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Jenseits der Zwanzig

Da sitzt einer im Nieselregen auf einer Züricher Parkbank und freut sich, dass es regnet. Weil es ihm erspart, sich tausend Entschuldigungen auszudenken, warum er keine Freizeitmaximierung betreibe, das kostbare Gut der ungebundenen Stunden nicht zur intensiven Lustgewinnung nutze.

13.01.2004
    An trüben Tagen ist man freier. Trübe Tage erteilen keine Aufträge.

    Zwei Sätze, die einen Helden charakterisieren und in ein Milieu hineinstellen. Elf Worte am Fuß der allerersten Buchseite, mit denen Rolf Dobelli seine Leser einfängt – zumindest diejenigen, die nicht immer nur etwas über Schaffenskrisen von Schriftstellern oder Identitätsprobleme von berufslosen Spätadoleszenten hören wollen. Präzise, kurz und knapp, wie aus einer anderen Welt:

    Wenn Sie eine Sitzung haben, haben Sie vielleicht 15 Minuten Zeit, ein Problem zu diskutieren und abzuschließen und alle Informationen auf den Tisch zu bringen. Das ist schon ein Management-Handwerk, dieses Komprimieren, und vielleicht hat sich das bei mir beim Schreiben übertragen, dass ich eben die Sätze möglichst knapp halte, möglichst konzis, möglichst die Abschnitte kurz. Es ist natürlich auch, glaube ich, aus der Sicht des Lesers einfach leserfreundlicher, wenn man innerhalb von 100, 200, 300 Seiten etwas kriegt, wo andere 800 oder 1.000 Seiten schreiben, aber der Inhalt eigentlich derselbe ist. Also ich find’s einfach viel leserfreundlicher, wenn man knapp schreibt.

    Da spricht einer, dem die Zeit des Lesers ebenso heilig ist wie die Schreibzeit als Autor. Verdichtung als Lebensprinzip, Zuspitzung, Problemlösung, Abschaffung von Ballast und Zierrat.

    Ich hab nie vorher geschrieben außer die Aufsätze in der Schule, und die waren meistens nicht sehr gut. Ich hab tatsächlich nie geschrieben. (...) Ich bin von Montagmorgen bis Freitagabend bin ich Unternehmer und dann bin ich voll für das Geschäft da, für GetAbstract, und am Wochenende am Samstagmorgen bis Sonntagabend, das ist einfach meine Zeit, um zu schreiben. Ich hab eben nur diese zwei Tage.

    Bis zu seinem 35. Lebensjahr hat Rolf Dobelli nur Gebrauchstexte verfasst: Seminararbeiten während des BWL-Studiums, gewiss; eine Dissertation, auch wahr, aber dann nur noch Businesspläne und Memoranden. Auf den Punkt zu kommen, hat auch Gehrer gelernt, Dobellis Alter ego in »Fünfunddreißig«. Wie sein geistiger Vater ein Karriere-Überflieger, in jungen Jahren schon hoch gestiegen in der helvetischen Management-Kaste und nun belohnt mit einem Fortbildungskurs in Harvard. Merke: Belohnung besteht nicht aus Abschweifungen, sondern aus Konzentration. Wer gut ist, darf noch besser werden – Eskapismus in der Freizeit gebührt dagegen denjenigen, die man schon still und heimlich aussortiert hat. Gehrer weiß das, er kennt alle Mechanismen von Aufstieg und Fall, von Anpassung und Tarnung des Nichtangepasstseins – und dennoch sitzt er in Harvard und kann nicht mehr. Um ihn herum nur gelackte Typen in teuren Anzügen, drunter das pure Nichts. Ohne jemanden zu informieren, entflieht Gehrer der Kaderschmiede und besteigt am Flughafen eine Air-India -Maschine nach Kalkutta. Die Aussteigervariante: Dreck, Armut, Chaos – sein Laptop landet frohgemut in den Schmutzfluten des Ganges. Wie einfach wäre es, hier zum Hippie zu regredieren, doch Gehrer saugt den Kontrast nur wie ein nasser Schwamm in sich auf, um an seinem 35. Geburtstag – dem exakt terminierten Datum der erfolgreichen Harvard-Rückkehr – wieder in Zürich anzukommen. Vor ihm zwei Alternativen: zurück ins alte Leben oder vorwärts zu neuen Ufern. Gehrer sinniert. Zum ersten Mal keine Entscheidung im 15-Minuten-Takt, sondern die gründliche Halbzeitbilanz: Berufs- und Privatleben im stream of consciousness, Schlaglichter, Erinnerungen, Niederlagen:

    Er weiß: Eine Gruppe von Menschen, die drei an der Zahl übersteigt, produziert nur noch Unsinn, Widerliches, bestenfalls Unerhebliches. Ein Meeting, auch eines mit einem durchaus ehrbaren Anspruch – etwa der Lösung eines operativen Problems oder der Formulierung einer neuen Strategie –, verzettelt sich, zerfranst, artet aus in Zeremonie, sobald mehr als eine Handvoll Sach- oder Unsachverständige anwesend sind. Dabei kommt es nicht auf den Willen der Beteiligten an. Der bloße Umstand, dass Menschen in Gemeinschaft denken, in Gemeinschaft kreativ sein möchten, verunmöglicht Durchdachtes. Peinlichkeiten, wenn jeder Einwurf, sei er auch noch so mittelmäßig, von der ganzen Runde wohlwollend kommentiert werden muss. Dabei ist es einerlei, ob die besagte Runde als Verwaltungsrat oder als eine Tagung der Marketingsachbearbeiter auftritt – die Höflichkeit, mit der man sich gegenseitig beschenkt, ist beklemmend.

    Ich hab schon ein paar Kollegen, die es gelesen haben und gesagt haben, das hast du jetzt gut beobachtet da, ich hab mich selbst drin wiedergefunden, und die erkennen diese Ironie. (...) Man könnte daraus lernen, aber es ist nicht der Anspruch, den ich jetzt als Schriftsteller gehabt hab, dass man da etwas lernen kann, sondern ich will ja unterhalten. Ich will, dass die Leute vielleicht eine Erkenntnis daraus ziehen und sagen: Ach, ja aber mir geht es ähnlich! Oder dass sie vielleicht ein bisschen schmunzeln und sagen, diese Ironie, diesen bösen Sarkasmus, den hab ich jetzt entdeckt. Darum geht es mir.

    Und das gelingt dem literarischen Newcomer Rolf Dobelli bravourös – so gut, dass man kaum glauben mag, er habe nie zuvor eine belletristische Zeile geschrieben. Seine Gedankenprosa voller gestochen scharfer Momentaufnahmen aus dem Managerlager, voller funkelnder und geschliffener Aperçus über die Befindlichkeiten der "gehobenen Gesellschaft" schließt mühelos zu seinem größten Vorbild auf: Max Frisch. Der schickte einst einen anderen Herrn mit G-Initial ins grüblerische Exil, jenen Pensionär Geiser aus der Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän . Auf Frisch lässt Dobelli nichts kommen, auch seinen Kollegen Martin Suter, der allwöchentlich hinreißende Glossen über die Kaste der getriebenen Antreiber in der Züricher »Weltwoche« schreibt, empfindet er als Verbündeten. Die drei eint nicht nur der zurückgenommene, nie besserwisserisch auftrumpfende Stil, sondern auch eine mentale Besonderheit: Als Schweizer Männer mussten sie wohl oder übel die "Schule der Nation" absolvieren. Nach wie vor ist das Militär ein Sprungbrett für jegliche Art von helvetischen Karrieren:

    Ich hab selbst Militärdienst leisten müssen, bin allerdings Soldat geblieben, ganz im Gegenzug zu all diesen Gehrer-Typen, die weiter gemacht haben und Offizier geworden sind. Also sämtliche meiner Kollegen – sämtliche, wirklich sämtliche! – sind Offiziere im Schweizer Militär. Ich bin der einzige Soldat geblieben, aber natürlich spielen da Netzwerke eine große Rolle. Das ist ein großer Grund, weshalb die Schweizer Armee in den nächsten zehn, zwanzig Jahren nicht abgeschafft werden wird.

    Die Abschaffungsinitiative, die Max Frisch in seinen letzten Lebensjahren emphatisch unterstützte, scheiterte aus eben diesem Grunde. Nimmt man die Tonlage des Buchprotagonisten Gehrer als Ausdruck der grundsätzlichen Zufriedenheit mit den bürgerlichen Verhältnissen, ist vom Autor und Manager Rolf Dobelli kein ähnliches Engagement zu erwarteten, obwohl er mit seinem niedrigen Dienstgrad eine echte Ausnahme innerhalb seiner Kaste darstellt. Bei aller Ironie und dem schweizerisch-milden Sarkasmus tut ja gerade der konservative Grundzug seiner Prosa so außerordentlich wohl: Hier brüllt keiner seinen Unmut über die "kaputte" Gesellschaft heraus und fordert dann etwas, das er zwanzig Jahre später widerrufen muss, weil ihn dann unvermeidlich die eigene Arriviertheit eingeholt hat. Nein, hier pocht einer im Einklang mit den Altvorderen auf die unpopuläre Wahrheit, dass die Welt schon immer von Erwachsenen geführt wurde, mithin von jenen Menschen, die mit Anfang zwanzig andere Zielvorstellungen verfolgen als ihre Generationskollegen im kurz auflodernden Kunst- oder Revolutionsfieber. Das schafft Distanz zum Kulturbetrieb, und so erstaunt es nicht, dass der frischgebackene Autor keinesfalls den Status des Berufsschriftstellers mit seinem eingebauten kindlichen Narzissmus anstrebt:

    Ich hoffe, dass ich diese beiden Stränge, Unternehmer zu sein und Schriftsteller möglichst lange parallel führen kann, und ich glaub, das ist möglich. Aber ich werde das Unternehmerische nicht abgeben wegen dem Schreiben. Man ist dann so fixiert auf das Schreiben, man nimmt dann jede Rezension ... nimmt man persönlich, wenn man (...) vom Schreiben leben muss, und zum Glück ... zum Glück leb ich nicht vom Schreiben, und ich hoffe, ich lebe noch eine Zeitlang nicht vom Schreiben, sondern vom richtigen Job, den ich hab. Dann kann man die Schriftstellerei wirklich locker genießen auf der Seite.

    Wovon der Unternehmer Dobelli, einst Swissair-Manager, doch früh genug beim kollabierenden Riesen abgesprungen, wovon Rolf Dobelli lebt, treibt seinen Schriftstellerkollegen vermutlich das kalte Grausen über den Rücken. Seine Firma »getAbstract« verdichtet Bücher von zwei-, dreihundert Seiten auf karge fünf Blätter: Kernthesen, das Wichtigste in Kürze. Noch sind es nur Wirtschafts- und Managementtitel, die – so Dobelli – meist ohnehin nur aus heißer Luft bestünden. Doch ein Großkunde verlangte neulich nach Goethes »Werther« und nach der Bibel. Jetzt gibt es beide auf je sieben Seiten, und wenn man Dobelli nach der Komprimierbarkeit des eigenen Romans fragt, setzt er ein verschmitztes Lächeln auf: Die Rechte dafür besäße er leider nicht. Dabei könnte er sich ganz beruhigt zurücklehnen: »Fünfunddreißig« lässt sich nicht mehr weiter verdichten. Das Buch enthält ein Maximum an literarischer Unterhaltung bei einem Minimum von Wortverbrauch. Das Schöne ist: Jedes Wort stimmt. Und lässt nebenbei all jene Leser aufatmen, die längst die Hoffnung auf Werthaltigkeit von Literatur eingebüßt haben. Dobelli zu lesen, lohnt gerade, weil er an manchen Stellen altväterlich daherkommt. Die großen Einsichten des Lebens, dass Fleiss Brillanz schlägt und Unterordnung Zielstrebigkeit, lassen sich nicht ironisch verniedlichen. Unschön für alle juvenilen Aufbegehrenden, aber eben – wahr.

    Rolf Dobelli
    Fünfunddreißig. Eine Midlife-Story
    (Diogenes Verlag, 208 S., EUR 16,90