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Jenseits des Augenscheins

Der Buchumschlag mit der kippenden Freiheitsstatue täuscht,

Martin Ebel | 16.01.2004
    und der deutsche Titel setzt die Täuschung fort: Die neuen Essays des Literaturnobelpreisträgers V. S. Naipaul lassen sich nicht eingliedern in die Reihe aktueller USA-kritischer Analysen, die im Umfeld des Irak-Krieges Kasse machen wollen. The Writer and the World , so der Titel des englischen Originals, handelt von sehr verschiedenen Regionen des großen Doppelkontinents, dessen Name von seinem mächtigsten Staat quasi usurpiert worden ist. Es handelt von Guyana und Grenada, vom französischen Politiker und Aztekenforscher Jacques Soustelle, von den US-amerikanischen Schriftstellern John Steinbeck und Norman Mailer, von einem Parteitag der Republikaner, auf dem Ronald Reagan inthronisiert wurde, und, im großen, zentralen Teil des Buches, von Argentinien und Uruguay. Am Anfang aber steht Kolumbus. "Die Entdeckung Amerikas", schreibt Naipaul in einem Text, der 1967 entstand, "ist eine Geschichte fortgesetzten Grauens."

    Hannah Arendts berühmter Begriff von der Banalität des Bösen war gerade geprägt worden, da inistiert Naipaul auf der bösen Banalität des Entdeckers: Kolumbus habe keine Augen für die Schönheit oder auch nur die Eigenart der Neuen Welt gehabt, sondern sie mit dem selektiven Blick des Goldsuchers gemustert. Nichts interessierte ihn als Indizien, die auf das Vorhandensein von Gold schließen ließen. Diese Kombination aus Gier und Desinteresse, munitioniert mit der absoluten Macht, die ihm die Gewehre verliehen, führte in kürzester Zeit zur Ausrottung der eingeborenen Bevölkerung.

    In Argentinien, so das niederschmetternde Ergebnis mehrerer Reisen zwischen 1972 und 1991, hat sich etwas ganz Ähnliches vollzogen: Eine Schicht unfähiger und überheblicher Einwanderer hat sich das riesige Land unterworfen, seine Schätze geplündert und schließlich den vollständigen Ruin herbeigeführt. Der natürliche Reichtum des Landes, ein Mythos, an dem noch festgehalten wurde, als er längst dahin war, diente als Vorwand, sich nicht anstrengen zu müssen. Die Mentalität von Plünderern, nicht von Pionieren prägt Argentinien, so Naipaul, der eine Parallele sieht zur unseligen spanischen Ideologie des Hidalgo, jenes Adligen, der sich zu fein war zum Arbeiten. Aus dieser historisch-psychologischen Perspektive, angereichert mit ökonomischen Daten und den Aussagen zahlreicher Gesprächspartner, analysiert Naipaul den Peronismus, den Evita-Kult, die mörderische Auseinandersetzung zwischen Stadtguerilla und Todesschwadronen, die Hyperinflation, den Machismo und den verqueren Rassismus einer Oberschicht, die sich nicht für Amerikaner, sondern irgendwie für Engländer hält.

    Eher tragikomisch neben diesem fast kontinentalen Drama mutet da der Niedergang Uruguays an, das einmal als Schweiz Südamerikas galt und laut Naipaul das Unglück hatte, ein der Schweiz nachempfundenes System von sozialen Wohltaten aufgepfropft zu bekommen. Die uruguayische Variante des Nichtstuns heißt eine überflüssige Stelle im Staatsdienst zu bekleiden. "In Uruguay kursieren unendlich viele Witze über die Bürokratie, und sie sind alle wahr", höhnt Naipaul.

    Ja, mit Hohn und Spott über die von ihm bereisten Länder
    geizt der Autor überhaupt nicht. Zwar dominieren in fast allen Essays, wie auch früher schon, die Tonlagen der Bitterkeit und des Sarkasmus, aber die Komik, die im Zusammenprall von Wollen und Nicht-Können liegt, entgeht ihm natürlich auch nicht. Köstlich etwa das Porträt der "Cannery Row", jener "Strasse der Ölsardinen", an der einer der berühmtesten Romane des Nobelpreisträgerkollegen John Steinbeck spielt. Naipaul ist hingefahren - und hat eine im Entstehen begriffene, überaus unbeholfene und unsichere Tourismus-Industrie vorgefunden, die noch nicht recht weiß, wie aus dem berühmten Namen Kapital zu schlagen wäre.

    Der Naipaul dieser Essays ist, wie schon in seinem Klassiker von 1962, The Middle Passage , und allen folgenden Reisebüchern, Journalist und Ethnologe. Wie ein Ethnologe betrachtet er alles, was ihm vor Augen kommt, wie die Rituale eines fremden Stammes - und so kommen auch dem Leser die seltsamen Zeremonien eines republikanischen Parteitages vor. Und wie ein guter Journalist schaut Naipaul genau hin, fragt nach, gibt sich nicht mit der erstbesten Auskunft zufrieden und traut überhaupt niemandem: nicht dem Augenschein, nicht den Aussagen seiner Gewährsleute und nicht einmal den eigenen Vorurteilen.

    Ins Grundsätzliche, Programmatische geht der letzte Essay des Bandes, eine Rede unter dem Titel "Unsere universale Zivilisation". Es ist eine Hommage an eine Gesellschaft, die es ihm, dem Immigranten von der karibischen Insel Trinidad, ermöglicht hat, sich zu assimilieren und als Schriftsteller Anerkennung und Ansehen zu gewinnen. Es ist die westliche Gesellschaft, in diesem Fall die Englands, deren Vorzüge ihm erst richtig bewusst wurden, als er die islamischen Länder Südasiens bereiste, doppelt kolonisierte Länder nach seiner Beobachtung, die ihre Vergangenheit verleugnen und deren Bewohner ihre Identität nur im Glaubenseifer finden können.

    Dies ist V. S. Naipauls Clash of civilizations : Hier fundamentalistische Gesellschaften, fanatisch, sich selbst entfremdet und eindimensional, dort die Zivilisation, die er nicht die westliche, sondern die universelle nennt. Diese universelle Zivilisation ist reich, vielfältig, menschenfreundlich und flexibel, aber sie lässt sich auf zwei Kernelemente zurückführen: auf die christliche Maxime "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu", und auf "die schöne Idee vom Streben nach Glück". Diese Idee vom Streben nach Glück erklärt für ihn die Attraktivität, die die - nennen wir sie doch einmal so - westliche Zivilisation immer noch ausübt. Und weil diese Zivilisation eben nicht dogmatisch, sondern offen und entwicklungsfähig ist, Naipaul nennt es "schmiegsam", wird sie die starren Systeme überleben, nach dem dogmatischen Sozialismus auch den Fundamentalismus der Islamisten. Das ist, am Ende eines oft bitteren und sarkastischen Buches, die überraschend frohe Botschaft des Autors.

    V. S. Naipaul
    Amerika. Lektionen einer Neuen Welt
    Claassen, 318 S., EUR 22,-