mit Hölderlins Hymnen verglichen hat. Im zweiten Band scheint er mit der fremden Kultur und Landschaft noch weitgehender zu verschmelzen, ja, selbst Teil einer Landschaft zu werden, so wie er in dem Roman René Leys mit der Verbotenen Stadt Peking eins werden wollte. Und genau diese Bewegung macht auch den dritten Band, Malereien, aus.

    Sieh da, eine Tür in der Malerei; dort, - am Sockel der Mauer - öffnet sich eine kleine Tür ... Der Maler durchschreitet die Tür ... Er wird klein; dann: ein Punkt. Er wird Geist und verschwindet ... Die gesamte Malerei und auch die anderen, schon entrollten Malereien, sind verschwunden.

    An dieser zentralen Stelle des 1916 erstmals erschienenen Bandes Malereien wird die Einheit von Maler und Malerei beschworen. So wie es immer Victor Segalens Wunsch war, als Reisender in die Haut der anderen zu schlüpfen, an ihrer Statt zu sagen, was ihnen zu sagen nicht gegönnt war, mit ihren Augen zu sehen und ihren Ohren zu hören, so führt für ihn auch das Betrachten eines Bildes letztlich dazu, dass er sich - ob als Maler oder Betrachter - darin auflöst.

    Diesen Schritt hat Segalen im vorliegenden Band als Autor geschriebener Malereien vollzogen. In Analogie zur chinesischen Tradition, in der Malerei als "stille Dichtung" begriffen wird, schafft Segalen Dichtung als sprechende Malerei. Er macht sich dabei die Tatsache zu eigen, dass Schrift (Schriftzüge) und Malerei (Bildzeichen, Zeichenzüge) von Anfang an im Chinesischen zwei Aspekte einer geistigen Tätigkeit sind. Die Bilder, die Segalen entwirft, sind aus einer Vision von China, aus seiner eigenen Vorstellungswelt und aus dem Binnenraum der Sprache selbst erschaffen.

    Schaut auf das, was vor euch ist: eine große Weite, eine LANDSCHAFT.
    In China nennen sich die trunkenen Poeten des Pinsels erste Betrachter der Erde: sie haben deren Antlitz im Gesicht bewahrt. Und das ist, was sie gesehen haben:
    Wenig Himmel und viel Boden. Aufgetürmte Berge, die Werk, Zeugnis und Anstrengung der Erde sind. Wolken, die aus den Wolken fallen und die die festen Lehnen der Berge durchdringen und heben ... ihr selbst, Zuschauer, seid es, die ihr, besser als ein Theatermime, hier die Rolle des Menschen einnehmen sollt: und zwar dergestalt: Das bißchen Himmel, das bleibt, ist eurer Stirn Haarzier. Die Borke des Bergs wird ihre große Maske über eure Augen legen. Die beiden Berghänge, für Echos ideal, ziehen Kapuzen über eure Ohren. Es gibt keine anderen Menschen außer euch? Doch ist die Landschaft, wohl betrachtet, selbst nichts anderes als die - von den Sinnen durchporte - Haut des menschlichen Gesichts.


    Wie auch in seinem Band Stelen - in dem die Gedichte, trotz ihrer großen Abstraktheit und formalen Strenge, auf das Inszeniert-Werden abzielen, ja, sich als eine Art Performance erfüllen -, werden auch die Malereien von Segalen dargeboten, vorgezeigt, in einem Ritual geradezu zelebriert:

    Meine Rolle euch und diesen Malereien gegenüber ... besteht bloß darin, sie euch sehen zu lassen ... Diese Malereien sind ... ‘literarisch’ ... Und ebenfalls imaginär ... Ich lade euch also ein, bloß zu schauen. Ich bitte euch, alles ringsum zu vergessen; nichts von etwas anderem zu erhoffen; gar nichts zu bedauern ... Laßt euch also durch dieses überraschen, was kein Buch ist, sondern ein Sagen, ein Rufen, ein Heraufbeschwören, ein Spektakel.

    Segalen möchte, dass der Leser gleichsam an der "Malgeste" des Künstlers teilhat und sich im gemalten Raum bewegt. So werde der Leser zum Komplizen des Autors und dieser entrollt die "Magischen" und "Dynastischen" sowie "Ausgesonderte" Malereien. Dazu bemerkt der kongeniale Übersetzer Rainer G. Schmidt in seinem kundigen Kommentar (der diese fein gesponnenen Wortmalereien und Prosagedichte zum Glück nicht überfrachtet):

    Die Magischen Malereien bieten ein derart perfektes und verblüffendes Ganzes, dass eigentlich nichts mehr zu folgen brauchte. Es wird die letzte Dimension erreicht, ein Raum, aus der alle Räume und Erscheinungen hervorgehen und in der alle verschwinden. Raum der absoluten Identität und zugleich der Auflösung aller Identität.

    Damit ist eines der vordringlichen Interessen Segalens benannt, das ihn zudem mit dem Kubismus und der Kunst des Primitivismus verbindet: das Aufgeben der abendländischen Zentralperspektive und das Aufsprengen des verengten Raums. In diesem offenen, vielperspektivischen Raum verschmelzen Landschaften und Betrachter, Autor und Maler. Segalens Beschwörungen imaginärer Bildwelten und geistiger Landschaften knüpfen ein unsichtbares Band zwischen den Komplizen, dem Autor und dem Leser:


    Ich weiß euch Dank, meine Gefährten: ihr habt mir gestattet, diese allzu lang auf dem Grund meines Selbst eingefalteten Malereien in weiter Luft zu baden. Sie quälten mich mit ihrem Wunsch, gesehen zu werden. Nun kann ich anderswo Umschau halten. Aber ihr, nehmt sie mit auf den Grund eurer Augen.

    Segalen, immer darauf bedacht, im Wirklichen das verborgene Imaginäre zu entdecken und das Wirkliche durch das Imaginäre zu bereichern, war in allem ein brillanter Amateur, ob als Archäologe, der chinesische Statuen ausgräbt, oder als Kenner der chinesischen Sprache und Schrift; als Reisender in den Kulturen Asiens (auf den Spuren eines untergegangenen Reiches), oder auf Tahiti und den Marquesas-Inseln, wo er unversehens zum Nachlaßverwalter Gauguins wird. Immer versucht er die "reine Exotik", an die er glaubt, aus ihren Absonderlichkeiten herauszuschälen und ihr ihre Mannigfaltigkeit wiederzugeben.

    Dies nennt er auch die "Ästhetik des Diversen".

    Mit dem nun endlich auf Deutsch vorliegenden Werk Malereien - in einer auch ästhetisch vorbildlich gestalteten Ausgabe - wird ein Autor wieder in Erinnerung gerufen, der zu den wenigen ganz großen literarischen Reise-Dichtern gehört, die exzessiv ihren Imaginationen, der Sprengkraft ihrer Vorstellungswelt gefolgt sind und dabei Formen erarbeiteten, ohne die sich niemals die Literatur hätte entwickeln können, die mehr ist als exotischer oder aber scheinrealistischer Abklatsch kultureller Fremdartigkeit.

    In Segalens Werk werden wir vertraut mit einer Sprache teilweise makelloser Schönheit, wie nur eine Sprache sein kann, die ihren Maßstab in sich selbst trägt und die Polarisierungen (Innen/Außen oder Oberfläche/Tiefe) hinter sich lässt. Man könnte von poetischen und imaginären Exerzitien und Meditationen, von Einübungen in das richtige Wort und Bild sprechen.

    Sieht man, wie weitgehend Segalen der Kraft des Imaginären und Magischen folgte - so, als könne man mit einer einzigen Fingerbewegung wegwischen, was einem mißfällt -, wie er selbst da, wo er von einer realen geschichtlichen Zeit erzählt, letztlich auch sein Augenmerk auf die (mythische) Tiefe der Zeit und des Raums richtet, wie er in allem die Dimension des All-Einen, Unendlichen und Ur-Gründlichen zu verlebendigen versucht, dann verliert sein Tod das vielfach beschworene Mysteriöse, konnte er doch nur durch diesen wahrscheinlich willentlichen Akt die Bewegung vollendenden und wirklich eins werden mit der realen und der imaginären Landschaft, einem Felsgeröll an der bretonischen Küste, die einmal Ausgangspunkt seiner Reise um die Welt war. So ging er ein in die "berauschenden Strudel des großen Stroms der Diversität", von denen er in seinen "Ratschlägen für den glücklichen Reisenden" gesprochen hatte.

    Wollte man die zu Anfang angesprochene Parallele zu Raymond Roussel vertiefen, würde sich gar Wundersames enthüllen: Roussel wurde 1887, Segalen 1878 geboren; beider Freitod (sofern wir das wissen können) ist genauso legendenumwoben wie ihre Homosexualität; und wenn Roussel ein Werk mit Eindrücke von Afrika betitelt, dann ist damit noch weniger das reale Afrika als in Segalens Malereien das reale China gemeint.

    Victor Segalen
    Malereien
    Gemini Verlag, EUR 23,-